Siemens holt den geschassten Nestlé-Chef in den Aufsichtsrat, um spätestens 2027 Chefkontrolleur Jim Snabe zu beerben. Als Outsider sämtlicher Siemens-Geschäfte ist Schneider keine Idealbesetzung. Dennoch hat die Personalie Potenzial und sollte vorgezogen werden.
Geschätzte Leserin, geschätzter Leser
Mit dieser Personalie ist Siemens-Chefkontrolleur Jim Hagemann Snabe einmal eine faustdicke Überraschung gelungen: Der im August geschasste Nestlé-Chef Mark Schneider stellt sich auf dem Siemens-Aktionärstreffen am 13. Februar 2025 zur Wahl in den Aufsichtsrat und soll Snabe spätestens zwei Jahre später beerben.
Snabe sagte laut Siemens-Mitteilung, er plane «einen Übergang innerhalb der nächsten zwei Jahre». Schneider sei für seine Nachfolge «ein hervorragender Kandidat».
In der bei Investoren seit Monaten kursierenden Debatte um die Nachfolge an der Aufsichtsratsspitze zieht Snabe Schneider aus dem Hut wie ein Zauberer sein Kaninchen. Snabe gehört dem Gremium seit 2013 an, leitet es seit 2018. Gemäss Deutschem Corporate Governance Kodex gelten Mitglieder mit zwölf Jahren Zugehörigkeit als nicht mehr als unabhängig, womit Snabe für viele Investoren nicht mehr akzeptabel ist.
Dennoch stellt sich Snabe im Februar noch einmal für zwei Jahre zur Wahl. Im zwanzigköpfigen Gremium gibt es derzeit keinen geeigneten Nachfolger – ein gravierendes Versäumnis Snabes, gehört eine vielfältig qualifizierte Besetzung des Kontrollgremiums doch zu den Kernaufgaben eines Aufsichtsratschefs.
Dass nun ein Nachfolger gefunden wurde, ist insofern erst einmal positiv. Die Frage ist nur, ob Schneider dafür geeignet ist.
Ad-hoc-Anruf statt sorgfältiger Vorbereitung
Zunächst sticht ins Auge, dass von einer sorgfältigen Vorbereitung dieser Schlüsselpersonalie keine Rede sein kann. Sie entspringt nicht etwa einem Auswahlprozess, bei dem zunächst ein Profil erforderlicher Kompetenzen erstellt und dann entsprechend gesucht wird. Den gab es offenbar nicht. In seiner Not habe Snabe Schneider unmittelbar nach dessen Rücktritt bei Nestlé angerufen und ihm den Job angeboten, berichtet das manager magazin.
Schneider wird sich im Siemens-Aufsichtsrat in eine Riege gescheiterter CEO einreihen: Kasper Rorsted musste bei Adidas 2022 auf Druck von Investoren abtreten, als Wachstum, Marge und Börsenwert immer weiter verfielen. Siemens-Kontrolleurin Martina Merz gab den Chefjob bei Thyssenkrupp 2023 wegen chronischer Erfolgslosigkeit ab. Nach Informationen von The Market hätte Merz Snabe gerne beerbt, fand dafür aber keine Unterstützung. Siemens‘ Mitteilung zufolge verlässt sie das Gremium nun zwei Jahre vor Ablauf ihrer Wahlperiode und macht für Schneider Platz.
Gemischte Bilanz als Nestlé- und Fresenius-CEO
Als CEO weist Schneider eine gemischte Bilanz auf. Bei Nestlé wurde er nach acht Jahren geschasst, als seine anfängliche Wirkung verpufft war. Er verlor den Rückhalt von Investoren und überwarf sich mit Verwaltungsratspräsident Paul Bulcke, seinem Vorgänger. Zurückgeblieben ist ein Geschäft mit vielen Baustellen, das so langsam wächst wie seit Jahren nicht mehr, und eine deutlich gestiegene Verschuldung.
In seinem vorherigen Chefjob hatte der Deutsch-Amerikaner den Dax-Konzern Fresenius durch Akquisitionen zu einem der grössten Gesundheitskonzerne Europas aufgepumpt – ebenfalls schuldenfinanziert. Nach seinem Wechsel zu Nestlé 2017 kippte das Geschäftsmodell. Seine Nachfolger kämpfen bis heute mit dem schweren Erbe, das Schneider hinterliess.
