Der ÖVP-Chef Stocker führt Österreichs erste Dreierkoalition an. Er erklärt, warum er davor mit Herbert Kickl verhandelt hat, obwohl er dessen Politik ablehnt. Er ist überzeugt, dass seine Koalition erfolgreicher sein wird als die «Ampel» in Deutschland.
Herr Bundeskanzler, Sie sind jetzt etwas mehr als einen Monat im Amt . . .
. . . mir kommt’s schon lang vor.
Als Sie Anfang Januar überraschend ÖVP-Chef wurden, war die erste Reaktion Ihrer Frau: «Furchtbar!» Nun sind Sie sogar Regierungschef. Redet sie überhaupt noch mit Ihnen?
Darauf hat sie positiver reagiert. Meine Frau begleitet mich schon während meiner gesamten politischen Tätigkeit. Es hat schon viele Situationen gegeben, die im ersten Moment furchtbar ausgesehen und sich dann zum Guten gewendet haben.
Sie waren jahrzehntelang Kommunalpolitiker. Was ist die grösste Veränderung in Ihrem Alltag?
Ich habe zum ersten Mal im Leben nur einen Beruf. Ich habe bisher neben der Politik stets als Anwalt gearbeitet. Jetzt habe ich eine Tätigkeit, auf die ich mich voll und ganz konzentrieren kann – und muss.
Sie führen als Konservativer eine Regierung mit einer nach links gerückten SPÖ und der liberalen Partei Neos, die in den letzten Jahren nicht mit Kritik an der ÖVP gespart hat. Was eint Ihre Koalition ausser der Wille, den FPÖ-Chef Herbert Kickl vom Kanzleramt fernzuhalten?
Das allein wäre viel zu wenig. Wir sind alle der Meinung, dass es gut für das Land ist, wenn auch Parteien, die gegensätzliche Positionen einnehmen, miteinander arbeiten. Wir haben einander im Koalitionsprogramm Raum gegeben. Die Unterschiedlichkeiten bleiben, aber wir haben uns auf gemeinsame Vorhaben verständigt. Und ich finde, es ist ein gutes Programm.
Diese Koalition kam erst im zweiten Anlauf zustande. Dazwischen haben Sie auch mit Kickl verhandelt. Das hat viele irritiert, denn im Wahlkampf hatten Sie ihn scharf kritisiert und eine Zusammenarbeit mit ihm ausgeschlossen. Warum haben Sie es trotzdem versucht?
Die Alternative zu Verhandlungen mit der FPÖ wären Neuwahlen gewesen. Das wollten alle vermeiden. Am Ergebnis danach hätte sich wohl nicht viel geändert. Deshalb habe ich mich bereit erklärt, mit Herbert Kickl zu verhandeln. Alles, was ich über ihn gesagt habe, meinte ich auch so. Aber ich habe es für möglich gehalten, dass jemand sich neu erfindet, wenn er Aussicht auf das Amt des Regierungschefs hat.
Das war bei Kickl nicht der Fall?
Unsere Bedingungen waren stets klar: Wir sind eine Europapartei und wollen eine konstruktive Rolle in der EU spielen. Die FPÖ-Idee einer «Festung Österreich» habe ich nie als Erfolgsmodell gesehen. Österreich muss zudem souverän und unabhängig von Russland sein. Die Rechtsstaatlichkeit ist zu achten, und internationale Organisationen sind für uns Partner und nicht Gegner. Die Verhandlungen haben gezeigt, dass uns sehr viele inhaltliche Punkte trennen.
Die Verhandlungen sind also vor allem am Streit über die aussenpolitische Rolle Österreichs gescheitert?
Es hat mehrere Themen gegeben, die für uns die Zusammenarbeit verunmöglicht haben. Zum Beispiel die Forderung, dass internationale Gerichtsentscheide nicht mehr anerkannt werden. Man kann darüber reden, ob Regeln und Gesetze anzupassen sind. Aber wenn eine Gerichtsentscheidung vorliegt, dann ist sie bindend. Da gibt es für mich keinen Spielraum. Dann gab es auch problematische symbolische Signale. Etwa die Absicht, die englische Sprache in wissenschaftlichen Arbeiten zu untersagen oder die EU-Fahnen aus Amtsräumen zu verbannen. Das lässt auf eine Grundeinstellung schliessen, die wir nicht mittragen können.
Ihre Partei hat schon mit der FPÖ zusammengearbeitet und tut es derzeit auch in mehreren Bundesländern. War letztlich die Person Kickl das Problem?
