Nach den tödlichen Anschlägen von Magdeburg und Aschaffenburg fordern Politiker ein Register für psychisch kranke Gefährder. Wie gross ist die Bedrohung wirklich? Und wie kann man im Einzelfall das Risiko einschätzen, dass psychisch Kranke zu Tätern werden?
In Magdeburg fährt ein Mann mit einem Auto in einen Weihnachtsmarkt und tötet fünf Menschen. Ein anderer greift am 22. Januar in Aschaffenburg eine Kindergartengruppe mit einem Messer an, ein Kleinkind und ein Passant sterben. Diese Taten erschüttern die Menschen nicht nur in Deutschland. Und sie werfen Fragen auf: Waren die Angreifer islamistisch? Nein. Waren sie politisch extremistisch? Nein. Oft bleibt nur noch eine Erklärung: Es waren «Personen mit psychischen Auffälligkeiten», wie es die deutsche Innenministerkonferenz beschreibt.
Der Tenor zu Wahlkampfzeiten: Die Gesellschaft müsse vor Menschen mit psychischen Krankheiten geschützt werden. Die Innenminister möchten prüfen lassen, wie Sicherheitsbehörden leichter Informationen zu Menschen mit psychischen Krankheiten abfragen können. Der bayrische Ministerpräsident will das Gesetz verschärfen, das die Unterbringung von Menschen mit psychischen Krankheiten regelt. Und der CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann fordert gar ein Register für psychisch kranke Gewalttäter.
Solche Forderungen fallen auf fruchtbaren Boden: Vor allem Menschen mit Schizophrenie werden in den Medien oft als gefährlich dargestellt. Aussenstehende assoziieren die Diagnose laut der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie insbesondere mit Unkontrollierbarkeit und Gefährlichkeit.
Wie gross ist das Risiko wirklich? Neigen Menschen mit psychischen Krankheiten eher zu Gewalt als andere?
Die ersten Anzeichen für mögliche Gewalt
Tatsächlich ist das Risiko für gewalttätiges Verhalten leicht erhöht bei psychischen Symptomen, die beispielsweise in Richtung von psychotischen oder bipolaren Störungen weisen. Laut der Amerikanischen Psychologischen Vereinigung ist dies vor allem dann der Fall, wenn die Person unter Verfolgungswahn leidet oder Stimmen hört, die ihr Befehle erteilen. Aber auch dann, wenn sie einen Grössenwahn verspürt oder antisoziales Verhalten zeigt, indem sie zum Beispiel andere missachtet, täuscht und zum eigenen Vorteil manipuliert.
Damit jemand als «psychisch krank» gilt, müssen sich einzelne Symptome aber erst einmal zu einer Krankheit entwickeln. Die Weltgesundheitsorganisation definiert dies als Zustände, bei denen das Verhalten einer Person klinisch signifikant gestört ist. Was genau «klinisch signifikant» ist, wo also die Grenze zwischen normal und krank verläuft, ist nicht immer eindeutig definiert. Therapeuten erfassen die Schwere der Störung etwa anhand von komplizierten diagnostischen Fragebögen.
Ist eine Krankheit allein der ausschlaggebende Punkt?
Die allermeisten Menschen mit solchen psychischen Krankheiten neigen nicht zu Gewalt. Laut Simon Kurzhals, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, gehen gängige Schätzungen davon aus, dass von 2000 schizophrenen Patienten 1999 komplett harmlos sind. Viele hörten etwa Stimmen, die ihnen Befehle gäben. «Aber die meisten Betroffenen können sich von diesen Stimmen distanzieren», erzählt Kurzhals aus seiner Arbeit als Leiter einer psychiatrischen Akutstation in Essen in Nordrhein-Westfalen. «Die sind in Behandlung, nehmen ihre Medikamente und wissen, dass sie den Befehlen nicht folgen müssen.» Lediglich bei einem der 2000 erkrankten Menschen bestehe ein deutlich erhöhtes Risiko für eine Gewalttat.
Nur, wer ist diese eine Person? Für den Laien und Angehörige sei das laut Kurzhals kaum erkennbar. Selbst das Mitführen eines Messers müsse noch kein Risiko für Gewalt bedeuten, erklärt der Psychiater: Einige wenige seiner Patienten wurden etwa aufgegriffen, weil sie eine Waffe bei sich hatten. Doch die sollte nur dazu dienen, sich sicherer zu fühlen. Sie dachten, sie würden bedroht.
Ob man sich solch einer verhaltensauffälligen Person nähern möchte, muss man laut Kurzhals im Einzelfall einschätzen, im Zweifel könne man auch den Notfalldienst anrufen. Auf der Website reden-kann-retten.ch finden sich Tipps für den Umgang mit akut psychisch Erkrankten und Beratungsangebote der verschiedenen Kantone.
Forscher sind sich nicht einig
Wenn von Menschen mit psychischen Krankheiten und selbst von Schizophrenen nur sehr wenige in solch ein Raster passen und potenziell Gewalt anwenden – kann es nicht trotzdem viele psychisch kranke Gewalttäter geben? Ist der Anteil von Menschen, die Gewalttaten verüben, unter psychisch kranken Menschen erhöht?
