Der Chef der italienischen Lega kämpft mit empfindlichen Niederlagen. Nun wirft er noch einmal alles in die Schlacht. Ist es sein Endspiel?

Er ist Vizeregierungschef, Herr über ein Riesenministerium, Kopf einer wichtigen Partei. Wo er auch hingeht, folgen ihm die Journalisten, gewähren ihm wertvolle Sendeminuten zur Prime-Time. Jeder andere Politiker seines Schlages hätte an seiner Stelle Grund zur Zufriedenheit. Doch Matteo Salvini will mehr, wollte schon immer mehr.

2019, als er und seine Lega bei der Europawahl 34 Prozent Wähleranteil machten und auf dem Zenit ihrer Beliebtheit standen, verlangte er siegestrunken «pieni poteri», Vollmachten. Er brachte das erste Kabinett von Giuseppe Conte zu Fall (dem er selbst angehörte), forderte eine Neuwahl und sah sich schon an der Spitze einer neuen Regierung in Italien.

Aus einer rechtsbürgerlich-polternden Regionalpartei im Norden des Landes hatte er eine nationale Bewegung geformt, die Türe zum Palazzo Chigi, dem Sitz des Regierungschefs in Rom, stand weit offen. Doch das Vorhaben scheiterte und endete in der totalen politischen Konfusion. Statt zur Neuwahl kam es zu einer Neugruppierung der Kräfte – und zu einer zweiten Regierung unter Conte, diesmal allerdings ohne Salvinis Lega. 2019 wurde für diesen zu einem Wendepunkt, sagt der Politologe Giovanni Orsina.

Provokationen sonder Zahl

Salvinis Ehrgeiz tat das keinen Abbruch. Auch als bei der letzten nationalen Wahl im Herbst 2022 Giorgia Meloni an ihm vorbeizog und die Lega auf gerade noch 8,8 Prozent schrumpfte, liess er sich nicht beirren. Noch immer prangt auf dem Logo seiner Partei der Zusatz: «Salvini Premier» – als habe er ernsthaft Aussichten auf das höchste Regierungsamt in Italien.

Doch davon ist Salvini weiter entfernt denn je. Es sind schwierige Tage für den «Capitano», wie sie ihn in Italien auch nennen. Die regionalen Wahlen in Sardinien und in den Abruzzen brachten der Lega katastrophale Zahlen. In den eigenen Reihen regt sich der Unmut. Umberto Bossi, der legendäre Gründer der Partei, die sich zu seinen Zeiten noch «Lega Nord» nannte, äusserte Besorgnis über den Zustand der Partei. Und aus dem Umfeld der Regionalfürsten der Lega im Veneto und in der Lombardei werden Stimmen laut, die einen Wechsel an der Parteispitze verlangen und die Lega wieder näher ans politische Zentrum führen wollen.

Salvini steht im Gegenwind, aber das stachelt ihn noch mehr an. Es vergeht kaum ein Tag, an dem er keine Provokation lanciert – zumeist an die Adresse der Koalitionspartner Fratelli d’Italia (FdI, Meloni) und Forza Italia (FI, Berlusconi-Partei). Wenn sich Regierungschefin Meloni um die Gunst von Joe Biden bemüht, lobt er demonstrativ Donald Trump und freut sich auf dessen möglichen Sieg im Rennen um das Weisse Haus; wenn die Regierung den Wahlsieg Putins in Russland als Farce bezeichnet, sagt er ungerührt, das Volk habe immer recht; wenn es um Standhaftigkeit im Ukraine-Krieg geht, gibt er den Friedensengel.

Während Meloni zu den Eskapaden ihres Vize meist schweigt, schäumt man im Aussenministerium. «Die Aussenpolitik wird immer noch von uns gemacht», replizierte Aussenminister Antonio Tajani auf Salvinis Erklärung zum Wahlausgang in Moskau.

Meloni spekuliert darauf, dass der Spuk bald vorbei ist. Und darauf, dass sie ihren Koalitionspartner bei der bevorstehenden Europawahl im Juni erneut um Längen schlägt. Bis dahin lässt sie ihn gewähren, so gut es halt geht. Möglich, dass sie danach die Zügel anzieht. Vielleicht hofft sie auch einfach, dass sich das Problem über kurz oder lang von selbst löst und Salvini sich dem Druck seiner Partei fügen muss.

