Montag, September 30

Der peruanische Nobelpreisträger singt das Hohelied der Versöhnung. Die Volksmusik ist in seiner Vorstellung das Mittel, die sozialen Gräben zu überwinden.

In seiner Karriere hat sich Mario Vargas Llosa immer wieder als kritischer Beobachter der Zustände in Peru gezeigt. Er schrieb über Korruption, Elend und Gewalt und über den Riss in der Gesellschaft, der eine reiche Elite von einer bitterarmen Unterschicht trennt. Diesem Thema wendet er sich in seinem neuen Roman abermals zu. – Und weil es laut eigenem Bekunden sein letzter Roman sein wird, sucht er nach einem versöhnlichen Ausklang. Er schlägt ein Mittel vor, mit dem der Riss zu überwinden wäre: Musik.

Sein Protagonist heisst Toño Azpilcueta und gilt als bester Kenner kreolischer Musik im Land. Freilich hat er nicht viel davon: Ein Lehrstuhl an der Universität blieb ihm verwehrt, mit 50 Jahren schlägt er sich als Lehrer und Musikkritiker durch. Dann hört Toño bei einer Veranstaltung einen jungen unbekannten Musiker namens Lalo Molfino und ist hingerissen: «Es war nicht nur die Fingerfertigkeit, mit der dieser Gitarrist Töne hervorbrachte, die neu zu sein schienen. Nein, es war mehr. Es war Weisheit, Konzentration, meisterliche Beherrschung, ein Wunder.»

Toño beschliesst, ein Buch über den Virtuosen zu schreiben, in dem er nicht nur dessen Lebensweg nachzeichnen, sondern auch eine gewagte These vertreten will. Er ist überzeugt davon, dass der peruanische Walzer, der Vals, geeignet ist, um die Gesellschaft des Landes zu einen: «Man müsse nur ein wenig darüber nachdenken, dann begreife man, dass allein die Musik, der künstlerische Ausdruck die Macht habe, Mitmenschlichkeit zu wecken.»

Peruanische Eleganz

Neu ist die Vorstellung von Musik als verbindender Kraft nicht, und es wirkt ein wenig naiv, sie ins Zentrum eines Romans zu stellen. Immerhin lässt die Zeit der Handlung – wir sind in den frühen 1990er Jahren, als der «Leuchtende Pfad» Peru terrorisierte – diesbezügliche Hoffnungen verständlicher erscheinen. Während Toño also nach Spuren des – inzwischen verstorbenen – Lalo Molfino recherchiert, unterbricht Vargas Llosa den Erzählfluss immer wieder mit Auszügen aus Toños Text.

In diesen sachbuchartigen Kapiteln geht es um peruanische Musik, um den Vals als «gesellschaftliche Institution», um Interpreten und Instrumente, aber auch um Eigenheiten der peruanischen Gesellschaft. Dazu gehört auch die Vorstellung der «huachafería», was mit «Kitsch» nur unzulänglich übersetzt wird und in der Vargas Llosa einen wesentlichen Bestandteil der peruanischen Identität erkennt. «Die ‹huachafería› ist sowohl eine Weltsicht wie auch eine Ästhetik», lässt er Toño schreiben: «Sie verfälscht keine ästhetischen Muster, sie etabliert sie vielmehr, und so ist es keine lächerliche Replik von Eleganz und Raffinement, sondern eine eigene, andere, peruanische Art, verfeinert und elegant zu sein.»

Aus all dem ergibt sich ein ambitionierter Roman, der allerdings an diesen Ambitionen zu ersticken droht. Stellenweise wirkt das Ganze allzu überladen mit allem, was die peruanische Gesellschaft ausmacht oder ausmachen könnte. Die eigentliche Handlung droht dabei unterzugehen, eine Handlung, die ihre Reize hat, wenn Vargas Llosa etwa in der Person der real existierenden Sängerin Cecilia Barraza, in die Toño ebenso beharrlich wie vergeblich verliebt ist, Fakten und Fiktion verschwimmen lässt.

Grössenwahnsinniges Projekt

Richtig in Fahrt kommt die Erzählung erst am Schluss: Toños Buch wird ein Überraschungserfolg, er erhält endlich einen Lehrstuhl an der Universität, und alles könnte glücklich enden – wäre da nicht Toños Ehrgeiz: Wieder und wieder überarbeitet er seinen Text für die folgenden Auflagen, erweitert ihn bis zur Unkenntlichkeit: «Er musste ihm eine amerikanische Dimension geben, hervorheben, dass alle Konflikte auf dem Kontinent (. . .) gelöst werden könnten dank der volkstümlichen lateinamerikanischen Musik. Und was für Lateinamerika galt, galt das nicht für die ganze Welt, für die gesamte Menschheit?»

Mit dieser grössenwahnsinnigen Vorstellung wird das Buch unlesbar, Toño verliert den Lehrstuhl wieder und sieht sich als Opfer einer Verschwörung. Es sind dies die überzeugendsten Passagen des Romans. Hier verleiht Vargas Llosa seinem Charakter jene Komplexität, die man zuvor vermisste, er zeigt ihn als Besessenen, der völlig von seiner Idee vereinnahmt wird und dessen psychische Labilität – etwa seine irrationale Furcht vor Ratten – monströse Ausmasse annimmt.

Es ist ein Jammer, dass Vargas Llosas letzter Roman nicht glanzvoller ausgefallen ist. Tatsächlich aber hat der Autor mit ihm seiner in Interviews mehrmals geäusserten Grundüberzeugung Ausdruck verliehen: dass Kunst und Kultur Menschen zusammenführen können. «Mein Eindruck ist, dass Literatur und Musik mithelfen, gute Menschen zu schaffen.» Diese Haltung hat er in Romanform gegossen, und so ist «Die grosse Versuchung» zwar kein besonders herausragender Roman, aber immerhin ein sehr persönlicher Abschied des peruanischen Autors von seinem Publikum.

Mario Vargas Llosa: Die grosse Versuchung. Aus dem Spanischen von Thomas Brovot. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2024. 304 S., Fr. 35.90.

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