Freitag, April 25

Der Zürcher Sicherheitsdirektor blickt auf sein Jahr als Regierungspräsident zurück. Zur steigenden Ausländerkriminalität und zu den hohen Asylzahlen fordert er Klartext, keine Beschönigungen.

Herr Fehr, Ihr Jahr als Zürcher Regierungspräsident neigt sich dem Ende zu. Was bleibt in Erinnerung?

Ganz viele wertvolle Begegnungen. Drei möchte ich herausstreichen: unseren gelungenen Gastauftritt an der Olma in St. Gallen, das Sechseläuten mit dem sensationellen Gastkanton Appenzell Ausserrhoden – und die eindrückliche Solidaritätskundgebung auf dem Münsterhof nach der Hamas-Attacke auf Israel.

Seit dem Überfall vom 7. Oktober haben antisemitische Übergriffe weltweit zugenommen. In Zürich stach im März ein 15-jähriger Täter auf offener Strasse auf einen orthodoxen Juden ein. Die Behörden konnten diesen Terrorakt nicht verhindern. Mit ein paar Wochen Abstand: Sind Fehler passiert?

Nein, das glaube ich nach den bisherigen Erkenntnissen nicht. Die Kantonspolizei macht sehr viel zur Bekämpfung des islamistischen Terrors. Wir verfügen über Jugendinterventionisten in allen Bezirken, Brückenbauer gegenüber Religionsgemeinschaften und eine Sonderkommission, die alle Beteiligten im Kampf gegen den Terror zusammenführt. Der Jugendliche hat Teile seiner Kindheit in Tunesien verbracht, einem zutiefst antisemitischen Staat. Bei uns fiel er strafrechtlich nie auf. Niemand hatte ihn auf dem Radar, auch der Nachrichtendienst des Bundes nicht.

Der Täter radikalisierte sich auch im Internet. Wieso bemerkte das niemand?

Solche Täter sind weltweit vernetzt. Mit unseren heutigen Mitteln suchen wir in Online-Netzwerken und -Foren nach der sprichwörtlichen Nadel im Heuhaufen. In Zukunft könnte uns künstliche Intelligenz helfen, Muster zu erkennen, die auf eine Radikalisierung hindeuten.

Künstliche Intelligenz zur Terrorbekämpfung?

Ja, das ist eine zusätzliche Möglichkeit, die wir prüfen. Was uns fehlt, ist eine gesetzliche Handhabe für das Eindringen in geschlossene Chat-Räume. Dazu benötigen wir mehr Kompetenzen.

Und was ist mit dem Datenschutz?

Wenn es um jihadistischen Terror geht, werden wir datenschutzrechtlich zurückbuchstabieren müssen. Man kann nicht beides haben, absoluten Datenschutz und mehr Sicherheit.

Absolute Sicherheit ist mit liberalen Grundsätzen nicht vereinbar. Oder wollen Sie in einem Überwachungsstaat wie China leben?

Sicher nicht. Niemand will Zustände wie in autoritären Staaten. In einer freien Gesellschaft werden immer Verbrechen passieren. Aber wir sollten alles daransetzen, die Risiken im Terrorbereich zu minimieren.

Ist die Terrorgefahr generell gestiegen? Gerade auch durch junge Täter wie jenen von Zürich?

Ja, das ist eine Tendenz, die wir beobachten. In Frankreich gehen radikalisierte Teenager mit Messern auf Juden los. Ich fürchte, der Angriff in Zürich war nicht der letzte, den wir in Europa erlebt haben. Das erfüllt mich mit grosser Sorge. Wenn Minderheiten wie die Jüdinnen und Juden nicht mehr in Sicherheit bei uns leben können, können wir alle es auch nicht mehr.

Wenige Tage nach der Attacke von Zürich forderten Sie die Ausbürgerung des minderjährigen Täters. Würden Sie das heute wieder tun?

Selbstverständlich. Es hat mich irritiert, wie rasch eine breite Diskussion darüber einsetzte, wer die Verantwortung für diesen Terrorakt zu übernehmen hat – mit viel zu viel Verständnis für den Täter. Plötzlich sollten sein Umfeld, seine Schule, ja die gesamte Gesellschaft – wir alle – mitschuldig an der Tat gewesen sein. Das halte ich für falsch.