Der talentierte Mister Selfini

Italien gilt zu Recht als politisches Labor: Das Land hat Silvio Berlusconi hervorgebracht, eine Art Trump «avant la lettre»; es hat mit Salvini einen der talentiertesten Populisten Europas erfunden. Dessen politisches Bauchgefühl, die Art, wie er sich auf Augenhöhe mit den Bürgern begab, der frühe und clevere Einsatz der sozialen Netzwerke machten ihn zu einer Ikone in diesem Lager. Seine Selfies an den Küsten Italiens sind legendär und trugen ihm zeitweise den Übernamen «Matteo Selfini» ein.

Auch jetzt lassen sich interessante Entwicklungen beobachten. Zwei der drei rechten Regierungsparteien des Landes – FdI und FI – geben sich aussenpolitisch verantwortungsvoll und pro-europäisch. Gemessen an den postfaschistischen Wurzeln der Fratelli oder an gewissen politischen Eskapaden des Forza-Italia-Gründers Berlusconi sind sie einen weiten Weg gegangen.

Vor allem die Entwicklung von Melonis Fratelli d’Italia ist bemerkenswert. Eine rechte, sogenannt souveränistische Partei, die in Brüssel an vorderster Front mitmischt, Allianzen pflegt und sich nicht ständig querstellt wie etwa Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban – das hat es so noch nicht gegeben. Die demonstrativ zur Schau gestellte Freundschaft Melonis mit EU-Kommissions-Präsidentin Ursula von der Leyen ist in aller Munde.

Demgegenüber bleibt Salvini in den bisherigen Mustern gefangen. Er ist der Wahlkämpfer, der er immer war. Auch in der Regierung macht er auf Opposition und hält unverbrüchlich an den früheren Erfolgsrezepten fest: gegen Brüssel, gegen gemeinsame Verteidigungsanstrengungen, gegen die Zumutungen der sogenannt «frugalen Vier» und Deutschlands, also jener EU-Staaten, die den Italienern ein Spardiktat aufzwingen wollen.

Am vergangenen Wochenende hat er einen weiteren Giftpfeil in Richtung Meloni abgeschossen. Zum zweiten Mal in Folge hat Salvini Vertreter rechtsstehender europäischer Parteien nach Italien eingeladen. Es sollte eine Art Machtdemonstration mit Blick auf die Europawahl werden. Der Aufmarsch war zwar recht bescheiden, doch immerhin meldete sich mit Marine Le Pen eine der prominentesten rechten Stimmen Europas per Video-Schaltung zu Wort. In einem mit Salvini vermutlich sorgfältig abgestimmten Statement forderte sie Meloni auf, sich mit Blick auf die Europawahl von von der Leyen zu distanzieren – ein Affront an die Adresse der Regierungschefin. Aus dem Palazzo Chigi hiess es, Meloni sei «not amused» gewesen über die Inszenierung.

Sie sehen uns nicht kommen

Salvini mag sprunghaft sein, ein Unentwegter, der nicht zur Ruhe kommt. Doch er habe einen klaren strategischen Entscheid getroffen, sagt der Politologe Orsina. Er will sich und seine Partei ganz rechts positionieren in der Hoffnung, dort die Stimmen jener Wähler zu holen, die wegen Melonis gemässigtem Kurs frustriert sind.

Das Problem ist, dass dieses Lager sehr klein sein dürfte. Meloni gibt sich zwar pragmatisch, doch gleichzeitig versteht sie es gut, Italiens Rechtsaussen-Milieu bei Laune zu halten. Wo Salvini nach Potenzial sucht, ist die Regierungschefin schon präsent. «Man sagt, dass es ein Vorteil ist, unterschätzt zu werden», erklärte Meloni anlässlich des letztjährigen Frauentages. «Sie sehen uns nicht kommen.»

Salvini, analysiert Orsina, erscheine demgegenüber wie ein Fussballspieler, der sich mit Mühe einen Penalty erkämpft hat und nun zusehen muss, wie ein Mannschaftskollege – in diesem Fall Meloni – den Strafstoss ausführt und trifft. «Die Frustration ist verständlich», sagt Orsina.

Oder, um es mit einer andern, im fussballverrückten Italien beliebten Metapher zu sagen: Salvini steht zunehmend «fuorigioco», im Abseits.

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