Wer sich genaue Prozentzahlen erhofft, wird enttäuscht. Die psychologische Forschung kommt zu unterschiedlichen Ergebnissen: So fanden amerikanische Forschende in den Daten einer grossen Interviewstudie zu Suchterkrankungen und anderen psychischen Störungen mit fast 35 000 Teilnehmenden keinerlei Verknüpfung von schweren psychischen Störungen mit künftiger Gewalt.
Andere Forschende widersprechen. Mithilfe anderer Auswertungsverfahren finden sie in demselben Datensatz durchaus einen – wenn auch schwachen – Zusammenhang: Laut ihrer Studie begingen 0,83 Prozent der untersuchten Menschen ohne psychische Erkrankung innert eines Jahres eine Gewalttat – bei Betroffenen mit Diagnose einer psychischen Störung waren es hingegen je nach Schwere der Störung zwischen 1,4 und 2,9 Prozent. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch eine neuere Studie im Fachmagazin «The Lancet Psychiatry», nach der die Raten unter psychisch schwer kranken Menschen leicht erhöht sind.
Psychische Erkrankung und Drogen: eine gefährliche Mischung
Insgesamt lasse sich sagen, so Kurzhals, dass die Wahrscheinlichkeit einer Gewalttat bei psychisch erkrankten Menschen geringfügig erhöht sei, wenn man sich die psychische Krankheit allein anschaue. Aber es handele sich hierbei um «gestufte Risiken». Denn wenn zu der psychischen Krankheit der Missbrauch von Alkohol oder anderen psychoaktiven Substanzen hinzukommt, dann steigt das Risiko: von schätzungsweise 1 bis 3 Prozent der untersuchten Menschen allein mit einer psychischen Krankheit auf rund 10 Prozent der Menschen, die eine psychische Krankheit in Kombination mit einer Abhängigkeit haben.
Der Täter von Aschaffenburg wurde gemäss Medienberichten psychiatrisch behandelt, er erhielt Medikamente, und ihm wurde nach der Tat eine Schizophrenie diagnostiziert. Aber: «Über 90 Prozent der Gewalttaten werden von Personen begangen, die psychisch gesund sind», sagt Kurzhals. Es sind fast immer als gesund eingestufte Menschen, die politisch oder religiös extreme Motive verfolgen, Teil von Bandenkriminalität sind oder Sexualstraftäter werden. Zudem begleitet eine psychische Krankheit die wenigsten Menschen ihr Leben lang. Die meisten leiden nur ein paar Monate oder ein paar Jahre, etwa unter einer akuten psychischen Störung. Wenn dann aber alles gut läuft, entwickeln sie Strategien, um mit den Symptomen fertigzuwerden.
Was wirklich zu Gewalttaten führt
Wenn die psychische Krankheit aber nur einen geringen Teil ausmacht – wodurch werden dann Taten wie in Aschaffenburg oder Magdeburg ausgelöst? «Gewalt entsteht nie in einem Vakuum», sagt Kurzhals. «Eine unbehandelte psychische Krankheit in Verbindung mit Substanzkonsum ist das eine. Aber auch eine fehlende familiäre Anbindung, soziale Randständigkeit oder Wohnungslosigkeit erhöhen das Risiko.»
Auch die Umwelt ist ein enormer Faktor: Die Amerikanische Psychologische Vereinigung etwa stellt fest, dass «in unsicheren, armen und kriminalitätsbelasteten Vierteln» das Risiko für Gewalt unabhängig davon erhöht sei, ob eine Person eine psychische Erkrankung habe oder nicht.
Um Gewalt möglichst gut vorzubeugen, sollten deswegen alle relevanten Akteure zusammenarbeiten, um ein Gefahrenpotenzial beurteilen und Empfehlungen aussprechen zu können. So kooperiert das kantonale Bedrohungsmanagement von Zürich unter anderem mit der Psychiatrischen Universitätsklinik, aber auch mit der Interventionsstelle gegen Radikalisierung und gewalttätigen Extremismus der Stadt.
Betroffene brauchen Hilfsangebote
Der geringe Anteil psychischer Erkrankungen an der Entstehung von Gewalttaten rechtfertigt laut Kurzhals nicht, alle Menschen mit einem höheren Risiko in Zwangsbehandlung zu schicken oder in Registern zu erfassen: «Wir müssen als Gesellschaft eine andere Wahrnehmung entwickeln. Das Reden über psychische Erkrankungen muss genauso normal werden, wie mit einer gebrochenen Hand zum Arzt zu gehen.» Das könne dazu beitragen, dass sich betroffene Personen ohne Angst oder Scham schneller einen Therapieplatz suchten. Denn in der Praxis dauert es oft Jahre, bis Betroffene professionelle Hilfe in Anspruch nehmen.
Dazu gehört für Kurzhals aber auch ein verbesserter Zugang zu Therapieplätzen. Durch solche präventiven Massnahmen könne ein zunehmend «sicheres gesellschaftliches Miteinander ermöglicht und Betroffene vor ungünstigen Krankheitsverläufen geschützt werden». Der Weg zu weniger Gewalttaten ist also weniger eine individuelle als eine gesellschaftliche Frage.