Längst nicht alle Russen seien glühende Anhänger Putins, erklärt Lew Gudkow im Interview. Doch der Staatschef habe sein Land fest im Griff. Er habe die Russen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion aufgerichtet, indoktriniert und ihnen einen grossen Feind gegeben, den Westen.
Lew Gudkow ist einer der bekanntesten Soziologen Russlands und Leiter des Meinungsforschungsinstituts Lewada-Zentrum. Es ist das landesweit grösste mit rund 35 Mitarbeitern in Moskau und ständigen vertraglichen Beziehungen zu knapp 100 unabhängigen regionalen Organisationen, die Umfragen für das Zentrum durchführen. Jede dieser Organisationen verfügt über einen eigenen Stab von 30 bis 50 Interviewern.
Gudkow ist ein scharfer Kritiker Putins, dessen Weg in die repressive Autokratie er seit Jahrzehnten sorgfältig dokumentiert. Seine Schrift «Der ‹Führer der Nation›, Putin und das Kollektivbewusstsein in Russland», erschienen in der Zeitschrift «Osteuropa», ist eine der herausragenden Analysen des Putinismus. «Osteuropa» wird herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde, einem Verbund führender Osteuropa-Fachleute. Im Sommer wurde die Gesellschaft vom russischen Justizministerium zur «extremistischen Organisation» erklärt. Damit laufen russische Mitarbeiter von «Osteuropa» Gefahr, strafrechtlich verfolgt zu werden.
Herr Gudkow, das Lewada-Zentrum ist in Russland ein «ausländischer Agent». Sie werden als Leiter des Meinungsforschungsinstituts beschuldigt, im Sold der Amerikaner zu stehen – warum dürfen Sie überhaupt noch arbeiten?
Vorderhand gibt es in Russland noch immer eine klare Mehrheit für Putin, und wir demonstrieren das. Für ihn ist das vorteilhaft, umso mehr, als er darauf hinweisen kann, dass wir tatsächlich unabhängig sind und nicht auf seiner Seite stehen. Die Macht sieht in uns keine Gefahr und hat sogar die Möglichkeit sich zu brüsten: «Schaut her, wir zensieren nicht.»
Aber angenommen, Sie stellen eines Tages fest, dass die Russen ihren Führer nicht mehr mögen? Was dann?
Schwer zu sagen. Es wird auf das Ausmass des Popularitätsverlustes ankommen. Wir haben grosse Varianz in unseren Umfragen, das erstaunt gewisse unserer Kritiker. Nach den Massenprotesten 2011/12 fiel Putins Rating 2013 auf einen Tiefpunkt. 47 Prozent der Befragten wollten keine neue Amtszeit Putins. Wir dokumentierten das, die Macht reagierte relativ gelassen. Ein Staatsanwalt sagte mir damals: «Machen Sie sich keine Sorgen, wir arbeiten an der Ukraine.» 2016 wurde das Lewada-Zentrum dennoch zum «ausländischen Agenten» erklärt. Und nach der Annexion der Krim war Putin wieder der Held. 63 Prozent wollten ihn 2016 weiterhin als Staatschef.
Putin ist nun, zählen wir die Intermezzi als Regierungschef dazu, ein Vierteljahrhundert im Amt und Russlands starker Mann. Die Jungen kennen nur ihn. Wie hat sich in dieser Zeit der Blick der Russen auf ihn verändert?
Es ist eine lange Evolution. 1999 kamen die Russen aus einer tiefen ökonomischen und ideellen Krise. Jelzins Ära war gekennzeichnet vom Trauma des Untergangs der Sowjetunion und beispiellosem Chaos. Putin hatte darauf eine Antwort. Unmittelbar nach seiner Amtseinsetzung begann er den zweiten Tschetschenienkrieg und wurde damit sofort populär. Russland war endlich wieder eine Siegernation. Aber der Aufstieg war holprig. Als das U-Boot «Kursk» sank, tauchten mit ihm zwischendurch auch Putins Umfragewerte.
Welchen Einfluss hatte der Ölpreis, der in der ersten Dekade des neuen Jahrhunderts kräftig stieg?
Russland wurde reicher und Putin populärer. Ebenso wichtig aber war, dass er auf Konfrontationskurs mit dem Westen ging. Die «farbigen Revolutionen» in Georgien, der Ukraine und Kirgistan lösten eine Art Panik aus, in der Machtelite mehr als im Volk. Putin beschuldigte den Westen, er dränge anderen Kulturen seine Werte auf und zeige keinen Respekt für die Grösse und Einmaligkeit Russlands. Das ist im Grunde der Vorwurf der Kolonialisten der Schwellenländer. Er half ihm.
