Um die «ideale Gesellschaft» zu schaffen, war ihm jedes Mittel recht: Mao Zedongs Politik bestand aus Terror, Hunger und Folter.

Das Erste, was einem ins Auge fällt, wenn man das historische Zentrum Pekings betritt, ist das riesige Porträt von Mao Zedong, das den Eingang zum ehemaligen Kaiserpalast schmückt. Da sind seine durchdringenden Augen, die gewölbte Stirn und das markante Muttermal auf dem Kinn. Er blickt auf das majestätische Mausoleum, direkt vor ihm auf dem Platz des Himmlischen Friedens, in dem sein einbalsamierter Körper ruht.

Seit dem Machtantritt von Xi Jinping vor zwölf Jahren wird der «grosse Steuermann», wie Mao sich nennen liess, wieder verherrlicht. Ende 2023 wiederholte Xi das Motto, das er schon früher ausgegeben hatte: «Genosse Mao Zedong war ein grosser Marxist, ein grosser proletarischer Revolutionär, Stratege und Theoretiker, ein grosser Pionier bei der Sinisierung des Marxismus, ein grosser Patriot und Nationalheld Chinas in der neuen Ära, die zentrale Figur der ersten Generation der kollektiven Führung des Zentralkomitees, ein grosser Mann an der Spitze des chinesischen Volkes, der sein Schicksal und das Gesicht der Nation verändert hat.»

Die von der Partei kontrollierten Massenmedien haben praktisch aufgehört, Maos Fehler zu erwähnen, und werden nicht müde, seine «unauslöschlichen Verdienste» zu würdigen. Nach wie vor werden in Peking Abzeichen und Plakate mit Mao-Darstellungen, Büsten und Bücher mit Zitaten des Vorsitzenden verkauft. Dabei geht es weniger ums Geschäft, sondern um den Propagandawert. Mit Erfolg: Rund 85 Prozent der Chinesen sind heute überzeugt, dass die Verdienste des ehemaligen Diktators seine Fehler bei weitem übertrafen.

Tatsächlich war Mao eine komplexe Figur. Der grosse Rebell des zwanzigsten Jahrhunderts war auch einer der schlimmsten Tyrannen. Mao war Philosoph und Politiker, Dichter und Despot, Familienvater und Frauenheld – neben seinen vier Ehefrauen hatte er zahlreiche Mätressen. Er war zweifellos einer der wirkungsmächtigsten Utopisten des 20. Jahrhunderts, aber im Gegensatz zu Lenin und Stalin führte er nicht nur radikale wirtschaftliche und politische Reformen durch, sondern vollendete auch eine nationalistische Revolution in einem halbkolonialen Land. Es gelang ihm, China von ausländischer Einflussnahme zu befreien, doch er scheiterte beim Versuch, mit Gewalt die ideale Gesellschaft zu schaffen, die ihm vorschwebte: eine Gesellschaft der totalen Gleichheit.

Der Weg des Blutes

Unter Mao wurde China zu einem der geopolitischen Zentren. Es war Mao, der die Welt dazu brachte, China auf der internationalen Bühne zu respektieren. Mao war es aber auch, der China durch Täuschung und Gewalt ein Regime des totalitären Militärsozialismus aufzwang und ein blutiges soziales Experiment mit Hunderten von Millionen Bürgern durchführte. Mehrere Dutzend Millionen Menschen starben an Hunger und Gewalt. Maos Verbrechen gegen die Menschlichkeit waren nicht weniger schrecklich als die von Hitler, Stalin und anderen Diktatoren des zwanzigsten Jahrhunderts.

Der spätere grosse chinesische Revolutionär und Tyrann wurde am 26. Dezember 1893 in einem Dorf namens Shaoshanchong in der südchinesischen Provinz Hunan geboren. Sein Vater war Bauer und Reishändler. Er war grob und jähzornig, aber sehr fleissig und sparsam. Seine Mutter war eine überzeugte Buddhistin und träumte davon, dass ihr Sohn Mönch werden würde. Ihre Träume waren vergeblich. Der Sohn sollte nicht dem edlen Pfad des gütigen Buddha folgen, sondern dem Weg der Revolution, des Blutes und der Gewalt.

