Samstag, November 23

Auf Spaziergängen durch die Hauptstadt Omans gewährt die Dichterin Lubna al-Balushi persönliche Einblicke in eine sich verändernde Welt, in der Frauen ihre Stimmen finden.

Lubna und ich begegnen einander in einem Café in der City Center Mall, einem der älteren Einkaufszentren Maskats. Was mich augenblicklich für sie einnimmt, ist die Neugierde in ihrem Blick.

An diesem Nachmittag ist das Café in der Mall halb leer. Die Besucher schlendern über die strahlend weissen Marmorböden, die zu den Geschäften mit den internationalen Marken führen. Die Menschen, die an uns vorbeiziehen, spiegeln die Bevölkerung des Sultanats: Expats aus Indien, den Philippinen, Europa, die meisten aber sind Omaner, oft ganze Familien, die Männer in weissen Dishdashas und mit Qima, ihrer traditionellen Kopfbedeckung, das Handy locker zwischen den Fingern.

Lubna al-Balushi, wie Lubna mit ganzem Namen heisst, trägt eine rote Abaya und ein rosa Kopftuch. Sie hat eine kehlige Stimme und spricht so schnell und energiegeladen, dass man leicht übersieht, dass sie kaum grösser ist als einen Meter fünfzig.

Sie hat Wirtschaft studiert und einen MBA der University of Bedfordshire in der Tasche, war jahrelang Projektmanagerin für den lokalen Ableger eines Schweizer Unternehmens. Sie sei sogar einmal zu Besuch in der Schweiz gewesen, erzählt sie, auf Einladung jener Firma, für die sie gearbeitet habe. Auf ihrem Samsung-Smartphone zeigt sie mir Fotos vom Rheinfall und von der Gemüsebrücke in Zürich.

Weil sie die Mentalität des Unternehmens besser verstehen wollte, hatte sie in Maskat einen Deutschkurs belegt. Als die Lehrerin nach den ersten Lektionen einen Poesie-Wettbewerb lancierte, rang sie tagelang mit den fremden Worten. Danach aber habe sie nicht mehr aufgehört zu schreiben.

«Ich war fasziniert von der Harmonie zwischen Sprache und Gefühl», sagt sie. «Auf Deutsch habe ich eine pragmatische und selbstbewusste Seite meiner Stimme entdeckt, die die Emotionalität meiner arabischen ergänzt.» Sie schreibt etwa:

Ich wünsche
Die andere Seite der Welt zu erreichen
Die Brücken der Liebe in die Welt zu erweitern
den Frieden der Welt zu widmen
Und ich wünsche
Mich nicht hinter den Phantasien zu verbergen
Sondern eine Welt der Phantasie zu kreieren
Und von einer schönen Welt zu träumen

Die 41-Jährige gehört zu den wenigen Lyrikern in Oman, die in einer fremden Sprache schreiben, und sie ist wohl die Einzige, die Gedichte auf Deutsch verfasste, bevor sie sich an Verse in Arabisch wagte.

Eine Omanerin, die Brücken baut

Mehr noch: In ihrem neuen Band ist jedes ihrer Gedichte auf Arabisch, Englisch und Deutsch zu lesen. Die drei Sprachen stehen für sie auf gleicher Ebene nebeneinander. Diese Verbundenheit ist Programm: «Mit meiner Poesie will ich Brücken bauen zwischen Menschen, Ländern und Kulturen», sagt Lubna. «Ich will zeigen, dass es die Liebe ist und die Hoffnung und die eigenen Träume, die Grenzen überwinden.»

Aufgewachsen ist Lubna al-Balushi in Matrah, einem der ältesten Viertel der omanischen Hauptstadt Maskat. Immer wieder kehrt sie dorthin zurück. Unzählige Stunden habe sie im Haus ihrer Grossmutter verbracht, erzählt sie, habe durch die Fenster auf die verschachtelten Dächer des Souks geschaut und auf die Türme des Forts von Matrah, das auf einem Felssporn über dem Golf von Oman thront.

