Dienstag, August 26

Das Bode-Museum hat einen Saal eigens zur Meditation eingerichtet. Die Berliner Kunstinstitution hat das heilende Potenzial ihrer Exponate entdeckt. Kunst als Heilmittel hat aber auch ihre Grenzen.

Ein Museum ist normalerweise ein Ort des Schauens. Jetzt geht man ins Museum, um dort zu meditieren – mit geschlossenen Augen selbstverständlich. Seit neustem verfügt das bedeutende Berliner Bode-Museum über einen Raum dafür. Der neubarocke Bau an der Spitze der Museumsinsel beherbergt eine der weltweit grössten Skulpturensammlungen, darunter Highlights der Kunstgeschichte wie das Relief der Pazzi-Madonna von Donatello oder Berninis «Satyr mit Panther». Berühmt ist es auch für seine Sammlung byzantinischer Kunst. In dem eigens für Meditation hergerichteten Ausstellungssaal sind überdies Kunstwerke vereint, die den alten Meditationstraditionen von Buddhismus, Islam und Christentum entstammen.

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Die Idee des Bode-Museums trifft einen Nerv der Zeit. Meditation gehört längst zum westlichen Lifestyle. Und dass ein Museum auch gut sein kann zum Meditieren, ist gar nicht so abwegig. Als «Denkräume der Besonnenheit» erachtete der deutsche Kunsthistoriker Aby Warburg Kunstmuseen im Idealfall. In einem Museum werden Artefakte aufbewahrt und konserviert. Sie werden aus dem Leben gehoben, dem Fluss der Zeit enthoben und gleichsam zum Stillstand gebracht. Der ideale Ort also, um selber einmal innezuhalten.

Gegen Stress und Ängste

Schon vor längerem hat sich das Bode-Museum einen Namen gemacht als Ort zum Rückzug vom hektischen Alltag und als Haus der stillen Einkehr. Seit 2023 läuft hier das Projekt «Zufluchtsort Bode-Museum». Es hat die Mission, Selbstfürsorge zu fördern durch die Begegnung mit Kunst. Die Verantwortlichen des Museums erachten die Kunstgeschichte als relevant für die psychische Gesundheit der Gesellschaft. Mit dem Projekt will sich das Museum seiner sozialen Verantwortung stellen, wie es auf der Website des Hauses heisst.

Nun wurde das «Zufluchts»-Projekt unter dem Motto «Das heilende Museum» um eine zusätzliche Dimension erweitert. Denn im Bode-Museum kam man zur Überzeugung, dass Kunstmuseen insbesondere Orte emotionaler Heilung sein können. Medizinische Studien sollen zeigen, dass der Besuch von Museen der bildenden Kunst Stress und Ängste reduziert und die allgemeine psychische Gesundheit verbessert.

Wer will nicht schon festgestellt haben, dass es beglückend sein kann, Kunstwerke zu betrachten, zum Beispiel Antonio Canovas berühmte Marmorskulptur einer «Tänzerin» – ein Blickfang der Sammlung im Bode-Museum: Die Tanzende dreht sich auf einem Bein um die eigene Achse, als würde sie über dem Boden schweben. Das Werk vermittelt ein Gefühl von Leichtigkeit. Beim Anblick einer solchen Skulptur soll gemäss dem Bode-Museum die Fertigkeit gefördert werden, Achtsamkeit zu entwickeln – jene Befähigung also, die Aufmerksamkeit ganz auf den gegenwärtigen Moment zu richten.

Diese Fähigkeit wird auch durch Meditation geschult. Im Meditationsraum des Bode-Museums stehen eine Bank und Sitzkissen zur Verfügung. Eine Auswahl von Meditationsübungen kann hier kostenlos über einen Audioguide abgerufen werden.

Pause vom Alltag

Tatsächlich sind Museen immer gut für eine Pause, allein schon durch ihre alltagsentrückte Atmosphäre. Wo sonst ist es in der Regel so still wie zwischen den Bildern und Skulpturen aus vergangenen Epochen? Gesprochen wird in einem Museum meistens mit gedämpfter Stimme. Man bewegt sich überdies frei in alle Richtungen unter angenehm abgedunkelten Lichtverhältnissen. Sitzgelegenheiten gibt es auch überall, um sich auszuruhen.

Für solche Stunden eignen sich übrigens die Sammlungen besonders gut. Sie sind den überfüllten Sonderausstellungen vorzuziehen. Oft sind diese Abteilungen fast menschenleer. Hier hat man seine Ruhe und kann sich ungestörter als an irgendeinem anderen Ort auch einmal mit sich selbst über Grundsätzliches verständigen: über Gott und die Welt und all die Fragen, die Menschen seit je umtreiben. Die Voraussetzungen sind nämlich ideal: Kunstwerke werfen solche Fragen von sich aus auf – ohne fertige Antworten zu geben.

In einem Museum ist man überdies nicht einmal gezwungen, sich mit der ausgestellten Kunst auseinanderzusetzen. Man ist hier zu gar nichts verpflichtet. Und ist doch komfortabel aufgehoben. Tempel der Musen sind auch Musse-Tempel. Wo sonst kann man sich so wunderbar treiben lassen wie in einem Kunstmuseum?

