Freitag, Oktober 18

Yann Sommer spielt nach der anspruchsvollen Zeit in München mit Inter eine beeindruckende Saison. Der Goalie sagt, wann er Gänsehaut bekommt, und spricht über sein Image als Mann ohne Ecken und Kanten.

Yann Sommer, wie wichtig ist Ihnen Ihr Image?

Yann Sommer: Für mich ist es wichtig, dass ich authentisch bin. Ich verstelle mich nicht und baue auch nicht bewusst ein Image auf, das mir nicht entspricht. Es ist aber auch klar, dass man in der Öffentlichkeit nicht immer alles von sich preisgibt.

Sie sind sehr populär, auch bei Frauen und Kindern, und eine beliebte Werbefigur, haben aber gleichzeitig ein ausgeprägtes Saubermann-Image. Stimmt dieses Bild für Sie?

Das stört mich nicht. Wir Fussballer sind Vorbilder für viele Kinder, deshalb finde ich es wichtig, dass wir uns entsprechend verhalten und professionell auftreten. Ich bin 35 Jahre alt, mein Körper ist noch sehr parat. Das ist das Resultat davon, dass ich immer sehr bewusst und achtsam gelebt habe.

In der SRF-Dokumentation «Yann Sommer – Out of the Box» sagt Ihre Marketingberaterin, dass es manchmal nicht schlecht wäre, wenn Sie ein bisschen mehr Ecken und Kanten zeigen würden.

Was verstehen Sie unter Ecken und Kanten? Ich bin schon einer, der Stellung bezieht, aber das muss nicht immer in der Öffentlichkeit sein. Mir ist klar, dass das für euch Medien manchmal langweilig ist, aber damit kann ich leben.

Es hat Ihrer Beliebtheit überhaupt nicht geschadet. Und auch sportlich haben Sie mit dem Wechsel zu Inter Mailand offensichtlich alles richtig gemacht, es läuft für Ihr neues Team sehr gut. Wie haben Sie sich persönlich in Italien eingelebt?

Es ist traumhaft: Essen, Wetter, Landschaft, Menschen, die Stadt Mailand, der Klub Inter. Wir leben nahe an der Grenze zur Schweiz und nahe am Inter-Trainingsgelände, sind auch einmal im Tessin und fühlen uns in jeder Beziehung wohl.

Wie verlief das turbulente Jahr 2023 für Ihre Familie?

Es war sehr herausfordernd. Als ich bei Borussia Mönchengladbach spielte, lebten wir jahrelang in Düsseldorf in einer tollen Komfortzone. Anfang 2023 kam der Wechsel nach München zu den Bayern, ein halbes Jahr später ging es weiter nach Mailand. Unsere Mädchen sind vier und drei Jahre alt, diese Veränderungen sind eine grosse Umstellung für uns als Familie. Wir kannten hier in Italien niemanden und mussten alles neu organisieren. Man verlässt ja sein komplettes Umfeld bei solchen Transfers.

Bei Bayern und Inter sind die Ansprüche deutlich höher als bei Borussia Mönchengladbach, das Programm ist intensiver. Welche Auswirkungen hat das auf Ihre Familie?

Ich bin noch weniger zu Hause. Jetzt beginnt wieder die Zeit, in der wir alle drei, vier Tage eine Begegnung haben. Bei Inter übernachten wir zudem fast vor jedem Spiel hier im Trainingscenter, wir sind oft unterwegs. Und dann kommen auch immer die vielen Reisen mit dem Nationalteam dazu. Manchmal wird unterschätzt, was diese Belastung für Fussballer mit Familie und Kindern bedeutet.

Und wie haben Sie die Fussballkultur in Italien bisher wahrgenommen?

Hier in Italien ist die Leidenschaft der Zuschauer aussergewöhnlich. Ich hatte vor meinem Wechsel gewusst, dass Inter Mailand ein traditionsreicher Verein ist. Und mir war klar gewesen, dass das San Siro legendär ist. Aber als ich dann das erste Mal im ausverkauften Stadion für Inter spielte, war das sehr speziell. Ich bekomme immer noch Gänsehaut, wenn wir im San Siro spielen, kürzlich schlugen wir Juventus im Spitzenspiel 1:0. Diese Emotionen und diese Begeisterung sind gewaltig, die Liebe der Fans zu Inter ist fast grenzenlos.

Inter Mailand ist unter dem Trainer Simone Inzaghi über Jahre zusammengewachsen und tritt sehr überzeugend auf. Jeder Spieler weiss genau, wie er sich im 3-5-2-System zu verhalten hat. Hatten Sie das erwartet?