Ist Integration denn keine gesamtgesellschaftliche Aufgabe?

Doch, selbstverständlich. Aber nicht die Gesellschaft stach zu, sondern der Täter. Er verübte einen Mordversuch und muss mit allen rechtsstaatlich zur Verfügung stehenden Mitteln sanktioniert werden. Da er tunesisch-schweizerischer Doppelbürger ist und grosse Teile seines Lebens gar nicht hier verbracht hat, zählt auch die Ausbürgerung dazu. Wir können und müssen nicht alle Probleme der Welt bei uns lösen.

Unabhängig von der Attacke vom März nehmen Messerangriffe zu. Kürzlich stach ein 31-jähriger Marokkaner am Hauptbahnhof auf einen wehrlosen 88-jährigen Rentner ein. Was läuft schief?

Ein absolut widerlicher Angriff war das. Der Marokkaner reiste illegal ein, er war nicht im Asylprozess bei uns. Das sind die Kehrseiten eines Europa der offenen Grenzen. Solche Täter müssen wir hart bestrafen und danach sofort ausschaffen.

Wie aus der kürzlich veröffentlichten Kriminalitätsstatistik hervorgeht, werden Nordafrikaner in der Schweiz überdurchschnittlich oft straffällig. Das ist schon länger so. Warum ändert sich nichts?

Einiges ist besser geworden. Wir schaffen heute abgewiesene Nordafrikaner konsequent aus. Wir haben Rücknahmeabkommen mit den meisten Maghrebstaaten. Letztes Jahr waren es 460 Algerier, 78 Marokkaner und 55 Tunesier, die wir vom Flughafen Zürich aus zurückführten. 90 Prozent aller Rückführungen laufen über den Kanton Zürich. Ich bin zuversichtlich, dass die Probleme mit abgewiesenen Nordafrikanern in ein paar Jahren entschärft sein werden. Wir müssen hinschauen, dürfen Probleme nicht kleinreden. Die ersten Aussagen des neuen Bundesrats Beat Jans stimmen mich zuversichtlich, dass diese Erkenntnis auch auf Bundesebene angekommen ist.

Die Zahl der Straftaten lag im Kanton Zürich 2023 zum ersten Mal seit zehn Jahren wieder über 100 000. Gegenüber dem Vorjahr gab es eine Zunahme von 9 Prozent. Haben wir ein Problem?

Im europäischen Vergleich sind wir weiterhin ein sicherer Standort. Aber die schweren Delikte wie Körperverletzung und versuchte Tötung nehmen zu. Das ist inakzeptabel. Besonders erschreckend ist der Zuwachs bei der Jugendkriminalität. Viele der Täter stammen aus Kulturkreisen, in denen Gewalt und das Messer in der Tasche zum Alltag gehören. Bei uns in der Schweiz geht das nicht.

Was tun Sie dagegen?

Die Jugendkriminalität ist ein Schwerpunktthema der Kantonspolizei. Wir ziehen konsequent alle Waffen ein, die wir auf Patrouillen – etwa in der Partyszene – entdecken. Und wir haben die Prävention verstärkt. Zudem gehen wir konsequent gegen Kriminelle vor, auch wenn sie minderjährig sind. Um mehr Handhabe zu haben, trete ich für eine gezielte Verschärfung des Jugendstrafrechts bei sehr schweren Straftaten wie Vergewaltigung, schwerer Körperverletzung oder Terrorismus ein. Ich staune darüber, dass die gleichen Personen, die das ablehnen, das Wahlrecht ab 16 Jahren propagieren. Das passt nicht zusammen.

Die linken Parteien kritisieren Sie genau wegen solcher Aussagen. SP, Grüne und AL meinten kürzlich im Zürcher Stadtparlament, dass Sie rund um das Thema Ausländerkriminalität «populistische Effekthascherei» betrieben . . .