Die ÖVP hat bewiesen, dass sie mit allen demokratischen Parteien zusammenarbeiten kann – auch mit der FPÖ. Mit Herbert Kickl war es anders. Er hat von Anfang an eine unnachgiebige Haltung eingenommen. Dass wir in einer Koalition mit einem Partner Kompromisse schliessen müssen, ist klar. Bei Kickl entstand jedoch der Eindruck, dass es ihm um einen Gesamtumbau des Staates geht, ähnlich wie es Donald Trump in den USA versucht. Das ist ein Modell, das ich für Österreich nicht will.
Sie haben das Land in einer Zeit der Krisen übernommen: Das Vertrauen in die Politik ist gering, die sicherheitspolitische Herausforderung gross, und gleichzeitig werden Sie den Staatshaushalt sanieren müssen, weil das Budgetdefizit in den vergangenen Jahren explodiert ist. Kann eine heterogene Dreierkoalition diese Probleme mit der nötigen Entschlossenheit angehen?
Die Vorgängerregierung hatte eine Vielzahl von präzedenzlosen Krisen zu bewältigen mit der Pandemie, dem russischen Überfall auf die Ukraine, der drohenden Energiemangellage und der Teuerung. Daher nehme ich die Situation jetzt gar nicht als besonders krisenhaft wahr. Ausserdem haben wir in der vorhergehenden Legislaturperiode mit den Grünen zusammengearbeitet, die uns inhaltlich auch nicht besonders nahestehen. Jetzt sind wir halt zu dritt – es muss ja nicht so ausgehen wie in Deutschland.
Was macht Sie optimistisch?
Die Geschichte dieser Regierungsverhandlungen hat dazu geführt, dass wir uns gegenseitig mittlerweile gut einschätzen können. Wir haben alle das Bestreben, aus dem Programm, das wir vereinbart haben, das Beste zu machen.
Wie wollen Sie die ÖVP positionieren in dieser Koalition? Seit Sebastian Kurz setzt die Partei mehr auf Sicherheit und Migration als auf Wirtschaft. Auch Sie haben das Finanzministerium den Sozialdemokraten überlassen.
Das Finanzministerium hat die SPÖ beansprucht, und eine Koalition besteht aus Kompromissen. Das bedeutet nicht, dass wir unsere Wirtschaftskompetenz aufgegeben haben. Wir haben dafür das Wirtschaftsministerium behalten. Wir wollen eine Industriestrategie ausarbeiten und gegen die hohen Energiepreise vorgehen, weil sie auch die Unternehmen belasten.
Vielen Wählern war es ein Anliegen, dass die Migration besser gesteuert wird. Wie reagiert die Regierung darauf?
Mir ist es wichtig, dass wir in unserem Land wieder die Ordnungskompetenz haben und Regeln für alle gelten. Wer zu uns kommt und von unserer Gesellschaft etwas in Anspruch nimmt, soll auch etwas leisten. Vorzugsweise durch Arbeit und, wenn das nicht möglich ist, durch gemeinnützige Betätigung. Wir werden die deutsche Sprache und unser Demokratieverständnis allen vermitteln. Es wird ein verpflichtendes Programm für Neuankömmlinge geben mit dem Ziel einer besseren Integration. Klar ist, dass bei uns das Recht vom Volk ausgeht und nicht von einer Religion.
Was ist in der Vergangenheit schiefgelaufen, dass Sie bei scheinbar selbstverständlichen Dingen ansetzen?
Mit den Grünen war vieles im Migrationsbereich nicht möglich. Die Sozialdemokraten und Neos sind da auch einen weiten Weg gegangen. Sie haben eingesehen, dass sich etwas ändern muss. Die Menschen vertrauen der Politik nicht mehr, wenn wir immer sagen, wir könnten nichts machen. Dann werden Parteien gewählt, die behaupten, sie könnten die Probleme lösen. Wir sind gefordert zu liefern. Man spricht gern über eine Brandmauer. Ich verstehe, dass man sich von gewissen Positionen abgrenzen will. Aber das Entscheidende ist, den Brand zu löschen.
Es brennt gerade an vielen Schulen in Österreich. Zu viele Kinder sprechen kein Deutsch, und die Lehrer sind überfordert. Ihre Regierung will aus diesem Grund den Familiennachzug aussetzen. Experten sind aber mehrheitlich der Ansicht, dass das europarechtlich nicht haltbar sei. Liegt die Lösung des Migrationsproblems in nationalen Alleingängen?
Ich glaube nicht, dass nationale Alleingänge das beste Mittel sind. Aber sie sind ein Mittel. Österreich war schon öfter anfangs allein mit manchen Positionen, bei denen es später ein Umdenken auf EU-Ebene gab, etwa bei den Kontrollen der Binnengrenzen. Auch ein anfangs nationaler Alleingang kann schliesslich zu europäischen Lösungen führen.
