Schweizer Gelenke für kaputte Knie, Hüften oder Schultern: Die aufstrebende Medacta ist eine Erfolgsgeschichte. Das sollen amerikanische Zölle nicht kaputtmachen.

Seit Donald Trump mit dem Zollhammer um sich schlägt, gibt es wenige Manager, die sagen können: «Manchmal muss man Glück haben.» Francesco Siccardi sagt es. Der Chef von Medacta, einem Hersteller von Implantaten aus dem Tessin, hat analysiert, was sein Unternehmen gegen den drohenden amerikanischen Einfuhrzoll von 31 Prozent tun kann. Weil Siccardi Glück hat, ist das eine ganze Menge.

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Es steht viel auf dem Spiel. Medacta ist eine Tessiner Erfolgsgeschichte. In dem Vierteljahrhundert seit der Gründung hat das Unternehmen den Umsatz kontinuierlich gesteigert – nur im Corona-Jahr 2020 gab es einen Rückschlag. Die Implantate für Knie, Hüfte, Schulter und Wirbelsäule werden in fast siebzig Länder verkauft. Die USA sind der wichtigste Wachstumsmarkt, gross und lukrativ.

Trump hat alle überrascht

Trumps Zoll wird hart sein, wenn der vergangene Woche erklärte Aufschub von 90 Tagen ausläuft: «Niemand hat 31 Prozent Zoll erwartet, besonders nicht auf Medizintechnik. Wenn man nichts unternimmt, wäre das ein potenziell schwerer Schlag für die Schweizer Branche und auch für Medacta», sagt Siccardi.

Wenn der CEO den Blick aus der modernen Firmenzentrale in Rancate nahe Mendrisio schweifen lässt, bleibt er an einem fast fertigen Neubau hängen: Medacta baut die Produktion aus, anders ist das Wachstum der Firma nicht zu bewältigen. In Rancate und am zweiten Standort im benachbarten Castel San Pietro wird schon in drei Schichten rund um die Uhr gearbeitet. Das Unternehmen produziert nur im Tessin. 1000 Mitarbeiter beschäftigt Medacta hierzulande, weltweit sind es 1900.

Das ist ein Problem, wenn Trumps Zölle kommen. Schon der bereits geltende Basiszoll von 10 Prozent ist ärgerlich. Aber eben: Siccardi hat Glück. Anfang März kaufte Medacta in den USA zu und erwarb Parcus Medical, einen Hersteller von Implantaten für die Sportmedizin, zum Beispiel zur Reparatur von Achillessehnen. Mit 50 Mitarbeitern und einem Jahresumsatz von 16 Millionen Dollar ist Parcus zwar klein, aber die Firma besitzt ein Werk in Florida.

In diesem Werk wird derzeit nur in einer Schicht gearbeitet. «Wir können die Auslastung verdreifachen und mit einer kleinen Investition einen Teil der Produktionsschritte in Florida statt im Tessin machen», erläutert Siccardi. Zum Beispiel die Sterilisierung und das Verpacken. «Damit haben wir gute Möglichkeiten, einen erheblichen Teil der Zollkosten in recht kurzer Zeit wieder auszugleichen.»

Keine Chance, Zölle zu überwälzen

Das ist wichtig, denn die Verkaufspreise für die Implantate in den USA sind reguliert, etwa über staatliche Programme wie Medicaid, die Krankenversicherung für Amerikaner aus prekären Verhältnissen. Medacta könnte einen Zoll nicht einfach auf den Preis schlagen, sondern würde ihn voll in den eigenen Büchern spüren.

Deshalb denkt Siccardi schon weiter: Neben der im Bau befindlichen Erweiterung ist in Rancate bis 2027 noch eine weitere Expansion geplant. Doch jetzt ist eine Option, im Tessin etwas abzuwarten und zuerst mehr in den USA auszubauen. Entschieden ist noch nichts, aber Siccardi formuliert es so: «Solche Probleme muss man in eine Chance verwandeln.»

