Samstag, März 15

Der Kanton will der Überlastung von Schülerinnen und Schülern vorbeugen. Gegen Ende des Gymnasiums sollen sich die Jugendlichen stärker auf ihre eigenen Interessen konzentrieren können.

Das Bildungswesen steht im zweifelhaften Ruf, an Reformitis zu leiden: Eine Schulreform jagt die nächste. So scheint es zumindest. Kaum ist die eine Neuerung halbwegs verdaut, müssen sich Schulleitungen, Lehrpersonen und ihre Schülerinnen und Schüler mit dem nächsten Grossprojekt herumschlagen, das seinerseits dafür sorgen soll, dass Schule und Unterricht mit der Zeit gehen und unsere Kinder und Jugendlichen bestmöglich auf Gesellschaft, Studium und Arbeitswelt der Zukunft vorbereiten.

Die Einführung des Lehrplans 21 hat die Primar- und Sekundarschulen tüchtig durchgeschüttelt, jene des integrativen Unterrichts ebenso. Die Mittelschulen hingegen sind von vergleichbaren verordneten Umwälzungen lange verschont geblieben. Was nicht bedeutet, dass sie sich nicht entwickelt hätten in den vergangenen Jahren. Computer, Tablets und Smartphones etwa gehören in vielen Lektionen längst dazu. Das Aufkommen von künstlicher Intelligenz (KI) dürfte der Digitalisierung des gymnasialen Unterrichts einen weiteren Schub verleihen.

Doch der Buchstabe, an dem sich die Mittelschulen hierzulande orientieren, hat Staub angesetzt: Die letzte grosse Reform der Matur an Schweizer Gymnasien liegt fast dreissig Jahre zurück. Die wichtigste Neuerung von damals war und ist für viele Schülerinnen und Schüler eine prägende Erfahrung: die Maturarbeit, die die Maturanden auf schriftliche Arbeiten und Forschungsprojekte im Studium vorbereiten soll. Das war der grosse Wurf der letzten Reform.

An welche Veränderung wird man sich dieses Mal erinnern?

Jetzt auch noch Informatik!

Das ist immer noch unklar, auch nach einer jahrelangen Debatte über die «Weiterentwicklung der gymnasialen Maturität», die 2019 vom Bund angestossen wurde und deren Vorgaben für die Kantone und ihre Mittelschulen verpflichtend sind.

Konkret bedeutet die kommende Reform beispielsweise: Die beiden Fächer Informatik sowie Wirtschaft und Recht werden zu Grundlagenfächern erhoben. Alle Gymnasiasten in der Schweiz werden künftig also auch in diesen Disziplinen unterrichtet, genauso wie in Deutsch, Französisch oder Italienisch, Englisch oder Latein oder Griechisch, Mathematik, Physik, Chemie, Biologie, Geografie, Geschichte sowie bildnerischem Gestalten oder Musik. Bis spätestens 2029 muss der neue Rahmenlehrplan umgesetzt werden.

Der Kanton Zürich will die verbleibende Zeit nutzen, um zusätzlich zu den nationalen Vorgaben eigene Akzente zu setzen. So hat der Bildungsrat kürzlich entschieden, das Fach Philosophie nicht in den Kanon der Grundlagenfächer aufzunehmen. Die zwölf Grundlagenfächer auf der einen und der Wahlpflichtbereich mit Schwerpunkt- und Ergänzungsfach sowie der Maturarbeit auf der anderen Seite sollen hingegen klarer voneinander getrennt werden.

Weiter ist vorgesehen, dass Schülerinnen und Schüler bis zur Matur für ihre Grundlagenfächer immer weniger Zeit aufwenden müssen, damit sie genug Kapazitäten haben für jene Bereiche, in denen sie sich im letzten Jahr am Gymnasium vertiefen wollen. Der Bildungsrat formuliert es so: Es seien Modelle zu suchen, damit nicht zu viele Fächer gleichzeitig unterrichtet würden. Im einen Semester also könnte sich eine Klasse in Geistes- und Naturwissenschaften zum Beispiel auf Geschichte und Geografie konzentrieren, im anderen auf Biologie, Physik und Chemie.

Das klingt gut und soll ein wesentliches Problem der vergangenen Jahre mildern helfen: Die Belastung der Gymnasiasten hat zugenommen. Jugendliche litten immer mehr an psychischen Problemen, schreibt der Bildungsrat. Schulsozialarbeit soll es daher künftig nicht nur an der Volksschule, sondern auch an sämtlichen Zürcher Mittelschulen geben.

