Der ehemalige SVP-Präsident kandidiert für die Stadtregierung von Lugano. Damit ist er zu einer Bedrohung für die Lega geworden.

«Marco wer?» Als der Tessiner Ständerat Marco Chiesa 2020 Präsident der SVP Schweiz wurde, kannten ihn viele in der Deutschschweiz nicht. Doch spätestens im Herbst 2023 war sein Nachname jedem ein Begriff: Unter dem stets freundlichen Chiesa erzielte die Volkspartei bei den nationalen Wahlen das drittbeste Ergebnis ihrer Geschichte.

Jetzt fragen sich viele im Tessin: «Marco, warum?» Chiesa ist kürzlich als SVP-Präsident abgetreten und will nun in Luganos Exekutive einziehen. Gewählt wird am 14. April. In der grössten Stadt des Tessins hatte der studierte Wirtschafts- und Sozialwissenschafter 2004 seine Politkarriere als Gemeindeparlamentarier gestartet. Diese Karriere erreichte Ende 2019 ihren Höhepunkt, als er vom Nationalrat in den Ständerat wechselte und die Führung der Volkspartei übernahm.

Chiesas lokalpolitische Ambitionen sorgen in seiner Heimatstadt für Unruhe. Denn Lugano ist bekannt als Hochburg der rechtspopulistischen Lega dei Ticinesi, die dort im Jahr 1991 gegründet wurde. Die Beziehung zwischen der Lega und der Tessiner SVP-Sektion kann als eine Art Hassliebe beschrieben werden: Die beiden Rechtsparteien helfen sich gegenseitig mit Listenverbindungen bei allen möglichen Wahlen, kritisieren sich jedoch gleichzeitig bei jeder sich bietenden Gelegenheit.

Die Lega stieg im Lauf der Jahre zur zweitstärksten Kraft im Südkanton auf. Ihr Selbstverständnis als «Partei des kleinen Mannes», ihr strikter Anti-EU-Kurs und ihr Rebellentum halfen ihr dabei, aber eben auch die Unterstützung der SVP (italienisch UDC), die im Tessin ein Dasein als Kleinpartei fristete. Doch bei den kantonalen Wahlen vom letzten Frühling mauserte sich die UDC zur fünftstärksten Kraft im Tessin, auch dank Stimmen von Lega- und FDP-Sympathisanten. Die Lega stieg im Kantonsparlament auf Platz drei ab.

Damit ist Chiesas Kandidatur zur Bedrohung für die Lega geworden. Noch hat sie zusammen mit der SVP die relative Mehrheit in Luganos siebenköpfiger Exekutive. Und sie stellt mit Michele Foletti den Stadtpräsidenten. Doch der demnächst 50-jährige Chiesa hat nicht nur genügend Strahlkraft, um den Sprung in die Stadtregierung auf Anhieb zu schaffen. Er könnte auch mehr Stimmen erzielen als Foletti. Bei den nationalen Wahlen im letzten Herbst erhielt Chiesa die meisten Stimmen im Kanton, am höchsten war sein Stimmenanteil in Lugano.

Sollte Chiesa am 14. April am meisten Stimmen machen, wäre er automatisch zum Sindaco ad interim gewählt. Wenn die gewählten Exekutivmitglieder aus ihrem Kreis vier Wochen später den definitiven Stadtpräsidenten bestimmen, müsste er einen Schritt zurück machen.

Abglanz einer Volksinitiative

Chiesas Nimbus des sanften Mächtigen wird auch durch den Abglanz einer SVP-Volksinitiative genährt. Die Initiative «Prima i nostri» (Zuerst die Unsrigen) hatte zum Ziel, den Zustrom italienischer Grenzgänger einzudämmen. Als spezifische Vorzugsklausel für heimische Arbeitnehmende fand sie 2016 beim Tessiner Stimmvolk grosse Zustimmung. Allerdings wurde sie später vom Grossen Rat so stark abgeschwächt, dass sie nur noch für den Kanton und kantonsnahe Betriebe gilt.