Ich bin einfach der Meinung, dass man sagen sollte, was ist. Wer sich eine eigene Kriminalstatistik basteln will, der soll das tun. Als Sicherheitsdirektor halte ich mich an die Fakten. Und ich stehe zu unserem demokratisch festgelegten Asylrecht. Wer keinen positiven Entscheid erhält, soll das Land verlassen. Wer hierbleiben darf, den integrieren wir.

Christoph Blocher empfand das Wort «Populist» nicht als Schimpfwort. Wie ist es für Sie?

Ich habe keine Mühe damit. Es ist doch gut, wenn ein demokratisch gewählter Politiker auch auf das Volk hört und Gesetze im Sinne der Bevölkerung umsetzt. Wenn das populistisch sein soll, bin ich gerne Populist.

Die linken Parteien stören sich daran, dass Sie mit Ihren Aussagen eine direkte Linie zwischen Nationalität und Kriminalität ziehen. Sie werfen alle in einen Topf.

Nein, das mache ich nicht. Die allermeisten der rund 440 000 Ausländerinnen und Ausländer, die im Kanton Zürich leben, sind gut integriert. Auch der Grossteil der Flüchtlinge ist hochanständig und ärgert sich über jene, die unser Asylrecht missbrauchen, mindestens so sehr wie ich. Aber es gibt problematische Entwicklungen, zum Beispiel bei den abgewiesenen Nordafrikanern. 90 Prozent der abgewiesenen Algerier sind Intensivtäter. Während des Arabischen Frühlings leerte Algerien seine Gefängnisse. Damit müssen wir uns nun herumschlagen. Gleiches gilt für jene Rumänen, die als Kriminaltouristen in die Schweiz kommen. Das muss man benennen.

Angesichts der steigenden Kriminalität: Kann die Kantonspolizei in ihrer heutigen Grösse die Aufgaben bewältigen?

Wir sind stark gefordert und verfügen zum Glück über hervorragende Polizistinnen und Polizisten. Aber mittelfristig wird es zusätzliche Kräfte brauchen.

Angespannt ist die Lage auch im Asylbereich. Die Zahlen steigen. Wie beurteilen Sie die Situation?

Wir befinden uns mitten in Europa und spüren die Auswirkungen der verfehlten Asylpolitik auf europäischer Ebene. Auch bei uns gibt es hausgemachte Probleme, allen voran die rund 20 000 offenen Asylgesuche, die der Bund noch nicht bearbeitet hat. Das ist eine schwierige Situation und lädt fast dazu ein, unser Asylrecht zu missbrauchen. Dieser Pendenzenberg muss rasch abgetragen werden; hier werden wir Bundesrat Jans an seinen Taten messen. Auch beim Schutzstatus S beobachten wir mehr Missbräuche, etwa durch Roma-Clans, die mit unlauteren Absichten in die Schweiz kommen.

Die SVP spricht von einem Asylchaos. Hat sie recht?

Nein, hat sie nicht. Im Vergleich zu allen umliegenden Staaten meistert die Schweiz die grossen Herausforderungen im Asylbereich zumindest ordentlich. Deutschland, Italien und Frankreich hingegen existieren asylpolitisch praktisch nicht mehr. Wir müssen aufpassen, dass wir uns nicht in diese Richtung entwickeln, sonst akzeptiert die Bevölkerung unser heutiges Asylrecht nicht mehr – was ich bedauern würde.

Ab 1. Juni müssen die Zürcher Gemeinden noch mehr Platz für Asylbewerber zur Verfügung stellen. Viele haben aber heute schon Mühe.

Das stimmt, tatsächlich stellen die hohen Zahlen die Gemeinden vor riesige Herausforderungen. Die Zürcher Gemeinden bewältigen diese allerdings nach wie vor sehr gut.

Warum bietet der Kanton nicht mehr Unterstützung an?

Wir tun, was wir können. Wir haben unsere eigenen Asylplätze verdoppelt. Beim Bund mahnen wir mehr Tempo bei den Verfahren an. Wir vollziehen Ausschaffungen. Aber ja, für die Gemeinden bleibt eine grosse Belastung.