«Das führt den Unterricht ad absurdum»

Mehr Fächer, mehr Prüfungen, aber nicht mehr Zeit: Dieser Druck – oder ist es mangelnde Planung der Jugendlichen? – zeigt sich mitunter in solchen Szenen: Wenn Schülerinnen und Schüler der Deutschlektion nicht folgen können, weil sie noch schnell, schnell ihre Chemie-Unterlagen durchgehen für die Prüfung, die in der nächsten Stunde ansteht. So erzählt es Philipp Michelus, Deutschlehrer am MNG Rämibühl und Präsident der Lehrpersonenkonferenz der Zürcher Mittelschulen, am Donnerstag an einem Mediengespräch in Zürich.

Schade für den Lehrer, schade um seine Vorbereitung, schade für die gestressten Schüler, die so womöglich eine spannende Diskussion über Texte, Gott und die Welt und die Gesellschaft von heute verpassen. Dabei ist genau das ein Kernanliegen von Zürcher Gymnasiastinnen und Gymnasiasten: Sie wollen «ein breites Fächerspektrum, um eine umfassende Allgemeinbildung zu erlangen». Sie wollen aber auch «vielfältige Wahlmöglichkeiten, um individuelle Interessen zu vertiefen».

So steht es in den Ergebnissen einer Umfrage, die das Mittelschul- und Berufsbildungsamt (MBA) im Rahmen der anstehenden Maturareform unter Schülerinnen und Schülern durchgeführt hat. Breite und Tiefe stehen für ein Bildungsideal, dem Zürcher Gymnasien nach Kräften gerecht werden wollen. Das Problem: Die beiden Wünsche widersprechen sich – zumindest in der schulischen Realität von heute.

Vom MBA ebenfalls befragte Lehrerinnen und Lehrer formulieren es so: «12 Grundlagenfächer, 15 Maturnoten, knapp 4 Jahre Zeit (ab der dritten Klasse): Das führt den Unterricht nach klassischem, fragmentiertem Stundenplan ad absurdum.» Pauken für die Prüfung und dann schnell wieder vergessen: Diese unschöne Praxis zeige, dass neue Formen des Unterrichts und der Leistungsbeurteilung dringend gefragt seien. Und: Die Stoff- und Prüfungsdichte bereite die Schülerinnen und Schüler nicht auf die Realität an den Hochschulen vor.

Was also tun?

Berührungsängste

Die Fachbereiche an den Gymnasien könnten zum Beispiel vermehrt miteinander kooperieren. Und falls sie es noch nicht getan haben, sollten sie endlich damit anfangen. Das findet auch der Bildungsrat, der in seinem Schreiben «eine engere Zusammenarbeit zwischen den Fachschaften» anmahnt.

Die Vorteile von fächerübergreifenden Projekten sind offensichtlich: Wenn sich ein Deutschlehrer und eine Geschichtslehrerin zusammentun, um mit ihren Schülern ein solches Vorhaben zu realisieren, haben sie dafür doppelt so viele Lektionen zur Verfügung als allein.

Wenn die beiden Lehrpersonen es geschickt anstellen, können in einem solchen Setting sogar Freiräume für andere Aufgaben entstehen: Mal führt der Deutschlehrer die Klasse, mal die Geschichtslehrerin, und dann machen sie es wieder zusammen. Philipp Michelus hat am MNG einmal mit einem Geschichtslehrer deutsche Propagandafilme im Zweiten Weltkrieg behandelt. Er sagt: «Das war bereichernd, eine schöne Erfahrung für alle Seiten.» Zumal von künftigen Studenten ohnehin erwartet wird, dass sie fächerübergreifend denken und arbeiten können.

Allein, die Sache hat einen Haken. Viele Gymnasiallehrer verstehen sich als Experten ihres Fachs. Die Kultur der verschiedenen und daher voneinander getrennten Disziplinen ist an Mittelschulen immer noch ausgeprägt. Das wird auch an der Medienrunde des MBA am Donnerstag deutlich, als Michelus zum einen von innovativen Projekten erzählt, zum anderen aber ernüchtert festhält: «Viele Lehrer sind es nicht gewohnt, mit anderen Lehrerinnen zusammenzuarbeiten und mit solchen Formaten vor der Schulleitung und den Schülern bestehen zu müssen. Sie wollen ihren Unterricht lieber in Ruhe selber gestalten.»

Maturareform hin oder her: Die Mittelschulen und ihre Lehrerinnen und Lehrer haben noch viel Arbeit vor sich, wenn sie mit der Zeit gehen und fragmentiertes Denken in Fächern und Einzellektionen wenigstens punktuell überwinden wollen.

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