Mittwoch, Januar 8

Seelenlose Psychiatrie? Grabenkämpfe innerhalb der Psychiatrie sollten der Vergangenheit angehören. Verschiedene Therapieansätze befruchten und ergänzen sich im besten Fall. Eine Entgegnung.

Die moderne Psychiatrie ist eine Fachdisziplin, die sich kritisch mit der eigenen Sichtweise auf Diagnosen und Therapieverfahren auseinandersetzt. Für einen Psychiater ist das Hinterfragen des eigenen Vorgehens nichts Ungewöhnliches. Symptome und Diagnosen unterliegen im Verlauf einer seelischen Erkrankung häufig Schwankungen oder müssen hinterfragt und revidiert werden. Kritik, auch Selbstkritik, ist dem Psychiater also durchaus nicht fremd. Dennoch kann der Text «Mehr Diagnosen, weniger Menschlichkeit» (NZZ vom 4. Januar) nicht ohne Widerspruch bleiben.

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Das im Beitrag geschilderte Bild einer seelenlosen Psychiatrie, die sich nur noch für Symptome und nicht für die Geschichte der Patienten interessiere, hat mit der heute praktizierten modernen Psychiatrie wenig zu tun. Ein solches Argument birgt auch die Gefahr der weiteren Stigmatisierung seelisch Kranker, die in der modernen Psychiatrie sehr wohl Linderung und Heilung erfahren können.

In der modernen Psychiatrie gilt als Grundlage diagnostischen und therapeutischen Handelns das sogenannte biopsychosoziale Krankheitsmodell. Wir gehen davon aus, dass seelische Erkrankungen biologische, psychologische und soziale Auslöser haben.

Biologische Faktoren wären zum Beispiel eine genetische Veranlagung, aber auch Durchblutungsstörungen des Gehirns, Entzündungen oder Stoffwechselstörungen. Der Behandlungsansatz bei den biologischen Auslösern von seelischen Erkrankungen ist in der Tat biologisch. Dies kann eine medikamentöse Therapie sein, die den Einsatz von Psychopharmaka beinhaltet. Niemand käme auf die Idee, eine Depression, die durch eine Schilddrüsenunterfunktion entstanden ist, psychotherapeutisch zu behandeln.

Jede Therapieform ist gleichwertig

Die psychologischen Ursachen einer seelischen Erkrankung, wie zum Beispiel Traumata oder Konfliktsituationen, werden nach diesem Krankheitsmodell wiederum psychotherapeutisch behandelt. Bei solchen Ursachen haben psychotherapeutische Verfahren wie die Verhaltenstherapie, aber auch die Psychoanalyse einen wichtigen Platz im Portfolio der psychiatrischen Behandlungsmöglichkeiten.

Schliesslich können auch soziale Faktoren, wie Konflikte am Arbeitsplatz, Vereinsamung durch Verlust oder unzureichende Mobilität mit Vereinsamung, seelische Erkrankungen auslösen. Eine Depression, die auf diesem Wege entstanden ist, wird kaum auf Medikamente ansprechen, und auch psychotherapeutische Verfahren sind hier nur eingeschränkt wirksam. Zielführend und sinnvoll ist in einem solchen Fall eine soziotherapeutische Behandlung, um die auslösenden Ursachen zu kompensieren.

Grundlage für eine psychiatrische Diagnose sind dabei die Krankheitsgeschichte (Anamnese) und die dabei erhobenen Symptome. Erst die Einordnung dieser Symptome in die Lebenssituation des Patienten macht eine Diagnosestellung möglich. Die psychiatrische Anamnese ist deshalb unabdingbar in der täglichen Arbeit eines Psychiaters. Sie erlaubt, den verschiedenen Ursachen der seelischen Erkrankung geeignete Therapieverfahren entgegenzustellen.

Zwischen diesen einzelnen Therapieansätzen (biologisch, psychotherapeutisch, soziotherapeutisch) gibt es dabei kein besser oder schlechter. Die Wirksamkeit hängt allein davon ab, wie genau zwischen den auslösenden Ursachen differenziert wird, um dann das individuell sinnvolle Behandlungsverfahren einzusetzen.

Kritik an Pharmaindustrie teilweise berechtigt

Die Psychotherapie als ein mögliches Behandlungsverfahren ist aus der modernen Psychiatrie nicht mehr wegzudenken. Ihre Bedeutung hat in den letzten fünfzehn Jahren enorm zugenommen. Psychotherapeutische Verfahren sind mittlerweile wesentlicher Bestandteil jeder stationären psychiatrischen Behandlung. Seit fast fünfzehn Jahren kann man nicht mehr Psychiater werden, ohne eine Psychotherapieausbildung zu absolvieren. Heutige Psychiater sind immer auch Psychotherapeuten.

Die Annäherung der Psychiatrie an die anderen medizinischen Fachrichtungen hat dazu geführt, dass seelische Erkrankungen zunehmend nicht als Aussatz oder Mythos verstanden werden, sondern als Erkrankungen wie andere auch, wie zum Beispiel eine Lungenentzündung oder ein Herzinfarkt. Dadurch ist es zu einer Entstigmatisierung von seelischen Erkrankungen gekommen.

Dies ist auch aus analytischer Sicht wichtig für den Heilungsprozess des seelisch Kranken. Der biologischen Psychiatrieforschung haben wir zahlreiche und gut wirksame Psychopharmaka zu verdanken, auch wenn die Kritik an der pharmazeutischen Industrie berechtigt ist. Wir wüssten ohne sie jedoch nichts über andere biologische Behandlungsverfahren wie die Lichttherapie oder die Bewegungstherapie.

Beziehung zwischen Arzt und Patient ist zentral

Wünschenswert wäre allerdings, dass sich auch die biologische Medizin, zum Beispiel die innere Medizin, mehr der Psychiatrie annähern würde. Denn auch in der körperlichen Medizin sind die therapeutische Beziehung zwischen Arzt und Patient und das intensive Gespräch wirksam.

In der modernen Psychiatrie haben aber auch die psychotherapeutische und die soziotherapeutische Forschung einen hohen Stellenwert. Gerade die Psychotherapieforschung hat in den letzten Jahren durch die Entwicklung spezifischerer Therapieverfahren neue Behandlungsmöglichkeiten geschaffen. Dies gilt im Übrigen insbesondere dann, wenn Psychoanalytiker und Psychiater eng und vertrauensvoll an deren Weiterentwicklung zusammenarbeiten.

In der modernen Psychiatrie inklusive der Psychoanalyse wird humanistisch, empathisch und gesellschaftspolitisch gedacht. Die verschiedenen Therapiestrategien sind gleichwertig, und keine nimmt eine Sonderstellung ein. Sie sollten sich im besten Falle befruchten und ergänzen. Nur dann können sie zum Wohle der Patienten auch erfolgversprechend eingesetzt werden.

Torsten Kratz ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und leitet die Gerontopsychiatrie am Evangelischen Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge in Berlin.

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