Die linken Parteien kritisieren vor allem die Unterbringung der Asylbewerber als mangelhaft. Sie werfen Ihnen eine «Dumpingpolitik» vor. So biete der Kanton in seinen Unterkünften beispielsweise keine ausreichende soziopsychologische Unterstützung an, um Traumata zu bewältigen.

Wir haben die Anforderungen an die Unterbringungen, namentlich von minderjährigen Asylsuchenden, erst gerade erhöht. Das hat seinen Preis. Wir werden deswegen 30 Millionen Franken Mehrkosten pro Jahr haben. Diese Kritik kann ich deshalb nicht mehr nachvollziehen. Mit Hardcore-Ideologen kann keine vernünftige Asylpolitik gemacht werden. Das gilt übrigens auch für jene auf der ganz rechten Seite.

Wie entwickelt sich die Asyllage? Was ist Ihre Prognose?

Es wird auf europäischer Ebene eine konsequentere Asylpolitik brauchen. Sonst erodiert die Akzeptanz für das heutige System. Solange zu wenig passiert, werden rechtsextreme Parteien wie die AfD in Deutschland und das Rassemblement national in Frankreich weiter Zulauf erhalten.

Zurück nach Zürich. Als Sozialminister sehen Sie Ihr Selbstbestimmungsgesetz, das seit dem 1. Januar in Kraft ist, als grossen Erfolg. Menschen mit Behinderung erhalten dadurch mehr Eigenständigkeit. Sie bezeichnen das Gesetz als «modellhaft». Wieso?

Tatsächlich gilt der Kanton Zürich mittlerweile als Vorzeigekanton in Sachen Behindertengleichstellung. Es ist mir ein wichtiges Anliegen, dass alle Menschen, die an unserer Gesellschaft teilnehmen wollen, das auch können. Behinderte Menschen können neu mit Gutscheinen eigenständig bestimmen, wo und wie sie betreut werden wollen. Das erachte ich als grossen Erfolg – auch wenn der Systemwechsel mit Kosten verbunden ist.

Wir sprechen von rund 50 Millionen Franken pro Jahr. Eine ganze Stange Geld.

Ja, aber der Effekt ist gross und sehr erfreulich. Das zeigen die ersten Erfahrungen. Ich bin überzeugt, dass dieses Modell schweizweit Schule machen wird. Der Zürcher Kantonsrat hat diese Revision ohne Gegenstimme gutgeheissen.

Als Regierungspräsident waren Sie nun ein Jahr lang Primus inter Pares im Zürcher Regierungsrat und damit Dompteur von sieben Alphatierchen. Wie ist der Zustand des Gremiums?

Ich erlebe die Zusammenarbeit als gut und konstruktiv. Es hilft, dass wir uns alle seit einer Weile kennen . . .

Das kann man positiv werten. Allerdings auch negativ: Bei den letzten Wahlen kam es zu keiner Erneuerung. Sieben von sieben Bisherigen wurden bestätigt. Das Gremium wirkt nicht sonderlich frisch. Vier Mitglieder sind mittlerweile 65 Jahre alt oder älter.

Die Zürcherinnen und Zürcher hatten ja eine Auswahl, haben sich aber für das Bewährte entschieden. Die Bevölkerung hat immer recht. Ich nehme den Regierungsrat als ziemlich frisch wahr, fast schon als Hort der Vitalität. Wissen Sie, wofür «RR» steht?

«Regierungsrat»?

Ja, aber auch für «rüstige Rentner», weil wir alle ganz viel Sport treiben. Aber im Ernst, momentan diskutieren wir zum Beispiel lebhaft über die knapperen Mittel, die uns zur Verfügung stehen. Das wird uns stark beschäftigen. Wir haben zu viele Investitionen geplant und müssen jetzt gewisse zurückstellen. Das geht nicht ohne Auseinandersetzungen.

War es Ihr letztes Jahr als Regierungspräsident?

Wer weiss das schon? Das Amt hat mir viel Freude bereitet. Das nächste Mal wäre ich voraussichtlich 2027 wieder an der Reihe.

Also nach den nächsten Wahlen. Sie treten also noch einmal an?

Ob ich noch einmal kandidiere, entscheide ich 2026. Bis dann müssen Sie mich nicht mehr danach fragen.

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