Mao war ehrgeizig. Trotz den Protesten seines Vaters verliess der stolze und herrische junge Mann sein Zuhause und ging in die Provinzhauptstadt Changsha, wo er eine gute Ausbildung an einer pädagogischen Hochschule erhielt. Dort liess er sich von patriotischen Ideen mitreissen und beteiligte sich an der Organisation der liberal-demokratischen Studiengesellschaft des Neuen Volkes, die sich «für die Verbesserung des Lebens des Einzelnen und der gesamten menschlichen Rasse» einsetzte.

Doch der Liberalismus hatte in China einen schweren Stand. Wie konnte man in einem Land, in dem es fast keine Zivilgesellschaft gab und 97 Prozent der Menschen Analphabeten waren, von Liberalismus oder Demokratie sprechen? Zudem befand sich China in einem Zustand halbkolonialer wirtschaftlicher Abhängigkeit und einer tiefgreifenden sozioökonomischen Krise. Das Land war auch politisch zerrissen und von Kriegsherren geprägt, die Bürgerkriege führten. Es schien auf einen Mann zu warten, der, wie der amerikanische Journalist Edgar Snow es ausdrückte, «sein Volk aus dem Gestank und dem Verfall herausführen konnte».

Vorbild Stalin

In den frühen 1920er Jahren brach Mao mit dem Liberalismus und wandte sich dem Bolschewismus zu. Er war beeindruckt von Lenins Politik des proletarischen Terrors als Ausdruck unbesiegbarer Macht und eisernen Willens. Unter dem Einfluss der bolschewistischen Revolution entfachte Mao die kommunistische Bewegung in seiner Heimatprovinz. Im Juli 1921 nahm er am ersten Kongress der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) teil, einer Organisation, die damals nur gut fünfzig Mitglieder zählte.

In den 1920er Jahren bekleidete Mao eine Reihe wichtiger Positionen in der Kommunistischen Partei. Ende 1927 rief er die rebellische Sowjetbewegung in China ins Leben und war Mitorganisator der chinesischen Roten Armee auf dem Land. Er wurde bekannt als Organisator eines Guerillakampfes gegen den kommunistischen Gegner Tschiang Kai-schek und seine nationalistische Regierung, die 1928 die Macht in China ergriff.

Mao legte die Grundsätze für die Guerillataktik fest, die als Taktik des «Volkskriegs» berühmt werden sollte: «(1) Wir teilen unsere Kräfte, um die Massen aufzurütteln, und konzentrieren unsere Kräfte, um mit dem Feind fertig zu werden; (2) Der Feind rückt vor, wir ziehen uns zurück; der Feind lagert, wir bedrängen; der Feind wird müde, wir greifen an; der Feind zieht sich zurück, wir verfolgen ihn; (3) Um stabile Stützpunkte auszuweiten, wenden wir die Politik des Vormarsches in Wellen an; wenn wir von einem mächtigen Feind verfolgt werden, wenden wir die Politik des Umkreisens an; (4) Wir wecken die grösste Anzahl von Massen in der kürzestmöglichen Zeit und mit den bestmöglichen Methoden.» Diese Taktik half seinen Streitkräften, die vier Strafexpeditionen von Tschiang Kai-schek gegen sein Zentralsowjetgebiet abzuwehren.

1931 wurde Mao zum Vorsitzenden der separatistischen Chinesischen Sowjetrepublik gewählt, die einige Gebiete auf dem Land kontrollierte. Erst im Januar 1935 stieg er in die oberste Parteiführung auf, nachdem die vorherigen Führer, die während des Kampfes gegen Tschiang Kai-scheks fünfte Strafexpedition schwere Fehler gemacht hatten, diffamiert worden waren. Ausgehend von der militärischen Niederlage der Kommunisten gelang es Mao durch innerparteiliche Intrigen, die diskreditierten Führer zu besiegen und während des Rückzugs aus dem Zentralsowjetgebiet, des berühmten «Langen Marschs», seine eigene Macht in der Kommunistischen Partei zu etablieren.

Ein neuer Bürgerkrieg

Von diesem Zeitpunkt an hatte er die totale Kontrolle über die Kommunistische Partei und die Armee. Ende der dreissiger und Anfang der vierziger Jahre führte er die Partei im Krieg gegen Japan und wurde 1945 auf dem Ersten Plenum des Siebten Zentralkomitees zum Vorsitzenden gewählt. Nach dem Zweiten Weltkrieg gelang es ihm, das chinesische Festland in einem neuen Bürgerkrieg zu vereinen und das korrupte Regime von Tschiang Kai-schek zur Flucht nach Taiwan zu bewegen. Am 1. Oktober 1949 rief Mao die Volksrepublik China aus.