Beim Kauf von Parcus dachte er noch nicht an Trump. Die USA sind schlicht der weltweit wichtigste Markt für Orthopädie; rund die Hälfte des Branchenumsatzes fällt dort an. Nirgendwo gibt es so viele so zahlungskräftige Menschen in einem so homogenen Markt. Deshalb sei der Schritt über den grossen Teich grundsätzlich richtig, so der Chef.

Aber das Timing passt bestens: Ohne Parcus hätte es sicher sechs bis zwölf Monate gedauert, einen geeigneten Produktionsplatz in den USA zu finden. Zukäufe gehören sonst nicht zur Strategie. Zum Umsatz von 591 Millionen Euro im vergangenen Jahr – ein Plus von 16 Prozent gegenüber 2023 – ist das Unternehmen aus eigener Kraft gewachsen.

Nur ganz am Anfang standen zwei Übernahmen, nämlich als Alberto Siccardi, Francescos Vater, Medacta im Jahr 1999 ins Leben rief. Er zählte da bereits 56 Jahre – recht alt für einen Gründer. Doch kurz zuvor benötigte Siccardi ein neues Hüftgelenk, und seine Erfahrungen waren schlecht: Lange musste er unter Schmerzen auf ein Implantat warten. Die Operation war schwerwiegend, und im Anschluss lag er noch zwei Wochen im Krankenhaus.

Vom Veltlin ins Tessin

Als unzufriedener Patient entschloss sich Alberto Siccardi, mit einer eigenen Firma künstliche Gelenke zu entwickeln, die einfacher und angenehmer zu implantieren sind. Das unternehmerische Wissen besass er: Die Siccardis sind eine Unternehmerfamilie aus dem benachbarten Veltlin, einem an Graubünden angrenzenden Tal in Norditalien. Dort gehörte ihnen Bieffe Medital, ein Hersteller für Medizinbedarf.

Im Jahr 1997 verkaufte Siccardi diese Firma an den amerikanischen Pharmariesen Baxter. Doch statt sich zur Ruhe zu setzen, fing er mit dem Kapital bei Medacta neu an. Was ihm fehlte, war das Wissen über Implantate. Dazu erwarb er ein französisches Unternehmen, das an neuen Operationsmethoden forschte. Die nötige Produktion musste er aufbauen – und wählte dafür nicht Norditalien, sondern Castel San Pietro im Tessin.

Bei der Wahl des Standorts sei es nicht um Steuern gegangen, erklärt der Sohn Francesco. Bieffe Medital habe bereits eine Produktion im bündnerischen Poschiavo gehabt, daher habe der Vater Alberto die Standortunterschiede der beiden Länder gekannt. Die Bedingungen seien in der Schweiz einfach besser als in Italien, auch weil es deutlich weniger Bürokratie gebe. Die Familie war schon in den 1980er Jahren übergesiedelt; Francesco Siccardi wuchs in Lugano auf.

Medacta ist fest in Familienhand: Alle drei Kinder von Alberto Siccardi engagieren sich in der Firma; die Familie hält knapp 70 Prozent der Aktien. Der Rest wird seit 2019 an der Schweizer Börse gehandelt. Seither haben die Titel um rund 25 Prozent zugelegt und gelten als solide Anlage. Dies auch wegen des raschen Wachstums: Der Umsatz kletterte seit 2020 jährlich um durchschnittlich 18 Prozent. Das Ergebnis ist mit einem Betriebsgewinn (Ebitda) von 157 Millionen Euro ansprechend.

Die Operation ist ebenso wichtig wie das Implantat

Daniel Jelovcan beobachtet die Firma seit dem Börsengang. Der Analyst der Zürcher Kantonalbank (ZKB) sagt: «Medacta ist ein sehr innovatives Unternehmen, dem es gut gelingt, sich gegen den Druck der grossen Konkurrenten zu behaupten.» Bei den minimalinvasiven Eingriffen hätten die Tessiner einen Vorsprung – und damit besonders in den USA einen Vorteil, wo Ärzte ambulante Behandlungen aus wirtschaftlichen Gründen sehr wertschätzen. In ihren Praxen führen sie die Operationen auf eigene Rechnung aus.

