Donnerstag, August 21

1856 veröffentlichte der Autor des «Kapitals» eine scharfe Analyse der russischen Herrschaftskultur und kritisierte die europäische Russlandpolitik. In den offiziellen Werkausgaben fehlt sie bis heute.

Der Vizepräsident von Blackrock, Philipp Hildebrand, empfahl Anlegern kürzlich in der NZZ, Karl Marx zu lesen. Das war mit einem Augenzwinkern gesagt, aber nicht unernst gemeint. Für Politiker und Historiker gilt die Empfehlung erst recht. Vor allem die «Enthüllungen zur Geschichte der Diplomatie im 18. Jahrhundert» sind erstaunlich aktuell. In dieser Zusammenfassung einer 1856/57 publizierten Artikelserie interpretiert Marx die russische Herrschaftskultur als «asiatische Despotie» und kritisiert die britische Aussenpolitik gegenüber Russland nach dem verlorenen Krimkrieg.

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Als prägend für die russische Herrschaftsgeschichte sieht Marx den Einfall der Mongolen in die Fürstentümer der Kiewer Rus (1237–1240) und ihre über zweihundertjährige Herrschaft dort. Dann stieg das Fürstentum Moskau unter Zar Iwan I. zur Vormacht über dieses russische Reich auf und unterwarf die übrigen Fürsten der einstigen Kiewer Rus genauso brutal, wie es die Tataren zuvor vorgemacht hatten.

«Der blutige Sumpf mongolischer Sklaverei und nicht die rüde Herrlichkeit der Normannenzeit war die Wiege Moskaus, und das moderne Russland ist nur eine Metamorphose dieses mongolischen Moskau», beschreibt Marx das Wesen des Zarenreichs. Diese «Versklavungspolitik» habe sich bis zur Regierungszeit Peters des Grossen und bis zum modernen Russland fortgesetzt.

Vergiften und dann zuschlagen

Zar Iwan I. wird von Marx als «Mongolensklave» bezeichnet, aus heutiger Sicht ein klar rassistisches Stereotyp. Weiter charakterisiert er ihn mit den Worten, Iwan habe nicht zuschlagen können, wo er nicht vorher vergiftet habe: «Seine Politik war ebenso die Peters des Grossen und ist die des heutigen Russland, wenn auch Name, Land und Wesen der ausgenutzten feindlichen Macht gewechselt haben mögen.»

Das sind deutliche Worte. Und die Parallelität der Verhältnisse zu Putins heutiger Politik ist verblüffend. Ein weiteres Merkmal der «asiatischen Despotie» sieht Marx darin, dass die politische Herrschaft immer auch über die wirtschaftlichen Ressourcen des Staates verfügt, so wie es heute in Russland, China, Nordkorea und Iran der Fall ist.

Vor allem in den 1850er und 1860er Jahren wandte sich Marx entschieden gegen die russische Autokratie und ihre Aussenpolitik. Als sich Russland die Krise des Osmanischen Reiches zunutze machen und osmanische Gebiete auf dem Balkan und im Nahen Osten erobern wollte, standen Grossbritannien und Frankreich dem Osmanischen Reich bei. Russland erlitt eine bittere Niederlage.

Kein vorschneller Ausgleich

Im geopolitischen Ringen zwischen Russland und Grossbritannien um den Zugang nach Asien, vor allem nach Indien und China, war den Briten das schwächelnde Osmanische Reich als strategischer Ausgangspunkt zu wichtig, als dass sie die Osmanen der sicheren Niederlage hätten überlassen wollen. Kurz danach schlug Zar Alexander II. 1865 den Aufstand der Polen gegen das Zarenregime rücksichtslos nieder.