Das Fort, das von portugiesischen Eroberern erbaut worden war, markiert das östliche Ende der Corniche, die sich bis zum neu erbauten Fischmarkt am westlichen Ausläufer der Bucht zieht. Das weisse, segelartige Sonnendach des Fischmarkts ist von weitem zu sehen und bildet einen scharfen Kontrast zu den Häusern im traditionellen indischen Stil, die weiter unten an der Promenade liegen. Das Dach erstreckt sich über den 4000 Quadratmeter grossen Markt, der nebst den Verkaufsständen der Fischer auch Coffee-Shops sowie Gemüse- und Früchteläden umfasst. Er soll ein Treffpunkt sein für Einheimische und Touristen, eine Brücke schlagen zwischen der Tradition des Landes und seiner Zukunft.

Das magische Licht von Matrah

Lubna al-Balushi lädt zu einem Abendspaziergang an die Corniche ein. Sie öffnet mir ein Fenster zu sich und zu Oman, das – eingebettet zwischen den Emiraten, Saudiarabien und Jemen – zu den enigmatischsten und am wenigsten bekannten Ländern der arabischen Welt gehört.

Die Dämmerung hat bereits eingesetzt, taucht die schroff gezackten schwarzen Berge, die Matrah umringen, in goldenes Licht. Auf der Strasse entlang der Corniche herrscht Feierabendverkehr, Stossstange reiht sich an Stossstange. Trotzdem ist es überraschend still, kein Hupen ist zu hören. Sogar der Gebetsruf des Muezzins, der über die Bucht von Matrah hallt, klingt sanft, als schmiege er sich in die Landschaft. «Verstehst du, weshalb ich diesen Ort so liebe?», fragt Lubna al-Balushi. – «Die Atmosphäre ist magisch.»

Zwei Jahre nach ihren ersten Versen hatte Lubna einen Verleger für ihre Gedichte gesucht, erzählt sie, während sie mit kurzen schnellen Schritten neben mir hergeht. Doch sie fand keinen. Sie schrieb weiter, bis sie fünfzig Gedichte hatte. Diese gab sie im Eigenverlag heraus. Sie nannte ihr Buch «Schönheit des Herzens». Die Gedichte handeln von der Sehnsucht nach Liebe – im metaphysischen wie romantischen Sinn. «Das umtreibt doch alle, oder?», sagt sie und lächelt.

Lubna al-Balushi ist für mich das Gesicht einer Gesellschaft, die friedliche Koexistenz zwischen verschiedenen Völkern und Glaubensrichtungen anstrebt und gleichzeitig im Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne lebt.

Sie will wissen, wie wir es in der Schweiz haben mit der Liebe und der Ehe. Lubna selbst ist unverheiratet. Damit fällt sie in der traditionell-konservativen Gesellschaft Omans noch immer aus der Norm. Doch seit ledige Frauen jenseits der vierzig in Ländern der arabischen Welt längst keine Seltenheit mehr sind, langsam beginnt sich die Einstellung ihnen gegenüber zu verändern. Sie erfahren zunehmend Akzeptanz und Verständnis.

Ein unverheiratetes Leben in Oman

«Es ist nicht so, dass ich gegen die Ehe rebelliere», erklärt sie, «ich habe bis jetzt einfach keinen Mann gefunden, der bereit gewesen wäre, mir auf Augenhöhe zu begegnen.» Mit jedem Jahr, das vergehe, verringere sich die Auswahl an potenziellen Kandidaten. Lubna seufzt. «Die meisten Männer in meinem Alter wollen jüngere Frauen.» Übrig blieben Geschiedene oder bereits Verheiratete, die sich eine Zweit- oder Drittfrau nähmen, was im islamischen Familienrecht erlaubt ist, sofern der Mann allen Ehefrauen denselben finanziellen Standard bieten kann. «Aber das kommt für mich nicht infrage», sagt sie. «No way!»

Auf der gegenüberliegenden Strassenseite taucht das schlundartige Tor des Souks von Matrah auf, das in ein Labyrinth von Gassen und ihren Läden führt und Scharen von Menschen gleichzeitig zu verschlingen und wieder auszuspucken scheint.

