Montag, Oktober 14

Russlands Bevölkerung schrumpft. Präsident Putin will, dass russische Frauen wieder mehr Kinder bekommen. Um das zu erreichen, mischt sich der Staat immer stärker ins Privatleben ein.

Russische Funktionäre haben ein neues Feindbild gefunden. Es heisst «childfree» und kommt – wie alles Verwerfliche – aus dem Westen. In «childfree», Kinderlosigkeit, sehen sie eine Bewegung, eine ideologische Haltung, die Russlands Gesellschaft untergräbt. Der Westen versuche die Familie zu zerstören, die traditionellen russischen Werte, und er versuche, in Russland die Ideologie der Kinderlosigkeit einzupflanzen, sagte kürzlich Walentina Matwijenko, die Vorsitzende des Oberhauses des russischen Parlaments. Dagegen müsse die Politik etwas unternehmen.

Frauen werden als Gebärmaschinen verstanden

Wenige Tage später wurde bekannt, dass in der Staatsduma, dem Unterhaus, ein Gesetz beraten werden soll, das die Propagierung von «childfree» unter Strafe stellt, analog zum Umgang mit Propaganda für nichttraditionelle sexuelle Beziehungen. Weil der Begriff der Propagierung so weit gefasst ist, kann es sein, dass es in Russland bald unmöglich sein wird, auch nur zu thematisieren, dass eine Person keine Kinder hat: Schon das, sagen Juristen, könnte als Verbreitung schädlicher Gedanken gewertet werden.

Der Furor der Politiker übergeht, dass «childfree» keine Bewegung im eigentlichen Sinn ist, genauso wenig wie LGBTQ, ein anderes Feindbild. Selbst der stets loyale Vorsitzende des präsidialen Rats für Menschenrechte und Zivilgesellschaft, Waleri Fadejew, stellte infrage, dass das Phänomen in Russland überhaupt verbreitet sei. Ehe das abgeklärt sei, brauche es kein solches Gesetz.

Seit einiger Zeit überbieten sich in der Diskussion über düstere demografische Perspektiven des grossen Landes Funktionäre und Politikerinnen mit immer groteskeren Vorschlägen zur Stimulierung der Geburtenrate. Sie biedern sich damit Präsident Wladimir Putin an, der dem Thema sehr viel Bedeutung beimisst. Er will bis 2036 die Erhöhung der Geburtenrate von derzeit 1,4 auf 1,8 Kinder pro gebärfähige Frau erreichen. Die politischen Vorschläge offenbaren oft gesellschaftliche Vorstellungen, in denen Frauen reine Gebärmaschinen im Dienst des Staates sind.

Der Gesundheitsminister Michail Muraschko, ursprünglich Gynäkologe, machte schon vor einem Jahr mit seiner Kritik am Karrierebewusstsein heutiger Frauen von sich reden. Er sprach von der «verwerflichen Praxis», dass Frauen heutzutage zuerst ihre Ausbildung beendeten, Karriere machten und sich eine materielle Grundlage schüfen, bevor sie anfingen, daran zu denken, Kinder zu bekommen. Die erzkonservative Parlamentarierin Margarita Pawlowa ging sogar so weit anzuprangern, dass junge Frauen eine Hochschulbildung abschlössen. Das sei die falsche Ausrichtung. Sie suchten dann jahrelang nach sich selbst und verlören die Gebärfunktion.

Geradezu zynisch ist die Sorge der selbsternannten Hüter der Familie angesichts des von ihnen mitgetragenen Krieges gegen die Ukraine. Denn dieser hat laut Schätzungen auf russischer Seite bereits mehr als hunderttausend Todesopfer gefordert und nimmt nicht wenigen Russinnen und Russen die Zuversicht für eine Familiengründung.

Familiengründung braucht Geld

Die Fakten sind unbestritten: Russlands Bevölkerung nimmt jedes Jahr um rund eine halbe Million Menschen ab, und die Prognosen sehen noch finsterer aus. Die geringe Rücksicht auf den Schutz des Einzelnen und das vor allem in der Provinz marode Gesundheitswesen brachten Russland während der Pandemie 2020/21 eine hohe Übersterblichkeit. Zugleich kommen immer weniger Kinder zur Welt. 2023 wurden mit rund 1 264 000 Neugeborenen so wenig Geburten verzeichnet wie seit 1999 nicht mehr, dem Jahr nach der schlimmsten Wirtschaftskrise in der jüngeren russischen Geschichte.

Der Demograf Alexei Rakscha erklärte das in einem Beitrag der russischsprachigen Ausgabe von «Forbes» primär mit dem Geburtenrückgang der neunziger Jahre. In der ungewissen und finanziell schweren Zeit der wirtschaftlichen und politischen Transformation nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurden eine Dekade lang deutlich weniger Kinder geboren als davor und danach. Russinnen und Russen dieser Jahrgänge sind jetzt in einem Alter, in dem sie eine Familie gründen könnten. Der durchschnittliche Reproduktionsfaktor sinkt seit einem Zwischenhoch von 1,76 Kindern pro Frau 2016 wieder kontinuierlich. In den vergangenen Jahren lag er fast stabil bei 1,4.