Die Selbstdarstellung der russischen Elite ist an Primitivität oft nicht zu überbieten. Man lacht im Staatsfernsehen herzlich über die supponierte nukleare Zerstörung Londons. Löst das keine Aversionen aus?
Es gibt unvereinbare Widersprüche. Auf der einen Seite verteidigt Putin die nationalen Interessen, verkörpert den Staat und den Stolz Russlands, das wird honoriert. Gleichzeitig sehen die Menschen den Staat und seine Politiker noch immer illusionslos als restlos korruptes Gebilde. Deshalb erwarten sie von Politikern auch nicht, dass sie sich anständig verhalten. Zynismus prägt den russischen Alltag.
Trotz dem verordneten patriotischen Dauerjubel weiss jeder Russe um die Gewalt im Krieg und in der Gesellschaft. Dissidenten werden ermordet oder verschwinden, man denke an Anna Politkowskaja, Alexei Nawalny, Boris Nemzow und hundert andere. Das muss doch Argwohn wecken?
Die Menschen wissen wenig, viele fast nichts. Es gibt kaum noch unabhängige Medien, von den staatlichen und staatsnahen Medien erfährt man wenig. Das Regime schürt den Hass auf Dissidenten, viele Bürger folgen der Vorgabe und verabscheuen Personen wie Alexei Nawalny. Man hofft zwar, dass Putin seine Versprechen erfüllen möge, aber viel Hoffnung gibt es nicht. In den frühen neunziger Jahren gab es Chaos, aber da sah man auch die Möglichkeit, dass sich Russland ändert. Sie ist enttäuscht worden.
Russland ist heute ein repressiver, totalitärer Staat. Das Antidot gegen seine Mängel und Widersprüche ist das Narrativ vom genialen, unbesiegbaren Russland, das aber gleichzeitig Opfer ist und sich gegen den Westen wehren muss. Wie lange zieht es noch?
Das kann noch lange dauern. Putin hat es dem Bürger möglich gemacht, wieder stolz zu sein auf sein Land: durch den Wirtschaftsaufschwung, durch Kriege und militärische Präsenz im Nahen Osten und in Afrika. Das ist eine unerhörte Entwicklung, wenn wir ins Jahr 1989 zurückgehen, als die Sowjetunion am Boden lag, wirtschaftlich ausgeblutet und erschöpft vom Afghanistan-Krieg. Damals war das Selbstbild der Russen katastrophal. «Wir können nichts. Wir sollten gar nicht leben. Wir sind ein Volk von Kakerlaken» – solches bekamen wir damals zu hören. Putin hat die Russen aufgerichtet, indoktriniert, und er hat ihnen einen grossen äusseren Feind gegeben, den Westen. Nicht zu vergessen: Auch auf ihn selbst, auf Putin, sind die Russen stolz. Er ist in vielem das Gegenteil des tapsigen, angetrunkenen Jelzin, dessen man sich schämte. Putin ist diszipliniert, sportlich und kühl, vor allem aber: einfach. Die Menschen verstehen ihn. Er redet ihre Sprache, er reproduziert ihre Ressentiments. Charismatisch ist Putin nicht, ausser bürokratischen Worthülsen und Ganovenjargon hat er wenig zu bieten. Aber die Medien sagen pausenlos, er sei etwas Besonderes, und die Russen glauben es, weil er mächtig ist. Juri Lewada, der Gründer unseres Instituts, hat das als «induziertes Charisma» bezeichnet.
Im krassen Gegensatz zu Iran, wo vor allem Frauen unter Lebensgefahr zu Hunderttausenden demonstrieren, sehen wir in Russland kaum oppositionelle Regungen. Die Strasse bleibt leer. Ist dies Resignation oder Angst – oder beides?
In Iran gibt es die Hoffnung, dass das Regime stürzt. In Russland nicht. Unzählige sind einfach gegangen nach Kriegsbeginn 2022: Gebildete, Junge, Städter. Die Gebliebenen sind passiv, und sie lassen sich auch nicht von den Gegangenen inspirieren wie die Iraner von ihren Landsleuten in der Diaspora. Viele sehen in den Gegangenen eine Art Landesverräter.
Kommt Zustimmung zu Putin immer im Paket, oder gibt es Differenzen? Anders gefragt: Gibt es Russen, die für Putin sind, aber gegen den Krieg – oder gegen Putin und für den Krieg?
