Montag, November 18

Der Präsident der Konferenz der Kantonsregierungen ist überzeugt, dass die Schweiz in den Verhandlungen mit der EU ein besseres Resultat herausholt als beim geplatzten Rahmenabkommen. Man habe dieses Mal besser verhandelt, sagt er.

Herr Dieth, die Konferenz der Kantonsregierungen (KdK) hat sich mehrfach für ein Abkommen mit der EU ausgesprochen. Woher nimmt die KdK die Legitimation, in so gewichtigen Fragen im Namen der Kantone zu reden?

Bei den Mitgliedern der KdK handelt es sich ohne Ausnahme um gewählte Regierungsräte, die aufgrund von Regierungsbeschlüssen ihrer Kantone handeln. Zudem sieht die Verfassung in der Aussenpolitik eine Mitwirkung der Kantone vor und schreibt den Stellungnahmen der Kantone explizit ein besonderes Gewicht zu.

Die KdK ist also legitimiert, im Auftrag aller Kantone zu sprechen?

Ja. Eine Stellungnahme kommt zustande, wenn ihr 18 Kantonsregierungen, also zwei Drittel aller Kantonsregierungen, zustimmen. Laut Bundesgericht kann die KdK im Namen der Gesamtheit der Kantonsregierungen auftreten und eine Abstimmungsempfehlung abgeben, wenn eine durchgehende oder mehrheitlich starke Betroffenheit der Kantone vorliegt. Es ist nicht so, dass 26 besonders EU-freundliche Regierungsräte im Namen der Kantone Empfehlungen zu völkerrechtlichen Verträgen abgeben. Es handelt sich immer um Beschlüsse der Kantonsregierungen.

Man fragt sich dennoch, weshalb das Tessin und die Innerschweizer Kantone die gleiche Haltung vertreten wie die traditionell europafreundlichen Westschweizer Kantone oder Basel-Stadt.

Tatsache ist: Der Standortbestimmung zur EU-Politik haben im März 2023 alle 26 Kantonsregierungen zugestimmt. Die KdK hat sich im Februar 2024 zudem klar hinter die Verhandlungsrichtlinien des Bundesrats gestellt. 24 Kantonsregierungen waren der Meinung, der Entwurf entspreche grundsätzlich den Erwartungen und Interessen der Kantone. Nur ein Kanton war dagegen, und einer hat sich der Stimme enthalten.

Die Kantonsregierungen gehörten zu den Ersten, die Neuverhandlungen forderten, nachdem der Bundesrat die Gespräche über das Rahmenabkommen abgebrochen hatte. Wieso?

Den Anstoss gab eine Avenir-Suisse-Studie, die die Nordwestschweizer Regierungskonferenz in Auftrag gegeben hatte. Sie zeigte auf, wo das Verhältnis mit der EU nach dem Abbruch der Gespräche überall erodierte – und das Resultat war wirklich ernüchternd.

Die Nordwestschweiz vertritt traditionell die Interessen der Pharmaindustrie. Das ist die Branche, die wohl das grösste Interesse daran hat, dass ein institutionelles Abkommen mit der EU zustande kommt.

Der Aargau gehört auch zur Nordwestschweiz, und wir sind ein KMU-Kanton. Die negativen Auswirkungen des Verhandlungsabbruchs zeigten sich unter anderem bei der eingeschränkten Teilnahme am EU-Forschungsprogramm Horizon, aber auch bei der gegenseitigen Anerkennung von Konformitätsbewertungen, den sogenannten Mutual Recognition Agreements (MRA). Ein MRA garantiert, dass Zulassungsverfahren nicht mehrfach gemacht werden müssen.

Der Ausschluss aus Horizon war eine Strafaktion der EU. Wenn Ihnen Ihr Nachbar eine Scheibe einschlägt, weil Sie ihm kein Wegrecht geben wollen, würden Sie sich nicht eher wehren?

(Lacht.) Die EU hat jetzt ja der Schweiz wieder teilweise Zugang gewährt und stellt die volle Teilnahme am Horizon-Programm in Aussicht. Nach dem Beginn der Neuverhandlungen haben wir Maros Sefcovic, den EU-Vizepräsidenten, darauf hingewiesen, dass die EU bald einen Tatbeweis des Goodwills zeigen sollte.

Der Ausschluss aus Horizon war ja nicht der einzige Druckversuch.

Solche Druckversuche würden mit der Annahme des Vertragspakets enden. Wenn die Schweiz in einem Bereich kein EU-Recht übernehmen will, gibt es ein Streitschlichtungsverfahren und danach – falls die Schweiz hart bleibt – verhältnismässige Ausgleichsmassnahmen in einem per Abkommen definierten Bereich. Die EU könnte künftig also nicht mehr zu solchen willkürlichen Strafaktionen greifen.

Sind es nicht gerade die Kantone, die eine dynamische Rechtsübernahme nur schwer akzeptieren können?