Weil Alberto Siccardi als Patient so schlechte Erfahrungen machte, sollte Medacta nicht nur neue Implantate, sondern auch neue Operationstechniken entwickeln. Die künstlichen Elemente für Knie, Hüfte, Schulter oder Wirbelsäule sind bei den verschiedenen Herstellern recht ähnlich. Aber bei den Operationen gibt es grosse Unterschiede: Medacta will Implantate anbieten, die einen möglichst kleinen Eingriff erfordern und sich an die Anatomie eines Patienten anpassen lassen.

Der Aufstieg der Firma gründete auf einem neuen Verfahren für eine Hüft-OP, bei dem sich der Arzt dem Gelenk von der Vorderseite des Patienten statt von der Rückseite nähert und Muskeln zur Seite schiebt, statt sie zu durchtrennen. Das erleichtert die Genesung. Ähnliche minimalinvasive Verfahren hat Medacta unter anderem für Eingriffe an der Wirbelsäule und am Knie entwickelt.

Das Marktpotenzial ist gross. Selbst bei der Hüfte, mit einem Umsatzanteil von rund 40 Prozent knapp das grösste Segment vor Kniebehandlungen, bedienen die Tessiner erst 3 Prozent des Weltmarktes. Doch es gilt die Ärzte zu überzeugen, Implantate von Medacta zu verwenden statt solche von den wesentlich grösseren Wettbewerbern wie Zimmer Biomet, Stryker und DePuy Synthes. Dafür müssen die Ärzte nicht nur von den Vorteilen der Operationstechnik überzeugt werden, sondern auch in ihr geschult werden.

Ohne italienische Mitarbeiter geht nichts

Bei einem Rundgang durch die Produktionshallen in Rancate und Castel San Pietro zeigen sich die unterschiedlichsten Werkzeugmaschinen zum Bearbeiten von Metall. Sie fräsen, biegen, bohren und schneiden – und produzieren so nicht nur die Implantate, sondern auch die nötigen Instrumente wie Sägen, Feilen und Bolzen. Das ist typisch: Bei jedem Hersteller gehört zu jedem Implantat ein individuelles Operationsbesteck.

Die Fertigung läuft weitgehend automatisch. Doch neben fast jeder Maschine steht ein Tisch mit Mikroskop und Messgeräten. Das ist die unentbehrliche Qualitätskontrolle, und dort braucht es menschliche Hände statt Roboterarme.

Rund 80 Prozent der Angestellten pendeln täglich aus Norditalien zu den beiden Standorten im Tessin. «Dank der Nähe zur Grenze mangelt es uns nicht an Fachkräften», sagt Siccardi, der 2019 seinen Vater als Firmenchef ablöste. Für die Industrie im Südkanton sei der Zugang zu italienischen Fachkräften überlebenswichtig. Die Italiener nähmen den Schweizern keine Arbeitsplätze weg, denn die Tessiner arbeiteten oft lieber in Banken und Versicherungen statt an Maschinen, sagt der 47-Jährige. «Es gab für Medacta nie einen Grund, das Tessin zu verlassen.»

Jüngst wurde das Werksgelände in Castel San Pietro erweitert. Dort grüsst ein lebensgrosses Plastikskelett aus einem Fenster. Aber das steht nicht in der Produktion, sondern in einem Schulraum. Medacta unterhält neben dem Werk eine Kindertagesstätte, eine Vorschule und eine Primarschule, die von insgesamt mehr als 200 Kindern besucht werden. Selbst aus Italien bringen die Angestellten ihren Nachwuchs mit. Medacta ist fest mit der Region verwachsen.

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