Das hat mich auch vom ersten Tag an beeindruckt. Es gibt in der Serie A keine einfachen Spiele, alle Mannschaften sind sehr gut organisiert, es wird viel Wert auf Details gelegt. Unser Trainer überlässt nichts dem Zufall. Aber wir dürfen diese klaren Vorgaben und Abläufe mit Kreativität füllen. Bezüglich Trainingsmöglichkeiten, medizinischer Abteilung und Kader ist Inter herausragend aufgestellt.

Es gibt Beobachter, die Inter Mailand zurzeit zu den zwei, drei besten Teams Europas zählen. Wie sehen Sie das?

Für uns ist sehr viel möglich. Am Dienstag treffen wir im Achtelfinal-Hinspiel der Champions League auf Atlético Madrid, das ist ein 50:50-Duell. Ein schlechtes Spiel, und alles ist vorbei. Was ich bei Inter Mailand jeden Tag spüre: einen riesigen Hunger auf Erfolg. Der Einzug in den Final der Champions League letzte Saison hat den Spielern und dem ganzen Klub ein bemerkenswertes Selbstverständnis vermittelt.

Gianluca Spinelli ist einer der angesehensten Goalietrainer der Welt und arbeitet bei Inter. Wie wichtig war er für Sie beim Wechsel nach Italien?

Die beiden Goalietrainer hier bei Inter sind die ersten Ansprechpersonen für mich. Gianluca ist ein exzellenter Fachmann, der mir noch einmal neue Facetten beigebracht hat. Ich bin heute noch kompletter als Torhüter, weil ich während meiner Laufbahn mit diversen Ansätzen aus der Trainingslehre konfrontiert worden bin.

Was zeichnet Spinelli und die italienische Goalieschule aus?

Grundsätzlich unterscheidet sich die italienische Schule nicht stark von der schweizerischen, der Nationalteam-Goalietrainer Patrick Foletti arbeitet ähnlich. Die Italiener trainieren sehr spielbezogen, kreativ und offen. Es ist wichtig, dass man das Beste aus allen Varianten mitnehmen kann. Bei Inter legen wir sehr viel Wert auf einen gepflegten Spielaufbau, in den ich stark integriert bin und bei dem ich viele Ballkontakte habe. Das entspricht meinen Vorstellungen eines modernen Torhüterspiels sehr.

Bis jetzt absolviert Inter Mailand eine hervorragende Saison. Was zeichnet die Mannschaft neben den funktionierenden Automatismen aus?

Die Stimmung im ganzen Verein ist positiv, unsere Mannschaft ist erfahren, eingespielt und stark. Es gibt Routiniers wie den Armenier Henrikh Mkhitaryan, der 35 ist, aber rumrennt wie ein 20-Jähriger. Wir haben Spieler wie Lautaro Martínez, Nicolò Barella und Benjamin Pavard, um nur drei zu nennen, die sehr viel Erfahrung mitbringen und internationale Topklasse verkörpern.

Sie werden nach dem schwierigen Halbjahr bei Bayern München von den Medien und den Fans in Italien gefeiert und stellen jede Menge Rekorde auf, weil Sie so wenig Gegentore erhalten. Bestreiten Sie gerade Ihre beste Saison?

Ich fühle mich topfit, und wir spielen bis jetzt tatsächlich eine sehr erfolgreiche Saison, die aber noch drei Monate dauert. Jetzt kommt die entscheidende Phase.

Und danach folgt direkt die Europameisterschaft in Deutschland. Warum wird es für die Schweiz nach dem schwachen Länderspieljahr 2023 jetzt wieder besser?

Wir waren auch nicht zufrieden mit unseren Leistungen im letzten Jahr. Aber wir haben alle Ziele erreicht, an der EM wird niemanden mehr interessieren, wie die Qualifikation gelaufen ist. Es wird uns im Sommer an der Europameisterschaft helfen, dass wir genau wissen, was wir noch verbessern können, um erfolgreich zu sein. Das haben wir auch an den letzten Turnieren bewiesen. Und wenn wir uns im März das nächste Mal treffen, wird das letzte Länderspiel vier Monate her sein. Das heisst: Wir haben jetzt die Chance, ein gutes Gefühl für die Euro aufzubauen.

Wie sehr belastet der Konflikt zwischen dem Trainer Murat Yakin und dem Captain Granit Xhaka das Team?