Als Fraktionspräsident im Grossen Rat hatte Chiesa die Initiative mitkonzipiert, bevor er Ende 2015 in den Nationalrat wechselte. Er halft damit, den Grundstein zu legen für den Aufstieg der Tessiner SVP. Zudem profitieren die Partei und Chiesa von der Aura der nationalen Mutterpartei. Zusätzliche Sympathiepunkte holte sich Chiesa durch sein Engagement für Menschen mit Behinderung und seine langjährige Tätigkeit als Leiter eines Pflegezentrums.

Allerdings bleiben die Ideen der Tessiner SVP wie auch von Chiesa vage – abgesehen von der Beackerung der klassischen SVP-Dossiers. Chiesas Vorschläge für Lugano, das sich «weiterentwickeln» müsse, bleiben allgemein und vorsichtig. Und obwohl Chiesa in Bundesbern zahlreiche parlamentarische Vorstösse – auch zum Tessin – einreichte, wird er im Südkanton kaum als prägender nationaler Politiker wahrgenommen.

Foletti hingegen hat sich in den vergangenen Jahren den Ruf eines konsequenten Finanzpolitikers erworben. Seit er in der Exekutive sitzt, hat sich die Finanzlage der Stadt stabilisiert. Er schaffte es, das jährliche Defizit von 50 Millionen Franken zu beseitigen, schwarze Zahlen zu schreiben und trotzdem jährlich 60 Millionen in wichtige städtische Projekte zu investieren. Bei der Luganer Bevölkerung ist er deshalb beliebt. Allerdings gilt Foletti eher als stiller Schaffer, der nicht an die Ausstrahlung seines 2021 im Amt verstorbenen Vorgängers Marco Borradori herankommt.

Verzicht auf Ständeratssitz?

Wenn Chiesa in die Exekutive von Lugano einzieht, wird die Zeit für ihn so oder so knapp. Die Arbeit im Stöckli erfordert deutlich mehr Einsatz als jene im Nationalrat, und auch in der Luganer Stadtregierung gibt es mehr als genug zu tun. Und als Sindaco? Das ist auf dem Papier ein 60-Prozent-Pensum, aber in Wirklichkeit sind es mindestens 100 Prozent. Chiesa müsste also auf seinen geliebten Stöckli-Sitz verzichten.

Er weiss das. Offiziell will er denn auch nicht Stadtpräsident werden. Doch was, wenn er tatsächlich mehr Stimmen als Foletti holen sollte? Würde er dann den Wählerwillen missachten und zugunsten Folettis auf den Sindaco-Stuhl verzichten? Bis jetzt haben es beide Kandidaten vermieden, sich zu dieser Frage klar zu äussern. Sondiert Chiesa etwa nur das Terrain, um bei den nächsten städtischen Wahlen von 2028 Sindaco zu werden? Diese These wirkt wenig plausibel. Warum sollte ein ehemaliger Präsident der SVP Schweiz in Lugano für lange vier Jahre nur die zweite Geige spielen?

Chiesas Kandidatur kommt für die Lega zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt. Die Partei steckt in einer schweren Krise. Einzelne wichtige Vertreter der Rechtspopulisten kritisieren sich gegenseitig massiv und tragen ihre Streitereien zum Teil öffentlich aus. Ein Graben aufgetan hat sich insbesondere zwischen der alten Garde und den jüngeren Exponenten. Den Jüngeren wird vorgeworfen, sie agierten politisch zu häufig in den sozialen Netzwerken und seien weniger willens, konkret dem Allgemeinwohl zu dienen.

Diese Krise schadet dem Renommee der Lega, die Partei wirkt wie gelähmt. Die UDC tritt dagegen geschlossen auf und zeigt viel tagespolitische Präsenz. All dies könnte dem sanften SVP-Mann Marco Chiesa in die Hände spielen.

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