Montag, Oktober 7

Der Sommer ist da. Aber wo in Zürich findet man ihn wirklich? Der Falter macht sich auf die Suche – und zwar nicht am See.

In dieser Nacht fällt der lange erwartete Sommer über Zürich her wie ein hungriges Tier. Oder dämmert er eher vor sich hin wie ein Löwenpascha? Ach, seit sich die Jahreszeiten nicht mehr an die Regeln halten, weiss niemand mehr so genau, was und wie der Sommer ist. Auf der Suche nach ihm jedenfalls flattert unser Falter an diesem Dienstagabend durch die Stadt.

Deren vielgepriesene mediterrane Seite glauben wohl die meisten am See zu finden, der doch am ehesten ans Meer erinnert. Und so können sich die Ufer kaum mehr retten vor den Massen, das Freibad Utoquai platzt auch abends aus allen Nähten: Schulter an Schulter drängt sich das Volk wie eine Schafherde in Erwartung des Wolfs.

Aber der Wolf ist in den Bergen, in die Stadt wagt er sich gewiss noch nicht vor, anders als der Sommer. Wer unbedingt Wasser braucht, um diesen zu spüren, sucht besser die Flüsse auf, etwa den Oberwasserkanal der Limmat. Schon an dessen Anfang beim Jugendkulturhaus «Dynamo» schäumt die Lebenslust über: Waghalsige springen von der Brücke, balancieren auf einem Seil über dem Wasser. An einem Stand werden Gerichte mit weltläufigen Namen wie «Fufu mit Nsala-Suppe» (Fr. 30.–) feilgeboten, wobei ein Transparent Kindern und Leuten mit Aufenthaltsbewilligung B einen Rabatt von 5 Franken verspricht.

Der Uferweg steht für die friedliche Koexistenz der Eidechsen mit Ghettoblastern, Graffiti und Gras (in Form von Magerwiesen und Marihuana) und führt zunächst zum Oberen Letten. An diesem Place to be ist Zürich wirklich ein Schmelztiegel der Kulturen, mehr jedenfalls als am Seeufer mit hoher Expat-Quote. Den herausgeputzten städtischen Verpflegungsbetrieb «Gump» lässt der Falter rechts liegen, die charmantere «Stazione Paradiso» auch. Noch vor der wunderbaren Holzbadi Unterer Letten, deren Sommerbar eine ganz eigene Magie verströmt, setzt er im Gärtchen der ihm unbekannten «Buvette» auf.

Draussen ist das ein Ort zum zwanglosen Verweilen, drinnen eine Mischung aus Brockenhaus und Eigenbau. Poster postulieren freie Wahl, vom Geschlecht bis zu Geschlechtspartnern, eine Tafel aber verbreitet eine bürgerliche Verhaltensregel: «No Shirt, no Service». Ein bisschen Ordnung muss selbst an einem Hort der Subkultur sein, das Tenue ist auch so locker, weit entfernt vom Glitter, in dem an diesem Abend ganz in der Nähe Swifties zum Konzert ihres Idols im Letzigrund pilgern.

Am Tresen erhält man einige originelle Cocktails – statt Hugo gibt’s im Dienst der Diversität Prosecco mit Quitte unter dem Namen «Quittötzel» (Fr. 9.–), eine Mischung aus Cider, Wermuth, Thymian und dem Likör Picon nennt sich «Binario 1» (Fr. 13.–). Das scheint nicht oft bestellt zu werden, denn als der Falter das tut, bricht beim jungen Personal kurz Ratlosigkeit aus. Dann gibt eine der Frauen Entwarnung, sie habe das vor einiger Zeit schon einmal gemixt, und widmet sich der Aufgabe.

Die Stadt hat das Grundstück per Gebrauchsleihvertrag einem Verein anvertraut, der sich nach dem ehemaligen Zweck des Areals «Park Platz» nennt (Autos und ihre Abstellplätze scheinen kein Feindbild linksalternativer Kreise mehr zu sein). Er führt hier einen Kulturraum und Treff ohne Subventionen, der laut Deklaration für wirklich alle Menschen da sein will, frei von Respektlosigkeit oder gar Diskriminierung.

«Wir wollen kein Ort des blinden Konsums sein», verkündet die auf den Tischchen aufgestellte Charta. Also konsumiert der Falter mit offenen Augen. Der «Binario 1» schmeckt gewöhnungsbedürftig, die dazu bestellte Caponata (Fr. 8.–) prima. Als er diese bei der Ausgabestelle in Empfang nimmt, von einem blinkenden Knopf dazu aufgefordert, will ihm die Mitarbeiterin gratis eine gemischte «Parki-Platte» im Wert von 27 Franken mitgeben, die nicht abgeholt worden sei. Er vermittelt das Angebot solidarisch an die fünf jungen Frauen am Nebentisch weiter, die schon lange vergeblich warten. Eine macht sich heisshungrig über Fischchnusperli her, ehe ihr bewusst wird, dass diese nicht vegan sind.

Mit diesem Halt in der alternativen Kulturszene beim ausrangierten Bahnhof Letten, den einst die Drogenszene beherrschte, schliesst sich der Kreis zum «Dynamo», diesem Kind der Unruhen der achtziger Jahre. Das «Park Platz»-Kollektiv klagt allerdings in Medien über Geldsorgen und schreibt auf seiner Website, auf der Suche nach neuen Formen der Trägerschaft zu sein. Auch gut, denkt sich der Falter. Wenn aus solchen Nischen bloss keine steril versnobten Ecken werden, von denen Zürich schon genug hat, zu jeder Jahreszeit.

Buvette
Park Platz
Wasserwerkstrasse 101, 8037 Zürich.
Bei schönem Wetter täglich ab 14 Uhr.

Der Nachtfalter ist stets unangemeldet und anonym unterwegs und begleicht am Ende stets die Rechnung. Sein Fokus liegt auf Bars in Zürich, mit gelegentlichen Abstechern in Städte anderer Landesteile.

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