Überhaupt nicht, das war gar nicht so, wie es dargestellt wurde. Es darf in einer Mannschaft auch einmal kontrovers diskutiert werden. Wir alle kennen Granit Xhaka, er ist ein leidenschaftlicher Mensch, der Dinge auch einmal in einem Interview vor der Kamera anspricht. Er ist der Captain, er darf das. Wichtig ist, dass er das mit dem Trainer danach besprochen hat.

Sie sind ein Leader in der Auswahl, haben sich aber in dieser Sache zwischen Yakin und Xhaka in der Öffentlichkeit zurückgehalten. Warum?

Ich äussere dort meine Meinung, wo ich etwas verändern kann.

Sie sind seit bald zehn Jahren Stammgoalie im Nationalteam. Was kommt Ihnen in den Sinn, wenn Sie an Ihre vielen Welt- und Europameisterschaften denken?

Spontan: die Bilder aus der Schweiz mit der riesigen Begeisterung, nachdem wir 2021 an der EM im Achtelfinal den damaligen Weltmeister Frankreich ausgeschaltet haben. Wie wir damals einen 1:3-Rückstand aufholten, war eindrücklich. Die Leute feierten zu Hause in der Schweiz auf den Strassen, das hat mich extrem berührt. Und natürlich denke ich auch ab und zu an den gehaltenen Elfmeter damals gegen Kylian Mbappé.

Sensation im Penaltyschiessen | Frankreich - Schweiz | Highlights | Achtelfinal | UEFA EURO 2020

Das letzte Turnier, die WM in Katar vor etwas mehr als einem Jahr, endete mit einem 1:6 im Achtelfinal gegen Portugal. Waren Sie damals wirklich topfit?

Ich war fit genug, dass ich unbedingt spielen wollte und konnte. Ich fühlte mich gut, hatte zwei Trainings absolviert. Aber klar: Ich hatte zuvor auch ein paar Tage hohes Fieber gehabt und Gewicht verloren. Es war sicher nicht mein bestes Spiel.

Wird die EM in Deutschland, dem Heimatland Ihrer Frau, Ihr letztes Turnier?

Das weiss ich heute noch nicht. Da spielen viele Faktoren eine Rolle, auch die Familie. Aber ich bin in guter Form, spiele in einem tollen Klub und bin immer stolz, an Turnieren für die Schweiz spielen zu dürfen.

Anders gefragt: Wird die grosse Schweizer Fussballergeneration um Granit Xhaka, Xherdan Shaqiri, Ricardo Rodríguez und Sie an der EM zum letzten Mal gemeinsam im Einsatz stehen?

Wir werden kaum noch vier Turniere gemeinsam bestreiten. Aber wir sind in guter Verfassung, zudem finden Veränderungen im Nationalteam stets fliessend statt. Seit ich dabei bin, haben viele starke Spieler aufgehört, und es wird auch nach uns eine kompetitive Auswahl geben.

Die Schweiz hat seit 2014 an Welt- und Europameisterschaften stets die Vorrunde überstanden. Ist das eine herausragende Bilanz – oder fehlt der absolute Exploit?

Wir haben durch unsere Erfolge die Ansprüche und Erwartungen in der Schweiz weit nach oben geschraubt. Wir sind nicht Frankreich oder England, aber wir haben uns teilweise auf Augenhöhe mit diesen Topnationen bewegt und aussergewöhnliche Konstanz bewiesen. Und nach dem Sieg im EM-Achtelfinal 2021 gegen Frankreich waren wir gegen Spanien nur ein Elfmeterschiessen vom Halbfinal entfernt.

Ist es eigentlich Zufall, dass die Schweiz mit Ihnen und Gregor Kobel gleich zwei Torhüter hat, die zu den besten der Welt gehören?

Nein, es gibt zudem viele weitere Toptorhüter. Die Goalieausbildung in der Schweiz ist ausgezeichnet, man arbeitet sehr modern, das fördert bereits die Entwicklung der jungen Torhüter.

Wie sieht Ihre Karriereplanung aus? Möchten Sie auch wie Granit Xhaka am Ende noch einmal in der Schweiz spielen?

Wenn, dann wäre es beim FC Basel. Aber mein Vertrag bei Inter läuft noch zweieinhalb Jahre, darauf fokussiere ich mich im Moment voll und ganz. Wer weiss schon, was 2026 sein wird? Wenn Sie mir vor eineinhalb Jahren gesagt hätten, dass ich 2023 zuerst zu Bayern München und danach zu Inter Mailand wechseln werde, hätte ich das kaum für möglich gehalten.

Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»

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