Während des Kampfes gegen Tschiang Kai-schek verliess sich Mao auf die Hilfe Stalins. Er betrachtete Stalin als seinen Lehrer und schloss 1950 den chinesisch-sowjetischen Vertrag über Freundschaft, Bündnis und gegenseitigen Beistand. Auf Stalins Forderung hin schickte er sogar chinesische Truppen nach Korea, um am Krieg gegen die Streitkräfte der Vereinten Nationen teilzunehmen. Die Gesamtzahl der chinesischen Opfer in diesem Krieg erreichte 900 000.

Die Sowjets unterstützten ihn auch während der Industrialisierung der Volksrepublik China in den 1950er Jahren. Doch Ende der 1950er Jahre schuf die persönliche Feindschaft zwischen Mao und Stalins Nachfolger Chruschtschow den chinesisch-sowjetischen Graben, der 1969 sogar zu bewaffneten Zusammenstössen an der Grenze führte. Als Folge davon emanzipierte Mao schliesslich sich und das chinesische Volk von der sowjetischen Vorherrschaft.

Aber war er der Mann, auf den China gewartet hatte? Hat er sein Land zu Wohlstand geführt? Tatsächlich führte Mao die chinesische Gesellschaft in eine neue Periode von «Gestank und Verfall», denn seine Innenpolitik war noch katastrophaler als die von Tschiang Kai-schek. Im Jahr 1949 fiel das chinesische Festland unter die kommunistische Diktatur. Unter den Parolen von Gleichheit und Sozialismus verhängte Mao eine beispiellose Terrorherrschaft über die Bürgerinnen und Bürger des Landes.

«Kampf um den Stahl»

Zwischen 1950 und 1952 organisierte er eine Landreform, die massenhaft Opfer forderte. Mehr als vier Millionen Grossgrundbesitzer und andere «Konterrevolutionäre» wurden getötet. Von 1955 bis 1957 stalinisierte er die Volksrepublik China gewaltsam, indem er das Privateigentum abschaffte, die Bauernschaft kollektivierte und von Intellektuellen säuberte. Hunderttausende weitere Menschen wurden unterdrückt. Um die hochentwickelten Länder wirtschaftlich zu überholen, initiierte er 1958 den lächerlichen «Grossen Sprung nach vorn», wobei er bei der Wirtschaftsplanung horrende Fehler machte.

Im Mai 1958 erklärte Mao, es sei möglich, England in der Stahlproduktion in sieben Jahren und in der Kohleproduktion in nur zwei oder drei Jahren zu überholen. Im Juni erklärte er, England werde in naher Zukunft, nämlich 1959, überholt und China werde bereits in fünf Jahren bei der Stahlverhüttung mit der UdSSR gleichziehen.

Dies bedeutete, dass die Volksrepublik 1958 ihre Stahlproduktion gegenüber 1957 auf 10,7 Millionen Tonnen verdoppeln musste. 1959 musste sie auf 20 bis 25 Millionen und 1962 auf 60 Millionen Tonnen gesteigert werden. Einige Zeit später revidierte Mao die Zahlen: Jetzt wollte er 30 Millionen Tonnen im Jahr 1959, 60 Millionen im Jahr 1960 und 80 bis 100 oder sogar 120 Millionen Tonnen im Jahr 1962, womit er die USA überholen würde. Für Mitte der 1970er Jahre rechnete Mao mit einer jährlichen Produktion von 700 Millionen Tonnen Stahl, dem Doppelten der Pro-Kopf-Produktion Englands. Der Aufschwung in der Landwirtschaft sollte nicht weniger dramatisch sein: 1958 sollte sich die Getreideproduktion auf 300 bis 350 Millionen Tonnen verdoppeln.