Nach den Teilungen im 18. Jahrhundert gehörte Polen nominell zu weiten Teilen zum Zarenreich und hatte sich schon mehrfach vergeblich gegen dessen Herrschaft aufgelehnt. Den milden Pariser Frieden am Ende des Krimkriegs nutzte Russland, um 1877 erneut in die Donaufürstentümer einzufallen. Gleichzeitig eroberte Russland Zentralasien. «Die Expansion folgt der Expansion», wie Friedrich Engels sarkastisch festhielt.

Diese Ereignisse machten Marx zu einem leidenschaftlichen Verfechter der polnischen Unabhängigkeit – und zu einem ebenso leidenschaftlichen Kritiker der britischen Aussenpolitik, der es in Europa vor allem um möglichst schnellen politischen und wirtschaftlichen Ausgleich mit Russland ging.

Wer ist Täter, wer ist Opfer?

Dass Westeuropa russische Expansionen in Osteuropa mit besseren Wirtschaftsbeziehungen belohnt, hat in der Geschichte der beiderseitigen Beziehungen also Tradition. Für Marx hingegen war klar: ohne unabhängiges Polen keine Freiheit in Europa. Auf einer Tagung der Arbeitergesellschaften 1865 in London kritisierte er die Appeasement-Politik der europäischen Staaten gegenüber dem russischen Expansionismus als «Verrat» an den Polen und warnte das Auditorium: «Es bleibt nur eine Alternative für Europa. Asiatischer Barbarismus unter Moskauer Führung wird es wie eine Lawine unter sich begraben, oder es muss Polen wiederaufbauen, um so zwischen sich und Asien zwanzig Millionen Helden als Schutz aufzubauen.»

Führende Sozialisten widersetzten sich Marx. Sie sprachen Polen als dem einst grössten Staat und mächtigen Königreich Osteuropas schlicht das Existenzrecht ab. Für den französischen Sozialisten Proudhon waren die Polen nach ihrem Aufstand von 1863 «zum Stolperstein der Diplomatie, des Völkerrechts und des Weltfriedens» geworden.

Der damalige Streit unter führenden Sozialisten Europas erinnert bei aller Verschiedenheit der historischen Rahmenbedingungen an den heutigen deutschen Diskurs über die Unterstützung der Ukraine. Für viele Linke ist die Ukraine das Land, das es wagt, sich seiner Auslöschung durch Putins Angriffskrieg zu widersetzen, und damit Unfrieden nach Europa bringt. Wie damals in Hinblick auf Polen vernebelt heute vielen Intellektuellen eine klassische Täter-Opfer-Umkehr die Sicht.

Der ganze Marx

Die harsche Russlandkritik von Marx ist für überzeugte Marxisten eine intellektuelle Zumutung. Es ist bezeichnend, dass die «Enthüllungen», die seine ausführlichste und wichtigste Analyse Russlands enthalten, in allen offiziellen Ausgaben der Werke von Marx und Engels fehlen. Erst 1960 ist der Text erstmals auf Deutsch erschienen. In der einschlägigen Literatur wird mit Bezug auf die russlandkritischen Texte dem «stereotypen» Marx gerne der spätere «differenzierte» Marx gegenübergestellt. Oder es wird behauptet, Marx habe mit seinem früheren «Russenhass» später radikal gebrochen.

Marxisten fixieren ihr Interesse meist auf die Wirtschaftsideologie von Marx und verkennen darüber den Historiker Marx. Wie nur wenige Historiker hat Marx die russische Herrschaftskultur so treffend wie schonungslos charakterisiert und Linien aufgezeigt, die sich bis heute in der russischen Aussenpolitik zeigen. Nicht nur Anleger sollten also Marx lesen. Angesichts ihrer nicht auf Fakten, sondern auf Hoffnungen basierenden Russlandpolitik ist auch der deutschen Linken anzuraten, Marx zu lesen. Und zwar den ganzen Marx. Nicht nur den ökonomischen Analytiker, sondern auch den weitsichtigen Historiker.

Jörg Himmelreich lehrt an der École Supérieure de Commerce de Paris (ESCP), Paris/Berlin.

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