Mittwoch, Januar 15

Angelica Moser zeigt im Olympiafinal den zweitbesten Wettkampf ihrer Karriere, springt 4,80 m und landet doch neben dem Podest. Gold gewinnt die Australierin Nina Kennedy mit 4,90.

Die Stabhochspringerin Angelica Moser verpasst an den Olympischen Spielen eine Medaille. Die Europameisterin reisst auf einer Höhe von 4,85 Meter zwei Mal und nimmt dann 4,90 in Angriff – scheitert jedoch mit dem letzten Versuch. Damit belegt die 26-jährige Zürcherin den vierten Schlussrang.

Die Leichtathletik scheint auf den ersten Blick ein simpler Sport zu sein. Wenn du gescheitert bist, musst du halt schneller laufen, höher springen, weiter werfen. Doch dieses «schneller, höher, weiter» – das ist eine ganz schön komplexe Angelegenheit. Und um es noch ein wenig komplizierter zu machen, müssen nicht nur Muskeln trainiert und Abläufe automatisiert werden, es muss auch im Kopf stimmen.

Angelica Moser hat diese Erfahrung in ihrer Karriere wiederholt gemacht. Sie war die fliegende Prinzessin, die vom Kunstturnen zum Stabhochsprung kam und im Nachwuchs in jeder Kategorie internationale Titel gewann. 2014 Olympische Jugendspiele, 2015 Junioren-EM, 2016 Junioren-WM, 2017 und 2019 U-23-EM: Gold, Gold, Gold, Gold, Gold.

In der Pandemie muss Angelica Moser ihr Leben in den Griff bekommen

Der Übergang zu den Aktiven ist selten einfach, plötzlich misst man sich mit älteren, erfahrenen Athletinnen und muss zuerst einmal seinen Platz finden. Bei Moser fiel das mit der Corona-Pandemie zusammen und mit der Pensionierung ihres langjährigen Coachs Herbert Czingon. Dass sie aber noch mit einem ganz anderen Problem kämpfte, wusste lange Zeit nicht einmal ihre Familie. Die Athletin litt an einer Essstörung.

Im Herbst 2020 sprach Moser erstmals öffentlich darüber, damals hatte sie das Problem bereits mit der Hilfe einer Therapeutin in den Griff bekommen. Sie habe heimlich Süsses gegessen und manchmal nach Wettkämpfen regelrechte Fressorgien veranstaltet. In einem Interview mit der «NZZ am Sonntag» sagte sie: «Wenn ich nichts mehr zu essen im Haus hatte, wurde ich nervös. Ich suchte, ob es noch irgendetwas hat. Ich würde schon sagen, dass das ein Anzeichen von Sucht ist.»

Essen ist im Sport ein heikles Thema, auch bei Springerinnen, denn sie müssen in ihrer Disziplin die Schwerkraft überwinden. Moser sagt, dass Gespräche über das Gewicht bei ihr falsch angekommen seien. «Manchmal ging ich danach nach Hause und hatte einen Essanfall.» Als sich die Sportlerin des Problems bewusst wurde, holte sie sich Hilfe. Nach knapp einem halben Jahr hatte sie wieder ein gesundes Essverhalten.

Das war im Herbst 2020. Damals hatte sich der Sportbetrieb trotz Pandemie wieder einigermassen normalisiert, Moser hatte in Frankreich einen neuen Trainer gefunden. Und gewann im März 2021 den ersten Titel bei den Aktiven. An den Hallen-EM in Torun flog sie mit 4,75 m höher als je zuvor. Da war sie wieder, diese einzigartige Fähigkeit, die Moser oft gezeigt hat: dann die beste Leistung abzuliefern, wenn es wirklich zählt.

Doch der Sommer danach sollte völlig neue mentale Herausforderungen bringen. Die Athletin verletzte sich in der Vorbereitung auf die Sommerspiele gleich zweimal und verpasste in Tokio den Final. Kaum war sie aus Japan zurück, brach im Training beim Einstich der Stab, Moser prallte mit dem Rücken voran in die Einstichbox.

Die Athletin landete mit multiplen Verletzungen im Oberkörper im Spital. Der NZZ erzählte sie, was die Ärztin antwortete, als Moser fragte, wann sie wieder springen könne: «Sei froh, dass du noch laufen kannst.» Die Österreicherin Kira Grünberg stürzte 2015 aus vier Metern Höhe auf die Metallumrandung des Einstichkastens, seither ist sie querschnittgelähmt.

Moser kehrte in den Sport zurück, konnte wieder springen, aber die Saison 2022 war geprägt von einem mentalen Kampf um die Selbstsicherheit und Verletzungen. Dann sagte ihr die Trainerin Nicole Büchler, sie könne aus familiären Gründen nicht mehr an internationale Wettkämpfe reisen. Die Athletin fragte Adrian Rothenbühler an. Er hatte Mujinga Kambundji 2019 zu WM-Bronze über 200 m geführt und war danach als Schweizer Trainer des Jahres ausgezeichnet worden.

Rothenbühler ist aber nicht einfach ein Sprinttrainer, sondern als ehemaliger Mehrkämpfer ein Mann, der die Leichtathletik in all ihren Facetten kennt. Vor allem ist er aber auch der führende Experte in der Schweiz für Krafttraining, er hat sein Wissen auch schon im Mountainbike oder im Schwingen eingebracht.

Nach dem EM-Titel folgt der Sprung in die Weltklasse

Rothenbühler hat zudem ein gutes Gespür für mentale Fragen. Der NZZ sagte er: «Ich habe Angelica gesagt, dass ich sie schon stärker und schneller machen könne. Wenn der mentale Unterbau fehlt, bringt das alles aber nichts.» Moser brachte sich mit der Hilfe von Fachleuten wieder ins Gleichgewicht und fand zurück zur früheren Leichtigkeit. Und damit zum Erfolg.

Im August 2023 gewann Moser Gold an den World University Games, kurz darauf flog sie an den WM in Budapest erstmals seit 2021 wieder über 4,75 m und wurde 5. In diesem Jahr begann sie schon früh, sich auf Höhen um 4,70 zu stabilisieren. Mit dem Sieg am Diamond-League-Meeting in Rabat setzte sie im Mai ein erstes Ausrufezeichen.

Und wie das so ist bei Angelica Moser: Wenn es um Medaillen geht, kitzelt sie noch etwas mehr aus sich heraus. An den EM in Rom gelang es ihr, die persönliche Bestleistung zu steigern. Mit 4,78 wurde sie Europameisterin und egalisierte den Landesrekord. Mitte Juli steigerte sie sich sogar auf 4,88.

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