Im August 1958 erklärte Mao: «Die Industrie ist heute die Hauptlinie. Die ganze Partei, das ganze Volk muss die Industrie begreifen.» Ein «Kampf um den Stahl» wurde entfacht, der monströse Formen annahm. Überall, in dörflichen und städtischen Höfen, auf Sportplätzen, in Parks und auf Plätzen, wurden primitive Hochöfen errichtet. Die Menschen schleppten alles Mögliche zu diesen Öfen – Eisen- und Stahlschrott, Türklinken, Schaufeln, Haushaltsgeräte –, ohne zu wissen, dass in diesen erbärmlichen Öfen kein echter Stahl erzeugt werden konnte.

30 Millionen Hungertote

Ingenieure, die die Lage einschätzen konnten, schwiegen, und wenn sie doch Einwände erhoben, schenkte ihnen niemand Beachtung. Mao hatte Intellektuelle schon lange als störend empfunden. Alles an ihnen irritierte ihn, nicht nur ihr Wissen, über das er selbst nicht verfügte. Nach dem «Grossen Sprung» verkündete er: «Die Intellektuellen müssen sich vor dem arbeitenden Volk verbeugen. In mancher Hinsicht sind die Intellektuellen völlige Analphabeten.»

In der Folge kam es zu schwerwiegenden Ungleichgewichten in der Entwicklung der Wirtschaft. Das verursachte die grösste Hungersnot in der Geschichte Chinas. In vielen Dörfern gab es nichts mehr zu essen. Ausgemergelte Dorfbewohner zogen durch die Lande, schälten Blätter und Rinde von den Bäumen, sammelten Würmer, Käfer, Frösche, Wildpflanzen und Gräser. Vielerorts assen sie sogar mit Unkraut vermischte Erde, ein Gebräu, das «Guan Yin tu» («Göttin der barmherzigen Erde») genannt wurde.

Der Verzehr dieser Götternahrung führte zum Tod, auch wenn sie mancherorts vor dem Essen gekocht wurde. In den Städten war die Situation nicht besser als auf dem Land. Auch dort schälten die Menschen die Rinde von den Bäumen ab, pflückten Blätter, fingen Vögel und sammelten Wildgemüse und Gräser. Nicht einmal in der Hauptstadt gab es genug zu essen.

Ein Einwohner Pekings erinnerte sich später: «Es war sehr schwierig, etwas zu essen zu finden. Aber einmal gelang es einem Freund und mir, etwas Zucker zu ergattern. Wir waren überglücklich! Wir wollten ihn am liebsten auf der Stelle aufessen. Aber nachdem wir uns an den süssen Klumpen satt gesehen hatten, beschlossen wir, ihn einem Freund zu bringen. Ihm ging es so schlecht, dass er ins Krankenhaus eingeliefert worden war. Aber auch im Krankenhaus gab es kein Essen. Er war so glücklich, als wir ihm den klebrigen Zucker gaben. Aber er schaffte es nicht, ihn zu essen. Er lächelte nur und starb.»

Alte Werte zerstören

In der Hungersnot, die der «Grosse Sprung nach vorn» zwischen 1959 und 1961 auslöste, starben insgesamt nicht weniger als 30 Millionen Menschen. Einige Mitglieder der Parteiführung waren schockiert darüber und boten den Bauern eine Umverteilung von Land an, um die wirtschaftlichen Anreize zu erhöhen und die Krise zu überwinden. Doch Mao verdächtigte sie, den Kapitalismus wiederbeleben zu wollen. Er wurde wütend: «Die Bauern wollen ‹Freiheit›. Aber wir wollen den Sozialismus . . . Es gibt eine Gruppe von . . . Funktionären, die die Stimmung der Bauernschaft widerspiegeln und die den Sozialismus nicht wollen.»

Mitte der 1960er Jahre war Mao zur Überzeugung gelangt, der sozialistische Umbau der gesellschaftspolitischen Verhältnisse sei noch nicht weit genug gediehen. Trotz dem Aufbau des Sozialismus seien die Menschen träge und egoistisch geblieben. Und wenn man die Dinge schleifen liesse, könnte sogar die Kommunistische Partei degenerieren. Um den Kommunismus aufzubauen, folgerte er, müssten zuerst die alten, traditionellen Werte der chinesischen Kultur und der menschlichen Natur zerstört werden.