Heute sind Museen längst Teil des Freizeitangebots einer urbanen, kulturaffinen Gesellschaft. Museumseintritte laufen dem Ticketverkauf von Fussballstadien und Kinos seit geraumer Zeit den Rang ab. Ins Museum geht man, um den Staub des Alltags abzuschütteln – zur Erholung, Zerstreuung und Entspannung. Die Schwellenangst vor dem Musentempel, das war gestern.

Seerosen als Seelsorge

Einst hatten die düster-eindrücklichen Gemäuer der Bildungsstätten für die Kunst etwas Ehrfurchtgebietendes. Heute sorgen immer öfter auch spektakuläre architektonische Würfe von Stararchitekten für stylische Erlebnisse in luftig transparenten Begegnungszonen. Der bürgerliche Bildungsauftrag ist der Instagram-Kultur gewichen. Picasso und Warhol geben für Selfies coole Hintergründe ab.

Man kann bei regnerischem Wetter in Museen spazieren gehen und beim Treppensteigen sogar etwas für seine Fitness tun, während man durch die Sammlung schlendernd sein visuelles Gedächtnis schult: Das muss ein Werk von Edvard Munch sein. Wo hängt nun schon wieder der Monet?

Vor Monets «Seerosen» kann es tatsächlich geschehen, dass man in einen meditationsähnlichen Zustand gerät. Jedenfalls leichter als vor Munchs «Schrei». Aber auch ein aufrüttelndes Bild kann eine positive Wirkung haben. Vielleicht appelliert es an eigene, im Verborgenen schlummernde Schreckgespenster. Oder ganz einfach an Sorgen und Probleme, die gerade in der Stille eines Museums zu Bewusstsein kommen.

10 000 Menschen sollen in Deutschland jedes Jahr Suizid begehen. «Jede Woche besucht ein Mensch das Bode-Museum, der sich noch im gleichen Jahr das Leben nehmen könnte. Was kann man tun, um das zu verhindern?», steht auf der Website. Das Bode-Museum setzt auf die Lebenserfahrung von Kunstschaffenden aus mehr als tausend Jahren, gespeichert in über zweitausend ausgestellten Kunstwerken.

Was Kunst allerdings an therapeutischer Hilfe leisten kann, könnte vom Bode-Museum auch arg überschätzt sein. Wer in seinen Problemen versinkt, geht wohl kaum mehr ins Museum – und sollte auch professionelle Hilfe anderswo aufsuchen: Kuratoren sind keine Therapeuten.

Gleichwohl berichten die Kuratoren des Hauses auf der Website in kurzen Interviews von Bildern, Skulpturen und Artefakten, die sie selbst in eigenen Lebenskrisen begleitet haben. Das Lieblingskunstwerk etwa von María López-Fanjul, Kuratorin für italienische und spanische Kunst am Bode-Museum, ist eine spanische Büste Marias, die in Sevilla im 17. Jahrhundert geschaffen wurde. Es ist eine weinende Mater Dolorosa – eine Darstellung der schmerzensreichen Mutter. Der Zweck solcher religiöser Werke sei es gewesen, mit den Gläubigen direkt zu kommunizieren, erklärt die Kuratorin.

María López-Fanjul stammt selber aus Spanien, wo die christliche Muttergottes auch heute noch omnipräsent ist. Die Kuratorin schätzt dieses Kunstwerk wie eine gute alte Freundin, weil es ihr Trost spendet und ihr ein Gefühl von Heimat gibt, wann immer sie Heimweh empfindet.

Viele Kunstwerke sprechen ihre Betrachter direkt an – auch solche der Moderne. Es ist bekannt, dass Menschen vor den Gemälden von Mark Rothko weinten. Die abstrakten Bilder des Amerikaners richten sich an eine ausgesprochen sinnlich-körperliche Erfahrung. Der Künstler gab selbst Anweisungen, um diese Wirkung zu erzielen. Ihm gemäss sollten seine Bilder einzeln gezeigt werden, in einem stillen Meditationsraum. In seiner Rothko-Kapelle in Houston, Texas, wurde sein Traum vom idealen Raum für seine Kunst schliesslich Wirklichkeit. Womöglich wollte Rothko auch Reizüberflutung durch seine Werke vermeiden, wohlwissend, dass, wenn man vor ihnen weinen muss, das auch zu viel des Guten werden könnte.

Ein Kunstwerk kann aber durchaus ein stilles Gegenüber sein, das unaufdringlich zu einem Dialog einlädt. Ob und wie lange man sich mit ihm auseinandersetzen will, steht einem jedenfalls frei. Darin verheisst das Museum eine Freiheit, bei der unverhofft die eine oder andere Inspiration oder Erkenntnis herausspringen kann.

Einen geistvollen Raum der Distanz zur Welt draussen zu schaffen, darin besteht heute eine der wertvollsten Aufgaben eines Kunstmuseums. Und wenn nun im Museum auch meditiert werden darf, warum nicht? Dann aber doch eher mit offenen als mit geschlossenen Augen.

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