Die gibt es. Manche möchten in der Ukraine eine schärfere militärische Gangart sehen: mehr Aggressivität, mehr Angriff, mehr Bombardements. Es gibt Menschen, die Putin und einen guten Teil der Armeeführung für korrupt und inkompetent halten: gewisse Blogger, Hardliner oder Militärs, unter ihnen war auch Jewgeni Prigoschin. Es gibt aber auch viele, die Putin lieber als Führer eines grossen, friedlichen Russland sähen. Zwar geben heute noch immer etwa drei Viertel aller Befragten an, sie seien für den Krieg und glaubten an den Sieg. Doch die Menschen sind müde. Erinnerungen an Afghanistan kommen auf.
Wie viele Prozent der Russen unterstützen den Krieg jetzt, so, wie er ist?
Etwa ein Drittel. Zwei Drittel sind eher dagegen. Fragt man die Leute, ob sie an den Sieg glauben, dann antworten noch immer über 70 Prozent mit Ja. Gleichzeitig wünschen über 50 Prozent, der Krieg möge aufhören. Wie gesagt: Die Menschen sind müde. Sie glauben, Russland zahle einen zu hohen Preis.
Stichwort Afghanistan: Unzählige russische Soldaten fallen und kehren in Zinksärgen zurück. In den achtziger Jahren hatte dies grosse Unruhe in der Bevölkerung ausgelöst, man denke an das Komitee der Soldatenmütter. Ist so etwas heute undenkbar?
Damals, in den achtziger Jahren, war eine grosse Mehrheit gegen den Krieg. Heute gibt es keine Demonstrationen. Natürlich leiden die Menschen, aber öffentlich tut das kaum jemand kund. Viele Soldaten sind umgekommen, aber darüber weiss in Russland kaum jemand Bescheid. Die Zensur beherrscht alles. Schreibt eine Zeitung darüber, droht ihr nicht nur eine Busse, sondern eine Strafverfolgung. Die Zahlen, die in den Reihen der Kriegsgegner zirkulieren, sind diese: rund 150 000 gefallene russische Soldaten, rund 300 000 Verwundete. Aber das Volk erfährt davon nichts. Es herrscht ein absolutes Schweigen.
Putin scheint mir geschickter zu sein als Stalin. Er kontrolliert die Gesellschaft ohne Massendeportation, die Repression ist gross, aber überschaubar.
Es ist eine andere Zeit. Stalin hat die Mittel genutzt, die ihm zur Verfügung standen, sehr grausam, Putin tut im Grunde dasselbe. Er hat das Fernsehen, das Internet, das sind gute Steuerungsinstrumente.
Wie sehen Frauen den Krieg, wie Männer?
Frauen sympathisieren öfter mit Putin als Männer, der Unterschied beträgt etwa 20 Prozent. Gleichzeitig sind heute mehr Frauen gegen den Krieg als Männer. Sie denken weniger in militärischen Kategorien und sagen das auch. Sie wollen, dass der Krieg aufhört. Männer weniger.
Wie realistisch ist die Annahme, die Eliten im Staat – Armee, Geheimdienste, die Chefs der Machtministerien – könnten eines Tages genug haben und Putin wegputschen?
Das ist unrealistisch, zumindest jetzt. Putin ist geschickt, er hält die verschiedenen Machtzentren in einem Zustand permanenter Konfrontation. Und er droht. Jedes Jahr werden 2 Prozent der Machteliten – Minister, Beamte, Gouverneure – verhaftet und zu Strafen verurteilt. Das sind nicht unsere Zahlen, das sagt die Regierung. Hier haben wir ein Gran gelebten Stalinismus. Die Angst ist in den Eliten grösser als im Volk. Einen Putsch wird es auch nicht geben, wenn es schlecht läuft mit der Wirtschaft. Gefährdet ist Putin erst, wenn der Krieg in der Ukraine eine ungute Wendung nimmt. Dann wird es gefährlich.
Die Alten, die ihr Wissen aus dem Fernsehen beziehen, sind für Putin. Die Jungen sitzen am Internet, das sich schwerer steuern lässt. Sind sie deshalb eher gegen Putin?