Um eine Restauration zu verhindern, startete er 1966 die katastrophale «Kulturrevolution». Überall, in den Provinzen wie im Zentrum, sollte gegen die Geldgier vorgegangen werden. Anstelle von materiellen wollte Mao moralische und revolutionäre Anreize setzen. Er brachte Millionen unerfahrener Jugendlicher – die Roten Garden – gegen die sogenannten «Wegbereiter des Kapitalismus» auf: Parteifunktionäre, Pädagogen und andere Intellektuelle. Eine Welle der Gewalt überschwemmte das Land in kürzester Zeit.

Die Hauptrolle in diesem blutigen Drama spielten Jugendliche, Mittelschüler und sogar Grundschüler, Kinder, die berauscht waren von der Atmosphäre der totalen Freizügigkeit. Sie stürzten sich auf die Aufgabe wie junge Wölfe, die den Geruch von Blut witterten, unwissende Fanatiker, die sich für Titanen hielten und gegen die Verhaltensnormen der «Vier Alten» rebellierten: gegen alte Denkweisen, alte Kulturen, alte Gewohnheiten und alte Sitten – und gegen die, die beschuldigt wurden, Vorreiter des Kapitalismus zu sein.

Der rote Terror

Es gab etwa dreizehn Millionen von ihnen im ganzen Land. Auf sie setzte Mao in seiner unmoralischen Wette, um das wilde Feuer der Kulturrevolution zu entfachen. Mit seinen «Direktiven», Appellen und Dazibao (Plakaten mit grossen Schriftzeichen) vergiftete er die Seelen dieser Kinder und beging das ungeheuerlichste aller Verbrechen: Was könnte krimineller sein, als junge Menschen zu instrumentalisieren, um andere Menschen zu demütigen, zu peinigen, zu foltern?

In Peking töteten die verrückten Jugendlichen im Spätsommer 1966 in nur zwei Monaten gegen zweitausend Personen, die verdächtigt wurden, kapitalistische Strassenräuber zu sein. In Schanghai kamen über tausend Menschen ums Leben. Weit mehr als die Hälfte nahm sich das Leben, weil sie die Beleidigungen der jugendlichen Rotgardisten nicht ertrugen. Polizei und Behörden griffen nicht ein. «Böse Menschen sind schliesslich böse Menschen, und wenn sie zu Tode geprügelt werden, ist das keine Tragödie», teilte der Minister für öffentliche Sicherheit, der sich strikt an die Anweisungen des «Grossen Steuermanns» hielt, seinen Untergebenen mit.

Die Jugendlichen verfolgten in erster Linie ihre Lehrer. In einigen Schulen wurden Klassenzimmer in Gefängnisse verwandelt. Dort quälten Schüler Lehrer, die sie unter dem Vorwurf der Zugehörigkeit zur «schwarzen Bande der bürgerlichen reaktionären Behörden» verhaftet hatten. Die Lehrer wurden gedemütigt, geschlagen und gefoltert, viele bis zum Tod. Eines dieser Gefängnisse befand sich direkt gegenüber dem Hauptquartier des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei, im Musikzimmer der Pekinger Mittelschule Nr. 6. An die Wand schrieben die Schüler mit dem Blut ihrer Lehrer: «Lang lebe der rote Terror.»

Ermutigt durch die Straffreiheit, die ihnen gewährt worden war, begannen die Rotgardisten der Hauptstadt und anderer Städte ab September 1966, sich im ganzen Land auszubreiten und überzogen alles mit Unglück und Terror. In ganz China veranstalteten die Rotgardisten didaktische Aufführungen, in denen die Hauptdarsteller die von ihnen verhafteten «kapitalistischen Strassenräuber» waren.

«Nieder mit ihnen!»

In Angst und Schrecken versetzte ältere Menschen wurden mit gebrochenen Armen unter dem Gejohle des Pöbels durch die Strassen geführt. Man setzte ihnen Schirmmützen auf und hängte ihnen Plakate um den Hals, auf denen stand: «Konterrevolutionäres revisionistisches Element» und «Mitglied der schwarzen Antiparteibande». Die Gesichter der Opfer wurden mit Teer oder Tinte beschmiert, ihre Kleidung zerrissen. Sie wurden gezwungen, sich vor den «revolutionären Massen» zu verbeugen und ihre «Sünden» zu beichten, bis sie erschöpft waren. Dazu schrien die Schaulustigen Verwünschungen, reckten die Fäuste in die Luft und schrien «Nieder mit ihnen!»