Deutschlands künftige Regierung unter Friedrich Merz will Asylsuchende an der Grenze direkt zurückweisen. Österreich wäre davon stark betroffen. Wie werden Sie reagieren?
Deutschland ist unser wichtigster Partner, und wir gehen davon aus, dass sich alle an die Rechtsordnung halten. Wenn Deutschland widerrechtlich Migranten abweist, werden wir sie nicht zurücknehmen. Aber die künftige Regierung hat angekündigt, dass sie in Abstimmung mit den Nachbarn vorgehen will. Ich mache mir daher keine Sorgen.
Europa muss sich gerade neu orientieren: Zur sicherheitspolitischen Gefahr mit Putin im Osten kommt nun, dass Amerika kein verlässlicher Partner mehr ist. Was ist zu tun?
Die Europäische Kommission hat richtig auf diese Situation reagiert – nämlich mehrschichtig. Zum einen mit der Androhung von Gegenmassnahmen, zum anderen, indem wir uns breiter aufstellen. Wir müssen auch mit anderen Wirtschaftsräumen als den USA Handelsabkommen abschliessen. Zudem sollten wir unseren Binnenmarkt entrümpeln von Vorschriften, die für den Handel hinderlich sind. 440 Millionen relativ zahlungskräftige Konsumenten sind auch eine Macht.
Und was heisst das sicherheitspolitisch? Wäre eine Nato ohne die USA noch handlungsfähig, oder muss man über eine EU-Armee nachdenken?
Wir sind ein neutraler Staat. Es gibt aber eine europäische Verteidigungs- und Sicherheitspolitik, an der wir aktiv mitarbeiten. Europa war relativ abrupt auf sich selbst gestellt. Kurzfristig ist das eine schwierige Situation, langfristig wird die EU besser aufgestellt sein als jetzt. Das gilt für die Wirtschaft, für die Verteidigung und auch für die Energieversorgung. Denn viel zu lange haben wir unseren Wohlstand an China, unsere Sicherheit an die USA und unsere Energieversorgung nach Russland ausgelagert.
Ihr Vorgänger Karl Nehammer erklärte kurz nach dem russischen Überfall auf die Ukraine die Diskussion über die Neutralität für beendet, bevor diese überhaupt begonnen hatte. Kann man sich dieser Debatte in der jetzigen geopolitischen Lage tatsächlich verweigern?
Die Diskussion kann man schon führen, aber es gibt weder in der Bevölkerung noch im Parlament eine Mehrheit für eine Abschaffung der Neutralität. Insofern ist sie müssig. Wir wären danach auch nicht sicherer, wohlhabender oder autarker, was die Energie betrifft.
Ist eine engere Zusammenarbeit mit der Nato denkbar?
Wir arbeiten schon jetzt mit der Nato zusammen im Rahmen der Partnerschaft für den Frieden. Das Neutralitätsgesetz verbietet das Eingehen militärischer Bündnisse und die Stationierung fremder Truppen auf unserem Staatsgebiet. Gemeinsame Beschaffungen wie etwa beim Flugabwehrsystem Sky Shield sind sinnvoll und bedeuten bessere Preise. Das kann man in Zukunft ausweiten. Aber die Entscheidung über den Einsatz der Systeme muss immer im Inland fallen.
Österreich steckt in einer wirtschaftlichen Krise. Das Defizit für 2024 ist mit 4,7 Prozent höher als erwartet. Ihr Finanzminister erklärte, ein EU-Verfahren sei unausweichlich. Sehen Sie das auch so?
Wir haben in der Regierung ein Paket zur Budgetkonsolidierung im Umfang von insgesamt rund 15 Milliarden für dieses und nächstes Jahr vereinbart. Das erfordert enorme Anstrengungen. Derzeit finden die Budgetverhandlungen statt. Sollte die Kommission ein Defizitverfahren für Österreich beschliessen, ist unser Ziel, dass wir so schnell wie möglich wieder herauskommen.
Ihre Partei hat noch im Herbst gesagt, es werde kein Sparpaket brauchen nach der Wahl. Haben Sie da nicht ein Glaubwürdigkeitsproblem?
Ich würde es nicht Sparpaket nennen. Wir reduzieren in der Verwaltung und bei den Subventionen, deren Umfang weit über dem Vorkrisenniveau liegt. Das ist ja noch kein grosses Sparprogramm. Die Wirtschaftsforscher hatten ein höheres Wachstum prognostiziert. Wäre es auch so gekommen, hätten wir keine so gravierenden Einschnitte gebraucht.
Die ÖVP regiert seit bald 40 Jahren und stellt seit rund 20 Jahren den Finanzminister. Übernehmen Sie für die Partei die Verantwortung für diese Situation?
