Es war eine dicke Überraschung, als Calin Georgescu, ein fast völlig unbekannter Kandidat, der gern mit Verschwörungstheorien hantiert, im November die rumänischen Wahlen gewann. Der Präsident zog die Notbremse – wegen «Einmischung von aussen».
Kurz vor der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen am 24. November kam der Regierungschef und Kandidat für das höchste Staatsamt, Marcel Ciolacu, ins Schlingern. Man warf dem Sozialdemokraten (PSD) vor, er habe sich von der in einen Betrugsskandal verwickelten Immobilienfirma Nordis zu teuren Flügen nach Nizza einladen lassen. Das nährte den Verdacht der unzulässigen Verquickung von Politik und Privatwirtschaft. Ciolacu behauptete, er habe die Flüge aus eigener Tasche bezahlt, die Rechnungen werde er vorlegen – ein bislang nicht gehaltenes Versprechen –, und verteidigte den Luxusausflug mit den Worten, er habe sich auch einmal «eine Arroganz» erlauben wollen.
In diesen Tagen vor der Wahl fragte die Schriftstellerin Gabriela Adamesteanu ihren Installateur, wem er seine Stimme geben würde. «Calin Georgescu!», erwiderte der, und als er ihr ratloses Gesicht bemerkte, fügte er hinzu: «Kennen Sie nicht? Ein Diplomat! Hat bei der Uno gearbeitet! War beim Club of Rome! Sie sollten mal hören, wie der redet, kein Vergleich zu all den Ungebildeten da!»
In den eigenen Fäden verheddert
War nun fehlende Bildung der Grund für Ciolacus «Arroganz», mit der er wohl eher «eine Extravaganz» gemeint hatte? Oder beruhte sie auf einer freudschen Fehlleistung? An Arroganz mangelt es der politischen Klasse Rumäniens nämlich wirklich nicht.
Die etablierten Parteien setzten im Vorfeld der Wahl alles daran, das Ergebnis zu manipulieren: Ciolacu wollte unbedingt mit dem «Souveränisten» George Simion in die Stichwahl, er versprach sich davon den sicheren Sieg; so organisierte man Stimmen für den rechtsextremen Gegner, wie ein Parteifreund Ciolacus jüngst amüsiert eingestand. Um diesen Plan zu durchkreuzen, unterstützten die liberalen Konkurrenten (und Regierungspartner) ein bisschen den für ungefährlich gehaltenen Georgescu im Netz – und merkten nicht, dass sie, die Manipulatoren, selber manipuliert wurden.
35 Jahre lang hatte man mit dem Manipulieren so schöne Erfahrungen gemacht. Doch dieses Mal sollten sich die Strippenzieher in ihren eigenen Fäden verheddern. Ciolacu, der Liberale Ciuca, noch nicht einmal der rechtsextreme Wunschgegner Simion – keiner der drei schaffte es in die Stichwahl. Stattdessen der bislang nur Eingeweihten bekannte, in den Umfragen fast inexistente, unabhängige Calin Georgescu. Die Parteien hatten den Ernst der Lage nicht erkannt: dass sie bei weiten Teilen der rumänischen Gesellschaft mittlerweile zutiefst verhasst sind.
Hat sie der Schaden klug gemacht? Wohl kaum. Auch sechs Wochen nach der Annullierung des ersten Wahlgangs durch das Verfassungsgericht war niemand verantwortlich oder musste zurücktreten. Der als Interimsstaatschef weiterhin amtierende Klaus Iohannis befand es nicht einmal für nötig, der Öffentlichkeit im Einzelnen auseinanderzusetzen, warum diese schwerwiegende Entscheidung getroffen worden war.
Das hätte man aber erwartet: Immerhin verwies er in seinem kurzen Statement vom 6. Dezember auf eine Einmischung von aussen. Doch seither schweigt er, wie man es von ihm kennt, auch darum ist die Zustimmungsrate des einst beliebten Präsidenten auf sechs Prozent gesunken. In der ersten Amtszeit von 2014 bis 2019 ritt er bei öffentlichen Auftritten scharfe Attacken gegen die postkommunistischen Sozialdemokraten, die unter ihrem damaligen Vorsitzenden Liviu Dragnea alles daransetzten, den Rechtsstaat auszuhöhlen.
Iohannis’ Wortmeldungen gegen die Korruption weckten Hoffnungen. Doch derselbe Staatschef sorgte im Herbst 2021 ohne Not dafür, dass die seit 35 Jahren dominierenden Postkommunisten in einer grossen Koalition mit den Liberalen wieder an die Regierung kamen. Mit der Anti-Korruptions-Rhetorik war Schluss, der Kampf gegen die Korruption schlief ein. Iohannis trat kaum noch auf, machte nur noch mit teuren Reisen und der erfolglosen Kandidatur für den Nato-Chefposten von sich reden.
Viele Kilometer Autobahn
Mehltau legte sich über das Land. Sozialdemokraten und Liberale schworen sich ewige Treue. Der Verwaltungsapparat blähte sich mit Parteigängern weiter auf. Doch seit dem Angriffskrieg Putins gegen die Ukraine zählte die strategische Lage des Landes mehr als alles andere. Brüssel übersah die endemische Korruption, europäische Gelder flossen nach Bukarest. Löhne und Pensionen stiegen, das Bruttosozialprodukt liegt mittlerweile über dem von Griechenland oder Ungarn, nie wurden so viele Kilometer Autobahn gebaut wie im vergangenen Jahr. Ungleich verteilt ist der Wohlstand allerdings weiterhin: Laut einer Studie lebt fast die Hälfte der Kinder auf dem Land in Familien, deren monatliches Einkommen nicht für das Nötigste reicht.
