Samstag, Oktober 5

Gleich zwei Berichte früherer italienischer Ministerpräsidenten werfen einen besorgten Blick auf die schwächelnde EU. Besonders der Bericht von «Super-Mario» Draghi hat es in sich.

Altiero Spinelli brauchte ein Hühnchen, ja, ein Hühnchen, um seinen Bericht von der winzigen Mittelmeerinsel Ventotene ans italienische Festland zu bringen. Es war 1941, die Faschisten um Benito Mussolini hatten Spinelli und andere Regimegegner wie den späteren Staatschef Sandro Pertini auf die Insel verbannt.

Doch Spinelli liess sich nicht beirren. Zusammen mit Gesinnungsgenossen verfasste er mitten in jenen Kriegsjahren klandestin das «Manifest von Ventotene», ein Dokument, das in der Geschichte der europäischen Integration eine zentrale Rolle spielen sollte. Es gilt als eines der wesentlichen Grundlagenpapiere der heutigen EU.

Damit es trotz strengen Kontrollen überhaupt verbreitet werden konnte, bedurfte es eines Tricks. Auf Zigarettenpapier verfasst, schmuggelten Helfershelfer von Spinelli das Dokument im Bauch eines Hühnchens mit der Fähre ans Festland. Spinelli sass in Ventotene gewissermassen an der Quelle: Der Mann, der später Jean Monnet beratend zu Seite stand und EU-Kommissar wurde, vertrieb sich seine Zeit in der Verbannung mit der Arbeit auf einem Hühnerhof.

Mehr Europa

Mario Draghi und Enrico Letta haben es einfacher. Auch sie wollen, wie Spinelli, die europäische Einigung inspirieren, doch sie benötigen dafür keine abenteuerlichen Geheimoperationen. Ihre Berichte wurden von der EU offiziell angefordert, die Publikation erfolgt im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit. Jener von Letta wurde im April den EU-Staats- und Regierungschefs präsentiert, jener von Draghi wurde den Botschaftern der EU-Staaten in Brüssel und den Fraktionschefs im Europaparlament am Mittwoch vorgestellt; Anfang nächste Woche soll er publiziert werden.

Die zeitlichen Umstände könnten unterschiedlicher nicht sein. Während Europa zu Spinellis Zeiten eine Hoffnung war, ein Versprechen für eine friedliche Zukunft auf dem kriegsversehrten Kontinent, gilt es heute in weiten Kreisen als ein Bürokratie-Monster, als ein altes und müdes Gebilde, wenig geeignet, den Herausforderungen unserer Zeit zu begegnen. Längst ist Europaskepsis zum politischen Mainstream geworden, vor allem in den Gründerstaaten der EU.

Draghi und Letta sehen die Schwächen durchaus. Doch gleichzeitig setzen sie sich gegen die Resignation zur Wehr und legen dar, was zu tun wäre, um Europa und die EU aus der Krise zu befreien. Auf eine Kurzformel gebracht, sagen beide: Es braucht mehr Europa, mehr Integration, mehr Investitionen, raschere Entscheidungen, weniger Bürokratie.

Doch wer sind die beiden, die sich für berufen halten, in Altiero Spinellis Fussstapfen zu treten und Europa zu beflügeln?

Vertrauter von Jacques Delors

Enrico Letta ist ein etwas spröder Mann. Von 2013 bis 2014 war der sozialdemokratische Politiker kurzzeitig Ministerpräsident in Italien – mit einer mässigen Bilanz. Schon fast vergessen ist, dass er es war, der vor zwei Jahren als damaliger Vorsitzender des Partito Democratico (PD) den Wahlkampf gegen die heutige Regierungschefin Giorgia Meloni führte und unterlag. Gegen das politische Naturtalent hatte der zurückhaltende Letta einen schweren Stand.