Nein. Eine automatische Rechtsübernahme kommt für die Kantone nicht infrage, aber die dynamische kennen wir ja schon. Im Rahmen des Luftverkehrsabkommens übernimmt die Schweiz seit 2002 dieselben Bestimmungen, wie sie in der EU gelten, immer unter Wahrung unseres Gesetzgebungsprozesses. Vielleicht muss man auch einmal sagen, dass die Schweiz dieses Mal härter und klüger verhandelt als beim letzten Mal.

Inwiefern?

Wenn es gelingt, all das zu erreichen, was der Bundesrat in seinem Verhandlungsmandat festgelegt hat, dann hat die Schweiz sehr gut verhandelt.

Dennoch sind in der Schweiz die Gegner und Skeptiker präsenter als die Befürworter.

Ich bin sicher, dass sich das im Verlauf der nächsten Monate noch ändern wird. Viele gehen von falschen Vorstellungen aus und kennen das Verhandlungsergebnis ja noch gar nicht.

Wo zum Beispiel?

Etwas, was ich immer wieder höre, ist die Befürchtung, dass das Abkommen staatliche Subventionen für Kantonalbanken oder Gebäudeversicherungsanstalten verunmöglichen würde. Staatsbeihilferegelungen kommen nur dann zum Tragen, wenn wir ein Marktzugangsabkommen vereinbart haben. Gerade im Finanzmarkt haben wir aber kein solches Abkommen, darum gibt es auch keine Einschränkungen, und die Frage stellt sich von vornherein gar nicht.

Woher kommt denn diese Angst?

Ursprünglich schwebte der EU tatsächlich ein allgemeines Verbot staatlicher Beihilfen vor. Sie hätte den Beihilfebereich gerne selbst geregelt und überwacht. Aber das kommt nicht infrage. Die Beihilfevorgaben gelten nur sektoriell, und die Schweiz kontrolliert sich selbst. Das ist im Verhandlungsmandat übrigens auch klar deklariert. Die Kantone arbeiten hier eng mit dem Seco zusammen.

Die grössten Vorbehalte betreffen die Personenfreizügigkeit. Mittlerweile fordert sogar die FDP Zürich, dass die Wirtschaftsmigration eingedämmt werden muss.

Dass viele Angst vor der Personenfreizügigkeit haben, kann ich verstehen. Den Kantonen ist deshalb wichtig, dass die Personenfreizügigkeit auch mit den neuen Verhandlungen auf Erwerbstätige begrenzt bleibt. Damit ist keine Einwanderung in die Sozialsysteme möglich. Zudem fordern wir die Erfüllung von Integrationskriterien, den Ausschluss von Vorstrafen, das Recht auf Landesverweisungen, all das sind Ausnahmen von der Personenfreizügigkeit. Zu diesen Ausnahmen gibt es dann auch keine dynamische Rechtsübernahme. So können wir sicherstellen, dass unsere eigenen Regeln nicht verändert werden.

Aber die Rechtssituation in der EU entwickelt sich ja stetig weiter, und das wirkt sich dann wiederum dynamisch aus.

Das stimmt. Aber wenn es uns gelingt, all diese Bedingungen und Ausnahmen in den bilateralen Verträgen zu regeln, dann bildet das eigenes Recht, sui generis, also Recht, das von der dynamischen Rechtsübernahme von vornherein ausgenommen ist.

Solange sie in der Schweiz gute Arbeit finden, werden weiterhin viele Menschen aus der EU zuwandern.

Obwohl die Zuwanderung hoch ist, haben wir eine Arbeitslosigkeit von lediglich 2,5 Prozent. Ich komme aus einem grenznahen Kanton. Ohne die Fachkräfte aus der EU könnten viele Unternehmen den Betrieb gar nicht mehr aufrechterhalten. Die Wirtschaft fiele ohne ausländische Fachkräfte in ein tiefes Loch. Dasselbe gilt für das Gesundheitswesen. Die Personenfreizügigkeit ist insgesamt eine gute Sache. Es stellt sich aber die Frage, was wir tun könnten, sollten die Arbeitslosenquote und die Zuwanderung plötzlich stark steigen.

Deshalb möchte die Schweiz ja über eine Schutzklausel verhandeln. Wo stehen wir da?

Ich weiss nicht, wie weit man in den Verhandlungen ist. Aber theoretisch könnten Bern und Brüssel Kriterien definieren, die eine temporäre Einschränkung oder Aussetzung der Personenfreizügigkeit rechtfertigen. Etwa bei steigender Arbeitslosigkeit und gleichzeitig zunehmender Nettozuwanderung. Solche Modelle kennt die EU selbst ja auch. Spanien etwa konnte auch eine Schutzklausel anrufen und die Zuwanderung aus Rumänien bis Ende 2012 aussetzen, weil die wirtschaftlichen Probleme zu gross geworden waren.

Das war aber eine grosse Ausnahme unter besonderen Umständen.

Wenn wir den Einsatz einer Schutzklausel auf gewisse besondere Umstände beschränken und zeitlich begrenzen, dann sehe ich nicht ein, wieso wir das nicht auszuhandeln versuchen sollten. Die Frage ist: Zu welchem Preis?

