Was tun gegen die 10-Millionen-Initiative der SVP? Bundesrat Beat Jans hat viele Ideen, aber kaum Rückhalt bei seinen Kollegen. Die Ratlosigkeit ist gross, der Zeitdruck ebenfalls.
Das kommt selten vor. So viele Vorschläge und so wenig Unterstützung: Beat Jans hat seinen Bundesratskollegen für die Sitzung vom Mittwoch ein vertrauliches Papier zur Zuwanderung vorgelegt, das laut Angaben aus mehreren Departementen nicht weniger als 25 Massnahmen umfasst – manche davon äusserst umstritten. Die Palette reicht von höheren Kinderzulagen über zusätzliche Subventionen für den Wohnungsbau bis zur Asylpolitik.
All diese Massnahmen sollen helfen, die 10-Millionen-Initiative der SVP zu bekämpfen, die in letzter Konsequenz das Ende der Personenfreizügigkeit mit der EU verlangt und somit den bilateralen Weg als Ganzes infrage stellt. Von allen Geschäften, mit denen sich der Bundesrat zurzeit befasst, ist dies eines der wichtigsten.
Doch das Echo auf die Vorschläge des Sozialdemokraten ist verheerend ausgefallen: Aus den anderen Departementen sind fünf Mitberichte zurückgekommen, vier davon waren relativ kritisch bis vernichtend. Lediglich Jans’ Parteikollegin Elisabeth Baume-Schneider äusserte sich in ihrem Mitbericht wohlwollend, lehnte aber einzelne Massnahmen ab. Die Einzige, die auf einen Mitbericht verzichtete und gar nichts auszusetzen hatte, war Viola Amherd.
Wem nützt die Indiskretion?
Trotz der breiten Gegenwehr aus den Departementen der SVP- und FDP-Bundesräte liess Beat Jans das Geschäft auf der Traktandenliste stehen. Das ist insofern seltsam, als er wissen musste, wie aussichtslos das Unterfangen ist. Diese ungewöhnliche Vorgeschichte ist nach einer Indiskretion via die Tamedia-Zeitungen kurz vor der Bundesratssitzung publik geworden. Das Leck verdeutlicht, mit welch harten Bandagen im Hintergrund gekämpft wird.
Mehrere zuverlässige Quellen bestätigen den Sachverhalt. So umfasst Jans’ Paket neben einer «Zuwanderungsgebühr» für Arbeitskräfte aus Ländern ausserhalb der EU vor allem Anliegen, die seit langem auf dem Wunschzettel der SP und der Gewerkschaften stehen: mehr Mieterschutz, mehr Wohnbauförderung, mehr Kündigungsschutz für ältere Angestellte und obendrein eine Erhöhung der Kinderzulagen.
Allerdings scheint die geleakte Liste nicht der finalen Version des Papiers zu entsprechen, die Jans dem Kollegium letztlich vorgelegt hat. So soll er unter anderem auch vorgeschlagen haben, dass Personen aus Staaten ausserhalb der EU künftig weniger Sozialhilfe erhalten als Schweizer, wenn sie arbeitslos werden. Zudem soll sein Antrag auch Vorschläge für asylpolitische Massnahmen enthalten haben, wie dies seine bürgerlichen Kritiker und die Wirtschaftsverbände verlangt hatten. Allerdings gehen seine Ansätze den bürgerlichen Bundesräten offenkundig nicht weit genug, sie sehen darin keine Fortschritte gegenüber dem Status quo.
Kein neuer Zeitplan
Schliesslich ist es am Mittwoch gekommen, wie es kommen musste: Beat Jans ist mit seinem Paket im Bundesrat aufgelaufen, das Gremium hat keinen Entscheid gefällt. Es habe eine erste Diskussion darüber stattgefunden, gab der Regierungssprecher im Anschluss kurz und knapp zu Protokoll. Jans selbst sprach von einer «ersten Lesung». Sie sei «interessant» gewesen.
Wann denn nun ein Entscheid zu erwarten ist, blieb hingegen offen. Dem Vernehmen nach hat der Bundesrat darauf verzichtet, einen klaren neuen Zeitplan festzulegen, was man als Zeichen zunehmender Ratlosigkeit oder Verärgerung deuten mag.
Viel Zeit hat der Bundesrat nicht, die Botschaft zur SVP-Initiative muss er bis Ende März 2025 an das Parlament überweisen. Gegenüber seinem ursprünglichen Zeitplan ist er bereits jetzt im Rückstand. Als er im Sommer im Grundsatz beschlossen hat, ein Massnahmenpaket zur 10-Millionen-Initiative zu erarbeiten, erhielt Jans den Auftrag, die konkreten Vorschläge bis Mitte Oktober vorzulegen. Nun hat es einen Monat länger gedauert. Und der Entscheid verzögert sich weiter.
Die EU hat es in der Hand
Erschwerend kommt hinzu, dass die Verhandlungen mit der EU über die Zukunft des bilateralen Wegs in der Schlussphase sind. Das geplante Vertragspaket und die SVP-Initiative überlagern und beeinflussen sich gegenseitig. Der Bundesrat verlangt von Brüssel unter anderem eine bessere Schutzklausel, mit der die Schweiz die Zuwanderung aus der EU temporär einschränken könnte, wenn sie übermässig hoch ausfällt.
Die EU hat zwar erklärt, dass sie weder starre Obergrenzen noch eine einseitige Anwendung akzeptieren werde. Trotzdem laufen die Gespräche über die Schutzklausel weiter. In Bern wird allgemein erwartet, dass Brüssel Hand zu Verbesserungen bieten wird, auch wenn sie nicht so weit gehen, wie man sich dies wünschen würde. Klar ist, dass eine griffige Schutzklausel das beste Argument gegen die SVP-Initiative wäre. Das Parlament könnte daraus auch einen formellen Gegenvorschlag konstruieren.
Der Bundesrat seinerseits will auf einen Gegenvorschlag verzichten. Das Paket, an dem Jans unter wachsendem Druck arbeitet, soll stattdessen «Begleitmassnahmen» umfassen, welche die «Herausforderungen» der Zuwanderung «gezielt adressieren». Was das mit höheren Kinderzulagen zu tun hat, ist vorläufig das Geheimnis von Beat Jans.