Ich übernehme die Verantwortung für diese 40 Jahre Regierungsarbeit gerne und geniere mich dafür keine Sekunde. Wir haben die derzeitigen geopolitischen Krisen ja nicht verschuldet. Die ÖVP hat die Menschen immer wieder durch schwierige Phasen gebracht, und das werden wir auch jetzt tun.
Die Wirtschaftsforscher fordern harte Einschnitte: Lohnerhöhungen unter der Inflation, die Reform des doppelgleisigen Föderalismus oder die Erhöhung des Pensionsalters. Wird die Regierung sich dieser Tabus annehmen?
Wir haben damit schon begonnen. Im Föderalismus wollen wir Entflechtungen vornehmen vor allem in den Bereichen Gesundheit, Energiemarkt und Bildung. Für einen Automatismus zur Anhebung des Pensionsalters gibt es in der Regierungskoalition keine Mehrheit. Wir hatten das vorgeschlagen. Stattdessen reduzieren wir die Frühpensionierungen. Jeder Monat, der im Schnitt länger gearbeitet wird, bringt faktisch eine Budgetentlastung von 200 Millionen Euro. Das ist immerhin eine Annäherung an eine Pensionsreform.
Scheuen Sie ein entschlosseneres Vorgehen aus Angst vor Unzufriedenheit, die Herbert Kickl bei der nächsten Wahl einen noch deutlicheren Sieg bescheren könnte?
Kickl lebt davon, dass die Menschen unzufrieden sind. Wenn wir die Zufriedenheit mit der Politik heben können, ist seine Geschäftsgrundlage sehr schmal. Ich war jahrzehntelang Kommunalpolitiker, da hört man unmittelbar, was die Bevölkerung denkt. Sie ist meiner Erfahrung nach bereit, Lasten mitzutragen, wenn sie diese für nachvollziehbar, halbwegs gerecht und sinnvoll hält. Die Zusammenarbeit von ganz unterschiedlichen Parteien kann sogar helfen. Kompromisse erhöhen auch die Akzeptanz in der Bevölkerung.
Wie wollen Sie es schaffen, dass Sie auch als Bundeskanzler weiterhin hören, was die Bevölkerung denkt?
Ich wohne weiterhin in Wiener Neustadt, werde dort unterwegs sein und auch meinen Freundeskreis so gut wie möglich pflegen. Hoffentlich habe ich auch genügend Gelegenheiten, am Stammtisch zu sitzen. Da interessieren ganz andere Dinge als am Kabinettstisch. Kommunalpolitik ist eine gute Schule. Jeder, der bei Bürgerversammlungen zu Verkehrsthemen war, hat ein gutes Rüstzeug für unangenehme Fragestunden im Parlament.
Anfangs hiess es, Sie seien ein Übergangsparteichef. Sie sind kürzlich 65 geworden und haben damit das reguläre Pensionsalter erreicht. Wie lange sehen Sie sich im Kanzleramt?
Im Koalitionsabkommen steht, dass wir Arbeiten im Alter attraktiver machen und Menschen länger in Beschäftigung halten wollen. Ich halte mich daran. (Lacht.)
Was sollen die Menschen über Sie denken, wenn Sie einmal nicht mehr im Amt sind?
Beurteilt wird man von anderen, aber wenn ich mir etwas wünschen kann: Er hat alles erreicht, was möglich war, und ein bisschen mehr. Dann wäre ich froh.
Das ist ja eigentlich schon der Fall. Sie haben kürzlich am Parteitag erzählt, Ihr Vater habe gemeint, eher gewinne der SC Wiener Neustadt die Champions League, als dass Sie Kanzler würden.
Ja. Der SC Wiener Neustadt hat also noch eine Aufgabe.
Ein «Buddha» im Kanzleramt
bam./nbe. Der 65-jährige Niederösterreicher Christian Stocker war jahrzehntelang Anwalt und Kommunalpolitiker in seiner Heimatgemeinde Wiener Neustadt, wo er zuletzt Vizebürgermeister war. 2019 wurde er ins Parlament in Wien gewählt und wurde drei Jahre später Generalsekretär der konservativen ÖVP. Nach der Wahl im Herbst 2024 scheiterte sein Vorgänger im Kanzleramt, Karl Nehammer, mit dem ersten Versuch zur Bildung einer Dreierkoalition und trat zurück. Als vermeintliche Notlösung übernahm Stocker die Partei und wurde über den Umweg von Verhandlungen mit der FPÖ neuer Regierungschef. Wegen seiner Ruhe und Gelassenheit wird er in den Medien zuweilen als «Buddha» bezeichnet.