Die Jugend weiss mehr über den Westen und steht ihm positiver gegenüber als die Älteren. Aber das hält nicht lange an. Sie werden älter, kommen in den Arbeitsalltag und übernehmen die Ideale ihrer Umgebung, kurz: Sie lernen Konformität. Viele werden schnell so zynisch wie die Alten. Als Putin 2014 die Krim annektierte, waren die Menschen zwischen 30 und 45 Jahren die Altersgruppe mit der höchsten Zustimmung. Auch Junge unterstützen die «Spezialoperation», aber weniger breit als Ältere.
Ich habe die Russinnen und Russen in den neunziger Jahren fast durchwegs als in einer gewissen Weise vernarrt in den Westen erlebt. Paris! Die Champs-Élysées! Amerikanische Universitäten! London, bei Harrods einkaufen! Zieht das alles nicht mehr? Ist das nun der Feind?
Ja. Auf diesen Westen prügeln die Massenmedien täglich ein. Er ist dekadent, heuchlerisch, schwul, intrigant und durchseucht von Russenhass, aus welchen Gründen auch immer. Das Fernsehen schürt die Ressentiments, die der allgemeinen Frustration und dem Hass auf den Westen entspringen. Schuld an allem, vor allem aber am Krieg sind immer die USA. Russland dagegen ist unbefleckt, tugendhaft, rein.
Es gibt den anderen Westen: den der vitalen Demokratie, der Freiheit und des Meinungsstreits. Fasziniert auch er die Russen nicht mehr?
Kaum noch. Demokratie und Pluralismus sind für die wenigsten Russen begehrenswert. Die Menschen wissen nicht, dass Demokratie politische Probleme besser löst als Diktatur, sie empfinden Demokratie als kompliziert und korrupt. Russland war nie demokratisch, es fehlt die positive Erfahrung. Zur Zeit Jelzins war Russland so offen wie nie. Aber eben auch chaotisch und arm. Die Russen verbinden Demokratie am ehesten mit dieser Periode, die für die meisten eine fürchterliche war.
China ist heute ein Verbündeter Russlands, wenn auch gewiss langfristig kein zuverlässiger. Wie blicken die Russen auf China?
Positiver als früher. Einst fürchtete man die Chinesen, man erinnere sich an die blutigen Gefechte am Grenzfluss Ussuri im März 1969. Und während der Perestroika dachte man, China würde expandieren. China war ein Feind, ein geopolitischer Rivale. Heute ist man positiver eingestellt, was mit der gemeinsamen Ablehnung des Westens zu tun hat. Immer öfter sah man in China ein funktionierendes Modell, eine enorme Wirtschaftsmacht, und heute ist das Reich der Mitte für die Russen das zweitbeliebteste Land nach Weissrussland. Es folgen – aber das fluktuiert ständig – Kasachstan, Venezuela, Iran, Aserbaidschan. Alles totalitäre Staaten. Das Motto: Der Feind unseres Feindes ist unser Freund. Manche sehen zwar mit Sorge, dass chinesische Produkte den russischen Markt überschwemmen. Die Europäer sind weitgehend weggefallen, in Moskau ist bald jedes zweite Auto ein chinesisches. Aber das ist kein grosses Problem. Für das Gros der Bürger ist China einfach ein exotisches, interessantes, weit entferntes Land.
Sie werden gelobt und kritisiert. Sie kooperieren mit renommierten internationalen Institutionen. Stiftungen und Fonds schätzen Sie, westliche Staaten und die bekanntesten Medien verwenden Ihre Erkenntnisse. Aber Sie sehen sich auch Kritik ausgesetzt. Manche sagen, Ihre Umfragen seien nichts wert, weil die Menschen Angst hätten und nicht die Wahrheit sagten.
Das ist eine in der russischen Opposition verbreitete Position. Viele Oppositionelle, die von Putin entmachtet wurden und heute im Ausland leben – Politiker, Aktivisten, Journalisten – haben weder ein Programm noch die Möglichkeit, aktiv zu werden. Was ihnen bleibt, ist dieser Einwurf. Sie sagen, wir kollaborierten mit Putin, oder bezeichnen uns als nützliche Idioten. Es ist absurd. Unsere Daten sind aussagekräftig. Wir haben in unseren Antworten eine grosse Varianz, sowohl innerhalb des Universums der Befragten als auch über die Zeit hinweg.
In Ihren Schriften geben Sie sich als scharfer Feind Putins zu erkennen. Wie können Ihre Kritiker das nicht honorieren?
Sie wollen nicht. Sie sagen, wir unterstützten den Kreml. Das ist falsch, das ist schrecklich. Diese Leute verdrehen den Sinn unserer Arbeit. Ich begreife sie nicht. Es ist sehr schwer für mich.