Lubna al-Balushi bleibt stehen, um die Szene zu fotografieren. Sie richtet ihre Handykamera lange auf die rosa-orangen Streifen, die die untergehende Sonne an den Himmel malt. Danach nimmt sie den Faden wieder auf. «Nicht verheiratet zu sein und keine eigene Familie zu haben, bedeutet doch im Jahr 2024 nicht das Aus für das Leben einer Frau», betont sie.

«Ich habe sieben Nichten und einen Neffen, sie sind für mich wie meine eigenen Kinder.» Trotz ihren 41 Jahren wohnt sie noch immer im Haus ihrer Eltern. Für unverheiratete Frauen ziemt es sich nicht, allein zu leben.

Picknick im Park Kalbuh

Ein paar Tage später treffen wir uns erneut, diesmal zum Picknick, einer der liebsten Freizeitbeschäftigungen der Omaner.

Lubna al-Balushi hat dafür den Park Kalbuh gewählt, eine gartenähnliche Anlage am äussersten Ende der Corniche. Sie liegt am Fuss einer schroffen Gebirgskette, Spazierwege führen um Palmen und Blumenbeete herum, irgendwo liegt ein kleines Amphitheater. Lubna eilt voraus, geht einen Hügel hoch, von wo aus das Glitzern des Meeres besonders gut zu sehen ist.

Sorgfältig breitet sie ihre Picknickdecke vor einem üppigen Jasminstrauch aus. Aus ihrer Tasche holt sie Granatäpfel hervor, Dattelbiskuits und omanische Chilichips-Streifen, die auch als Beilage zu Sandwiches gegessen werden. Als Zeichen unserer Verbundenheit hat sie mir rote Rosen mitgebracht.

Auch wenn für die weibliche Bevölkerung im Oman nach wie vor konservative Normen gelten, so ist gerade die Stellung der Frau Ausdruck für den Wandel, den das Land durchlaufen hat, erklärt Lubna al-Balushi, und sie beisst herzhaft in ein Dattelbiskuit. Längst haben berufstätige Frauen in Oman das Recht auf einen 14-wöchigen bezahlten Mutterschaftsurlaub, sogar auf eine Stunde Stillzeit pro Arbeitstag während eines Jahres nach der Geburt.

Im vergangenen Jahr hob Sultan Haitham bin Tarik Al Said, der Nachfolger des verstorbenen Sultans Kabus, die Vorschrift auf, für eine binationale Ehe erst die Genehmigung des Innenministeriums einzuholen, was wiederum besonders Frauen zugutekommt. Viele omanische Männer sind mit Frauen aus Indien, Pakistan oder Marokko verheiratet, haben die Ehen aufgrund dieser Auflage aber oft nicht registriert. Ihre Frauen und Kinder lebten praktisch rechtlos im Land. Mit der Legalisierung dieser Ehen erhalten die Kinder nun automatisch die omanische Staatsbürgerschaft. Doch wird dieses neue Privileg nur Ausländerinnen zuteil, die einen Omaner heiraten. Umgekehrt gilt es nicht.

Poesie als Fenster zur Welt

Lubna al-Balushi plant ein neues Lyrikprojekt, der Arbeitstitel ist «A Room with a Heart View». Damit will sie ein Fenster öffnen zu Menschen auf der ganzen Welt, will sie mitschreiben lassen an Gedichten über Schönheit, um in einer Zeit, die erschüttert ist von Kriegen und Konflikten, die Hoffnung auf Liebe und Frieden spürbar werden zu lassen. «Wir sind blind geworden gegenüber der Schönheit der Welt, in der wir uns befinden. Ich wünsche mir, dass wir sie wieder sehen lernen.»

Lubna al-Balushi blickt auf die gezackten schwarzen Berge, die sich gegen den Himmel abheben wie Drachenrücken. Die Luft ist voller Sand, Salz und Staub, was dem Licht über Matrah einen pudrigen Schimmer verleiht – einem Licht, an das sich jeder Reisende voller Sehnsucht erinnern wird. Lubna lächelt. «Siehst du?»

Diese Reportage wurde möglich durch die Unterstützung von Let’s go Tours (www.letsgo.ch) und Oman Air (www.omanair.com).

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