Kaum Kompetenz bei Digitalisierung und Software
Schneiders womöglich grösstes Manko ist, dass er ausgerechnet in dem für einen Siemens-Chefkontrolleur wohl wichtigsten Kompetenzfeld Digitalisierung und Software wenig Ahnung hat. Auch mit praktisch allen anderen Siemens-Geschäften, von Niederspannungs- und Gebäudetechnik über Fabrikautomation und Antriebe bis hin zu Signaltechnik und Zügen hatte Schneider in seinem Berufsleben nie Berührung.
Das Geschäftsportfolio des Münchener Dax-Schwergewichts inklusive 75%-Beteiligung am Medizintechnikriesen Siemens Healthineers ist bis heute hoch komplex und schwer zu durchschauen. Mit seinen anerkannten hohen analytischen Fähigkeiten wird sich Schneider ein Stück weit einarbeiten können. Doch ob dies wirklich reicht, den Koloss wirksam zu kontrollieren?
Investoren werden von Schneider in erster Linie fordern, die seit CEO Roland Buschs Amtsübernahme 2021 stockende Entflechtung weiter voranzutreiben. Geht es nach ihnen, soll der Anteil an Siemens Healthineers reduziert (am besten auf Null) und Siemens Mobility abgespalten werden.
Entflechtungsfantasie könnte neu entfacht werden
Zumindest hier sehe ich aus heutiger Sicht Potenzial: Schneider gilt als Manager, der die Interessen von Eigentümern ernst nimmt. In seiner Anfangszeit bei Nestlé folgte er etwa dem Verlangen von Daniel Loebs aktivistischem Hedge Fund Third Point nach einer stärkeren Fokussierung und stiess die Wurstmarke Herta sowie das US-Süsswarengeschäft ab.
Jegliche stärkere Fokussierung von Siemens wird Schneider allerdings gegen CEO Busch sowie gegen eine in den vergangenen Jahren deutlich erstarkte Arbeitnehmerbank durchsetzen müssen, die diese einhellig ablehnen. Schneider hat bei Nestlé gezeigt, dass er die Konfrontation nicht scheut. Die Frage ist, wie viel er damit als Externer ohne Branchenerfahrung und ohne Netzwerk bei Siemens erreichen kann.
Snabe so wirkungslos wie kaum ein Aufsichtsratschef zuvor
So oder so erscheint mir die Auswechslung Snabes überfällig, nicht nur wegen seiner zwölf Jahre Zugehörigkeit. So wirkungslos wie während seiner Amtsführung war der Siemens-Aufsichtsrat wahrscheinlich noch nie.
Erst billigte Snabe jahrelang sämtliche trickreich eingefädelten Aufspaltungsschritte durch Buschs Vorgänger Joe Kaeser, um dann den Stopp der von Investoren verlangten Entflechtung durch Busch mitzutragen. Snabe ist massgeblich mitverantwortlich, dass der Siemens-Aktienkurs weiterhin unter seinem Potenzial bleibt und der Bewertungsabschlag zu Konkurrenten wie Schneider Electric und ABB so gross wie nie ist.
Andere Unternehmen verzichten schon länger lieber auf Snabes Dienste als Chefkontrolleur. Beim dänischen Reedereiriesen AP Møller Maersk schied er 2022 nach fünf Jahren aus; Maersk-Matriarchin Ane Maersk McKinney Uggla hatte entschieden, den Generationswechsel zu ihrem Sohn zwei Jahre vorzuziehen. Bei Northvolt war Mitte dieses Jahres für Snabe Schluss. Seither versinkt Europas Batteriehoffnung, mit hohen Subventionen auch aus Deutschland gepäppelt, im Chaos.
Bei Siemens herrscht nun seit Jahren strategischer Stillstand. Die Qualität des Spitzenpersonals in Vorstand und Aufsichtsrat hat – von Ausnahmen abgesehen – immer weiter nachgelassen.
Der Wechsel an der Aufsichtsratsspitze hätte die Möglichkeit einer Wende eröffnet, hätte man eine Industriekoryphäe wie den ehemaligen ABB-Chef Björn Rosengren oder Digitalisierungsexperten wie René Obermann (Ex-Telekom, Aufsichtsratschef von Airbus) oder auch Telekom-Chef Tim Höttges (Vertrag endet 2026) angeworben. Diese Chance hat Siemens vertan. Schneider ist eine Notlösung.
Zumindest hat er bei Nestlé und bei Fresenius bewiesen, dass er etwas bewegen kann – wenn auch nicht immer in die richtige Richtung. Um den Stillstand zu beenden, sollte die Stabübergabe so schnell wie möglich stattfinden, und nicht erst 2027.
Freundlich grüsst im Namen von Mrs Market
Angela Maier