Offenbar möchte die EU im Gegenzug für Schutzmassnahmen die Personenfreizügigkeit auf die Studierenden ausdehnen. Dann kämen allerdings die Universitäten unter Druck.

Bei den Studierenden kennen wir ja schon eine indirekte Schutzklausel. Die heute erlaubten Zulassungsbeschränkungen führen dazu, dass der Anteil an ausländischen Studierenden über alle Stufen derzeit bei rund 17 Prozent liegt. Ich gehe davon aus, dass man eine Lösung finden kann, welche eine Beschränkung auf einem ähnlichen Niveau ermöglichen würde.

Heute zahlen ausländische Studierende deutlich mehr Gebühren als Schweizer. Das wäre dann kaum mehr möglich, oder?

Ausländische Studierende würden weiterhin Gebühren zahlen, aber wohl einfach nicht mehr als die Schweizer. Mit einer Kontingentierung wäre ja eine Lenkungsabgabe überflüssig. Die Schweiz hat zudem ebenfalls ein Interesse daran, dass Schweizer Studentinnen und Studenten an ausländischen Unis nicht diskriminiert werden.

Glauben Sie wirklich, dass sich die Kritiker des Abkommens von einem Kontingent für Studenten und einer Schutzklausel, die nur im grossen Ausnahmefall anwendbar ist, überzeugen lassen?

Unser Wohlstand kommt nicht nur aus der Schweiz. Die EU ist nach wie vor unser wichtigster Handelspartner. Ich schliesse zudem nicht aus, dass auch die EU bald wieder intensiver über Schutzklauseln diskutieren wird. Wir nehmen den Deutschen und den Franzosen viele gut ausgebildete Fachkräfte weg – gerade im Bereich der Pflege. Natürlich bieten wir den umliegenden Ländern auch einiges. Aber wir brauchen wieder geregelte Beziehungen zur EU.

Sprecher der Kantone

CHM

Markus Dieth, Präsident der Konferenz der Kantonsregierungen

Der 57-jährige Anwalt führt das Departement Finanzen und Ressourcen des Kantons Aargau. Politisch gehört er der Mitte an.

Zu jedem Preis?

Nicht zu jedem Preis. Aber wenn das Resultat so ausfällt, wie im Verhandlungsmandat festgehalten, dann kommt uns die EU bei unseren Anliegen und Besonderheiten weit entgegen.

Demnach war es richtig, dass der Bundesrat die Verhandlungen 2021 abbrach?

Als der Bundesrat die Verhandlungen einseitig abbrach, war mein erster Gedanke: Das ist ja krass, die Türen einfach so zuzuschlagen. Heute muss ich sagen: Das war vielleicht nicht nur schlecht, auch weil sich uns dadurch neue Chancen eröffnet haben. Die Schweiz hat Diplomaten, die gut verhandeln können, intelligente Lösungen entwickeln und das Zeitfenster nutzen, um eine längerfristig tragfähige Vereinbarung zu schaffen.

Und was sagen Sie denen, die unser liberales System durch die Regulierungsfreude der EU gefährdet sehen?

Wenn das Verhandlungsmandat umgesetzt wird, dann findet keine Überregulierung statt.

Sind Sie zuversichtlich?

Wir müssen erst das Verhandlungsergebnis abwarten, aber grundsätzlich schon.

Und wie wollen die Kantone ihren Optimismus in die Bevölkerung tragen?

Die Verantwortung für die Aussenpolitik liegt beim Bund. Die Kantone geben lediglich Einschätzungen ab. Entscheidend wird sein, dass der Bundesrat aktiv und geschlossen auftritt, wenn er die Verhandlungen abschliesst. Er muss das Ergebnis erklären und die Falschbehauptungen widerlegen. Die grosse Kunst wird sein, das Ergebnis auf einfache Art zu erklären. Ich bin überzeugt, dass die Schweizer Bevölkerung am Schluss nüchtern abwägen und entscheiden wird. Wir haben ja noch etwas Zeit.

Und wenn es nicht gelingt, das Parlament und die Bevölkerung zu überzeugen?

Dann haben wir weiterhin keine geregelte Beziehung mit der EU und werden die Konsequenzen tragen müssen. Die bestehenden Abkommen werden rasch erodieren. Zudem gäbe es kein Stromabkommen, und die Schweiz würde nicht am Tisch sitzen, wenn wichtige Entscheidungen im Bereich Lebensmittelsicherheit oder Gesundheit getroffen würden. Das Wichtigste geht aber oft vergessen.

Was denn?

Es geht nicht um eine Momentaufnahme, sondern um eine stabile Grundlage für verbindlich geregelte Beziehungen. Schliessen wir das Abkommen ab, halten die getroffenen Vereinbarungen nicht nur fünf Jahre, nach denen wir wieder von vorne anfangen mit Verhandeln. Wir verhandeln heute über eine Grundlage, die das bilaterale Verhältnis langfristig stabilisiert und aufgrund derer wir bei Bedarf neue Abkommen schliessen und andere künden können – und das entsprechend unseren Bedürfnissen.

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