Hinzu kommen aber auch Faktoren, die mit der Gegenwart zu tun haben. In einer Studie von Mitarbeitern der Moskauer Higher School of Economics, die «Forbes» ausgewertet hat, wurden Paare nach den Gründen für eine Verschiebung ihres Kinderwunschs gefragt. Die Antworten konnten frei gegeben werden. Unzufriedenheit mit dem gegenwärtigen politischen Kurs, negative Emotionen und Besorgnis erhöhen demnach die Bereitschaft, die Zeugung von Kindern hinauszuzögern. Je negativer die potenziellen Eltern dem Regime gegenüber eingestellt sind, desto stärker fällt das ins Gewicht. Dieser Befund ist nicht besonders überraschend.

Demograf Rakscha hält wenig von der staatlichen Demografiepolitik. 95 Prozent der Vorschläge seien Schwachsinn. Die Funktionäre wollten gar nicht auf kompetente Experten hören. Finanzielle Anreize sind aus seiner Sicht das einzig wirksame Mittel, um Paare zur Elternschaft zu bewegen. Das trifft, wie er in einem langen Interview in einem regimekritischen Youtube-Kanal ausführte, vor allem auf die Entscheidung für ein zweites oder drittes Kind zu. Stimuli für das erste Kind wirken dagegen kaum. Das sogenannte Mütterkapital, das für zweite und spätere Kinder ausbezahlt wird, erfüllte laut Rakscha den Zweck, die von Putin und seinen Funktionären propagierte Vielkinderfamilie zu fördern.

Verbote und Einschränkungen

Klar ist aber auch, dass Geld allein nicht reicht. Der Staat muss die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass ein gutes Leben möglich ist. Die soziale Infrastruktur – Kindertagesstätten, Kindergärten, kinderfreundliche Wege und Aussenräume – wirkt stimulierend.

Eine «demografische Spezialoperation» sei nötig, forderte der an der Akademie der Wissenschaften forschende Wirtschaftsmathematiker Albert Bachtisin. Die demografische Entwicklung sei katastrophal und gefährde die nationale Sicherheit. Auch er sieht die Rettung nicht nur in Form finanzieller Anreize. Er plädiert für eine «Entstädterung». Damit diese die nötigen Erfolge bringe, seien umfassende Investitionen in die soziale Infrastruktur und in die Gesundheitsversorgung nötig, damit das Leben auf dem Land so attraktiv sei wie das in der Stadt.

Um die Lebensqualität in der Stadt wiederum sorgte sich Anatoli Schirokow, Mitglied im Oberhaus des Parlaments. Er machte einen kuriosen Vorschlag: Die in Russland mangels günstiger Alternativen auch bei Familien weit verbreiteten Einzimmerwohnungen müssten verboten werden. Sie verhinderten, dass mehr Kinder geboren würden, behauptete er.

Die Duma-Abgeordnete Irina Frolowa hält allerdings gerade materielle Verbesserungen im Leben der Russinnen und Russen für eine der Ursachen der demografischen Krise. Je höher der Lebensstandard und je besser der Zugang zu Medizin, Bildung und Karriere sei, desto geringer sei der Wunsch, Kinder zu gebären. Deshalb gehe es bei der Förderung der Geburtenrate weder um Geld noch um Lebensqualität, sondern darum, schädliche Informationen über «nichttraditionelle» Lebensweisen und Selbstentfaltung in Russland zum Verschwinden zu bringen, meint sie.

Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Die Obsession mit der Geburtenrate, das Appellieren an diffuse «traditionelle Werte» und die Kultivierung eines nur auf das Gebären fixierten Frauenbildes sind Teil der Gängelung der Gesellschaft. Putins erste zwei Amtszeiten zeichneten sich dadurch aus, dass zwar die politischen Freiheiten zunehmend eingeschränkt wurden, das Privatleben aber kaum angetastet wurde.

Die Ideologisierung der Gesellschaft dringt nun aber immer weiter ins Innerste vor und macht auch vor dem Bett nicht mehr halt. In der Moskauer Stadtverwaltung werden Frauen aufgefordert, regelmässig ihre Fruchtbarkeit zu testen, um den Zeitpunkt für eine Mutterschaft nicht zu verpassen. Immer mehr Provinzen erschweren Abtreibungen, obwohl diese in Russland gar kein Problem darstellen und Abtreibungsverbote erfahrungsgemäss nichts zur Steigerung der Geburtenrate beitragen. Dem Staat möglichst viele Kinder zu schenken, wird zur Bürgerinnenpflicht stilisiert.

Die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit ist dabei gross. Putins Ideal einer Familie mit sieben bis zehn Kindern und dem Gerede von der Bedeutung der Familienwerte stehen die hohe Scheidungsrate, verbreitete Gewalt und die Vielzahl Alleinerziehender entgegen. Der Krieg nimmt den Kindern ihre Väter, den Frauen ihre Männer, und er sät das Verderben nicht nur in der Ukraine, sondern auch in der russischen Gesellschaft.

Auf welches Glatteis die neue und die alte Ideologie führen, musste neulich der Sozialminister Anton Kotjakow erfahren. Er wünschte sich ein auf die Förderung der Grossfamilie ausgerichtetes Bewusstsein bei Werbern: Je öfter Familien mit mehreren Kindern gezeigt würden, desto besser. Er lobte aber auch den neuen Film über das wohl wichtigste Maskottchen des sowjetischen Kindertrickfilms, Tscheburaschka, und pries den Besuch im Kino zur Stärkung des Familiensinns. Dabei verkörpert das Phantasiewesen Tscheburaschka eine Offenheit, die der heutigen Doktrin widerspricht: Es ist geschlechtslos und alleinstehend – und trotzdem so beliebt wie eh und je.

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