Wenn aber, wie eine Umfrage zeigt, 56 Prozent der Rumänen mit ihrem Leben zufrieden sind, muss es andere Ursachen für die massenhafte Wahl Georgescus geben. Entscheidend war anscheinend der Auftritt des Hologramm-Kandidaten im virtuellen Raum von Tiktok: seriös, gravitätisch, gutaussehend, elegant.
Dass seine Ansichten und politischen Ziele weithin bekannt gewesen wären, darf man indessen bezweifeln. Umso mehr, als die Ziele äusserst vage und die Ideen ein eklektizistisches Sammelsurium sind, mal nationalistisch, mal esoterisch, mal populistisch, mal messianisch daherkommen, von dem Lob für Putin («ein Patriot») und der Verehrung für Corneliu Zelea Codreanu (von 1927 bis 1938 Führer der religiös-faschistischen Bewegung Legion Erzengel Michael) bis zur Ablehnung des Kaiserschnitts («eine Tragödie, bei der der göttliche Faden zerschnitten wird»), politischer Parteien überhaupt oder des Schengenraums reichen («schrecklicher Kerker», «für mich eine grosse Ehre, dass Rumänien ihm nicht beigetreten ist»).
Tatsächlich war der Beitritt dem Land bis zum 1. Januar 2025 ungerechtfertigt lange verweigert worden, und die über vierzig Prozent Auslandsrumänen, die für Georgescu stimmten, werden dies auch aus Trotz und aufgrund demütigender Erfahrungen als Bürger zweiter Klasse getan haben; doch gegen die Freizügigkeit in Europa sind sie bestimmt nicht.
Aus diesem «Programm» konnte und kann sich jeder das Passende aussuchen, nicht zuletzt das Versprechen, den angeblich von der Nato geplanten Krieg gegen Russland zu verhindern. «Sie haben nur Sklaven in den Machtpositionen ( . . .), keine Führer», so meldete sich Georgescu in einem Podcast vom 14. Januar zu Wort, «in Rumänien sind es nur Marionetten, und durch diese Marionetten wollen sie kontrollieren und den dritten Weltkrieg durchsetzen, so schnell wie möglich, noch vor der Amtseinführung des Präsidenten Trump am 20. Januar.» Die Versicherung, für Frieden zu sorgen – warum nicht gleich in 24 Stunden? –, ist das Erfolgsrezept nicht nur rumänischer Populisten.
Ein Mann des alten Systems?
Wer aber steckt hinter der Erfolgsgeschichte der Projektionsfigur Georgescu? Wenn schon nicht von höchster Stelle, so war doch jüngst etwas durch Hunor Kelemen zu erfahren, den ehemaligen Kulturminister, der seit 2011 Chef der an der Regierung beteiligten Partei der ungarischen Minderheit (UDMR) ist: Georgescu sei kein Anti-System-Kandidat, erklärte Kelemen, sondern ein «Mann des alten Systems», der mittels seines Mentors Mircea Malita dem Netzwerk Caraman angehört habe.
Der 2024 verstorbene Mihai Caraman war ein rumänisch-russischer Doppelagent, der während des Kalten Krieges in die Nato-Strukturen hatte eindringen können und von dort Informationen an den KGB geliefert hatte. Nach der Revolution von 1989 ernannte der prosowjetische Nachfolger Ceausescus, Ion Iliescu, Caraman zum Direktor des Auslandsgeheimdienstes; 1992, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, musste der seinen Hut nehmen.
«Ich glaube, dass der Grossteil der Probleme hier bei uns liegt», meinte Kelemen. Er verwies auf ein «Netzwerk von Reservisten, das die Gesellschaft in alle Richtungen abdeckt, die haben sich einen Kandidaten gesucht, mobilisiert. Hinzu kam die Hilfe anderer (. . .), die Verbreitung über Tiktok (. . .), dort hat man Bots, Roboter, Aktionen von ausserhalb Rumäniens nachgewiesen, doch im Prinzip befand sich das eigentliche Problem in Rumänien.» Ist deshalb niemand verantwortlich? Hüllen sich deshalb die höchsten Stellen in Schweigen?
Dies alles könnte bedeuten, dass sich viele Georgescu-Wähler mit ihrer Stimme für die Versäumnisse der vergangenen 35 Jahre, die Arroganz und Korruption einer politischen Klasse, die sie so lange zu manipulieren verstand, rächen wollten – und dabei von noch älteren, russlandnahen Gruppierungen manipuliert wurden, die ihre eigenen Gründe haben, Rache zu nehmen, und wieder zu Macht und Einfluss kommen wollen.
Da liest sich die Geschichte von Deveselu wie ein Gleichnis: Im armen Süden Rumäniens, gleich neben der Nato-Raketenabwehrbasis, wurde bei den Gemeindewahlen 2020 der eine Woche zuvor verstorbene Bürgermeister mit grosser Mehrheit im Amt bestätigt, was die Siegeslaune seiner Anhänger freilich nicht minderte: Die Wahlparty fand auf dem Friedhof statt.
Und wie geht es weiter? Schwer zu sagen. Er habe sich jetzt Klarheit über Georgescu verschafft, meinte Gabriela Adamesteanus Installateur kurz nach der Wahlannullierung, bei dem werde er nicht mehr sein Kreuzchen machen. Um nur einige Tage später das Gegenteil zu erklären, angewidert von der Tatsache, dass der Interimsstaatschef Iohannis erneut Marcel Ciolacu mit der Regierungsbildung beauftragt hatte. Die alte Arroganz.
Der deutsche Autor Jan Koneffke pendelt zwischen Bukarest, Wien und Berlin. 2024 erschien sein Roman über Joseph Roth: «Im Schatten zweier Sommer», Verlag Kiepenheuer & Witsch.