Alle, die als «kapitalistische Wegelagerer» verschrien waren, wurden aus ihren Positionen entlassen. Millionen von ihnen verloren ihr Leben, über hundert Millionen Menschen im ganzen Land litten Qual und Folter. Die Herzen derer, die unter dem «Roten Rad» zerquetscht wurden, waren von Angst erfüllt. Wenn diejenigen, die zu solchen Qualen verdammt waren, überlebten, blieben ihnen die düsteren Bilder dieser Tribunale für den Rest ihres Lebens in Erinnerung.

Doch Mao unterschätzte offensichtlich die menschliche Natur. Trotz aller Gewalt und Grausamkeit: Die Kulturrevolution scheiterte. Und mit ihm das utopische Projekt der Maoisten, einen neuen, idealen Bürger in einer neuen, idealen Gesellschaft zu schaffen. Das System des Kasernenkommunismus, eine strenge und reglementierte Gesellschaft, die Mao sich vorstellte, starb mit Mao. Am Ende seiner Herrschaft befanden sich 250 Millionen Chinesen, also fast dreissig Prozent, noch immer am Rand des Hungertods. In vielen Dörfern überlebten die Menschen nur durch Betteln in den nahe gelegenen Städten.

Es ist offensichtlich, dass sich Mao bei der Führung seines Staates nicht an das weise Diktum von Konfuzius gehalten hatte: «Wer einen Staat von tausend Kriegswagen regiert, der muss bei allem, was er tut, korrekt und gewissenhaft sein. Er muss masshalten können und die Menschen lieben. Seine Forderungen an das Volk dürfen nicht willkürlich sein.» Der Zusammenbruch des auf Gewalt und Grausamkeit gegründeten maoistischen Experiments war unvermeidlich.

Die Früchte der eigenen Tyrannei

Unmoralische Methoden korrumpieren nicht nur die Ziele, mit denen sie verfolgt werden: Sie verderben auch die Menschen, die sie anwenden. In seinem blutigen Kampf für den Kommunismus wurde Mao, der enthusiastische junge Intellektuelle aus der Provinz Hunan, der einst an den Liberalismus geglaubt hatte, mehr und mehr zum Opfer seiner eigenen Verblendung. Die Postulate des Kommunismus, Klassenkampf und Abrechnung sollten Angst und Schrecken verbreiten, indem sie die Menschen gegeneinander aufbrachten.

Maos Kampf gegen die innerparteiliche Opposition, gegen Klassenfeinde und «fehlgeleitete» Genossen tötete in ihm selbst den letzten Rest menschlicher Gefühle. Er kannte nur noch Feindschaft und Verdacht. Liebe, Güte, Loyalität und Vertrauen verschwanden in seinem verhärteten Herzen. Er wurde vollends zum kaltblütigen kommunistischen Despoten.

Als er am 9. September 1976 starb, war Mao ein einsamer zweiundachtzigjähriger Mann auf dem Gipfel der Macht. Von Kontakten mit anderen Menschen abgeschnitten, hatte er jahrelang in einem schlichten Gebäude im Machtzentrum Pekings verbracht, gezeichnet von einer fortschreitenden, tödlichen Nervenkrankheit. Ein kranker Kaiser, der gezwungen war, die Früchte seiner eigenen Tyrannei zu essen.

Alexander V. Pantsov ist Professor für Geschichte an der Capital University in Columbus, Ohio. In Moskau geboren, promovierte er an der Russischen Akademie der Wissenschaften. 2014 veröffentlichte er bei S. Fischer zusammen mit Steven I. Levine das Buch «Mao. Die Biographie». Übersetzung aus dem Englischen: rib.

Die schlimmsten Tyrannen der Geschichte

rib. Wladimir Putin, Kim Jong Un, Xi Jinping: Weltweit sind skrupellose Autokraten verantwortlich für Krieg, Gewalt und Angst. Um sie zu verstehen, werden Vergleiche bemüht: mit Hitler, Stalin, Mao. Aber wie sinnvoll sind solche Vergleiche? Was verbindet die Verbrecher der Gegenwart mit den Despoten der Geschichte? In den kommenden Wochen publizieren wir an dieser Stelle Texte von international renommierten Historikern, die sich mit der Frage befassen, wie Gewaltherrscher an die Macht kamen. Am 6. Juli schreibt der australische Historiker Ben Kiernan über Pol Pot.

Exit mobile version