Umso erfolgreicher verlief sein Leben ausserhalb der Politik. Teilweise aufgewachsen in Strassburg an der deutsch-französischen Grenze, war der Europarechtler lange Jahre Professor an der renommierten Universität Sciences Po in Paris. Seit 2016 ist er Präsident der europäischen Denkfabrik Institut Jacques Delors – womit auch seine europapolitische Verortung klar ist. Letta ist ein treuer Gefolgsmann des früheren französischen Kommissionspräsidenten Delors. Mit ihm verstand er sich blendend, mit ihm unterhielt er sich bis kurz vor dessen Tod im Dezember 2023 regelmässig. «Immer nachmittags um 16 Uhr» habe Delors ihn in seinem Pariser Appartement an der Rue Saint-Jacques zum Gespräch empfangen, schreibt Letta in seinem Buch «Viel mehr als ein Markt», das in Italien soeben als Begleitpublikation zum gleichnamigen Europa-Bericht erschienen ist.

Kein Wunder, empfiehlt Letta der EU eine beherzte Weiterentwicklung des europäischen Binnenmarktes. Im Vordergrund steht für ihn die Schaffung einer echten Kapitalmarktunion. Sie wäre, so Letta, ein wirklicher Game-Changer und würde den freien Kapital- und Zahlungsverkehr vertiefen und Hindernisse abbauen.

Originell ist sein Vorschlag zur Einführung eines «28. virtuellen Staates», den er am Mittwoch im «Corriere della Sera» noch einmal vertieft hat. Danach soll den 27 nationalen ein 28. europäisches und überall anwendbares Rechtssystem an die Seite gestellt werden, wobei es den im Binnenmarkt operierenden Unternehmen freistünde, zu wählen, welches für sie gelten soll. «Es wäre ein enormer Schritt vorwärts in Richtung Vereinfachung und Integration», schreibt Letta.

Wie weit seine Vorschläge tragen, ist unklar. Die neue EU-Kommission unter Ursula von der Leyen wird entscheiden, welche der Ideen sie übernehmen und vertiefen wird.

Klartext von Draghi

Von anderem Kaliber dürften Mario Draghis Ausführungen sein, die in Brüssel und in den europäischen Hauptstädten mit Spannung erwartet werden. Der frühere Präsident der Europäischen Zentralbank und italienische Ministerpräsident ist nach wie vor ein politisches Schwergewicht.

Anders, als er immer glauben machte, führte Draghi in letzter Zeit keineswegs ein beschauliches Rentnerleben im umbrischen Städtchen Città della Pieve, wo er einen seiner Wohnsitze hat. Vielmehr reiste er, nutzte seine hervorragenden Kontakte in aller Welt und führte zahlreiche Gespräche mit Unternehmern, Bankern und Politikern, um seinen Bericht vorzubereiten.

Nach allem, was über das 400 Seiten schwere Dokument durchgedrungen ist, redet Draghi Klartext. Ausgangspunkt dürfte die schwindende Wettbewerbsfähigkeit der EU im globalen Kontext sein, vor allem der wachsende Rückstand gegenüber den USA, der hauptsächlich im Technologiebereich und bei der Digitalisierung sichtbar ist.

Entsprechend wird Draghi für mehr Investitionen in Forschung und Entwicklung sowie in Infrastrukturen plädieren. Auch das Zauberwort der Industriepolitik, das nördlich der Alpen stets reflexartige Abwehr hervorruft, dürfte vorkommen.

Einen kleinen Vorgeschmack auf den Draghi-Bericht gab dieser Tage das Nachrichtenportal «Politico». Laut diesem äussere sich «Super-Mario» auch zur Rüstungsfrage, die mit dem Ukraine-Krieg neue Relevanz erhalten hat. Rüstungspolitik gehörte bisher nicht zu den Kompetenzen der EU. Das will Draghi ändern, unter anderem mit einem verbesserten Zugang der Industrie zu EU-Mitteln und einem Präferenzprinzip, welches sicherstellt, dass bei Rüstungsaufträgen generell europäische Unternehmen bevorzugt werden.

Es ist alles andere als eine mediterrane Diät, die Letta und Draghi den Europäern empfehlen. Vielmehr handelt es sich um deftige Kost – Gedankenfutter aus einem Land, das trotz allen Widerstände immer wieder in der Lage war, den alten Kontinent zu inspirieren. Selbst wenn es dafür eines Hühnchens bedurfte.

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