Der Sozialismus ist nicht tot, sondern quicklebendig: im staatlichen Handeln, an den Universitäten, sogar in Kinderbüchern. Die Freunde des Westens müssen wieder lernen, ihre Ideale zu verteidigen.
Sie lesen einen Auszug aus dem Newsletter «Der andere Blick am Abend», heute von Marc Felix Serrao, Chefredaktor der NZZ in Deutschland. Abonnieren Sie den Newsletter kostenlos. Nicht in Deutschland wohnhaft? Hier profitieren.
Eines der erfolgreichsten Kinderbücher der vergangenen Jahrzehnte ist zugleich eines der schrecklichsten: «Der Regenbogenfisch» vom Schweizer Illustrator und Autor Marcus Pfister. Es erzählt von einem Fisch, der besonders viele glänzende Schuppen hat. Weil er keine davon abgeben will, meiden ihn die anderen Fische. Irgendwann ist er ganz allein. Verzweifelt fängt er an, seine Schuppen doch noch zu verteilen. Am Ende sehen alle gleich aus, und der Aussenseiter wird wieder in der Gemeinschaft aufgenommen.
Meine Tochter hat den «Regenbogenfisch» auch geschenkt bekommen, da war sie drei Jahre alt war. Ein einziges Mal habe ich ihr das Buch vorgelesen. Danach habe ich es weggeschmissen. Kinder stehen ohnehin unter einem enormen Konformitätsdruck. Entwicklungspsychologen sprechen von der «fear of being different». Wer ihnen schon im Kindergartenalter beibringt, dass Anderssein unglücklich macht, potenziert diese Angst, statt sie aufzulösen. Der dänische Erziehungsexperte Jesper Juul rät zu Recht, Kindern beizubringen, dass Anderssein nicht Isolation, sondern Bereicherung bedeutet.
Die Rückkehr des Sozialismus
Der zweite Grund ist politisch. Meine Kinder werden das Elend des Sozialismus früh genug kennenlernen; wir leben in Berlin. Aber solange ich kann, werde ich sie vor dessen grösster Irrlehre bewahren: dass Ungleichheit etwas Schlechtes sei. Oder, mit dem Fisch aus dem Buch gesprochen: Erst, wenn ich mich nicht mehr von anderen unterscheide, kann ich glücklich sein.
Wer meint, dass dieses Denken nach dem Ende des Warschauer Pakts nur in akademischen Nischen und Kinderbüchern überlebt hat, irrt. Der Sozialismus mag die systemische Rivalität des 20. Jahrhunderts offiziell verloren haben. In Wahrheit ist er längst wieder da, auch in den Ländern des vermeintlich siegreichen Westens. Hier erlässt man staatliche «Mietpreisbremsen» und klagt später über mangelnden Wohnraum. Dort schreibt man per Gesetz immer höhere Mindestlöhne vor und wundert sich über steigende Arbeitslosigkeit. Und überall warnt man inzwischen fast täglich vor einer zu grossen «Vermögensungleichheit».
Die Bürger des Westens mögen allesamt satt und sicher sein. Trotzdem empfinden sie es mehrheitlich als Skandal, dass einige wenige von ihnen deutlich mehr besitzen als der Durchschnitt. In Deutschland etwa sprachen sich kürzlich 70 Prozent der Befragten in einer repräsentativen Umfrage für eine höhere Besteuerung hoher Einkommen aus. Zur Erinnerung: Das Land hat bereits die zweithöchste Steuer- und Abgabenlast aller Industrienationen. Nur Belgien liegt drüber.
Wie konnte sich das Leitmotiv des Sozialismus – Neid – so erfolgreich in den Köpfen auch im Westen festsetzen? Oder anders gefragt: Wie konnte die Ungleichheit, die jedem Streben nach Erfolg innewohnt, in ein derart trübes Licht geraten?
Am Ende droht die Knechtschaft
Eine fulminante Antwort hat nun Carlos Carvalho gegeben, der Präsident der University of Austin. Diese noch junge amerikanische Hochschule versteht sich als Bastion gegen akademische Wokeness und Cancel-Culture. «In Defense of Inequality» lautete der Titel der Rede, die Carvalho zu Wochenbeginn vor der «Class of 2029» und deren Eltern gehalten hat. Zur Verteidigung der Ungleichheit.
Der Statistik-Professor zitiert unter anderem Alexis de Tocquevilles berühmte Studie «Über die Demokratie in Amerika» aus dem frühen 19. Jahrhundert. Der Analytiker der modernen Demokratie hatte als einer der Ersten auf die Schattenseite von deren Gleichheitsideal hingewiesen. Die rechtliche Gleichheit der Bürger sei zwar die Grundbedingung der Freiheit, so Tocqueville. Doch Gleichheit als politisches Ziel führe zu einem paternalistischen Staat, der diese Freiheit schleichend wieder einschränke. Am Ende des Weges stehe die Knechtschaft.
Tocqueville wollte nicht zurück zum alten Ständestaat. Er warb für eine Aristokratie der Leistungsträger, ohne die es keinen Fortschritt gebe. Diese Überzeugung macht sich der Präsident der University of Austin zu eigen. Auf die Frage, wie man die gleiche Würde einer jeden Person achten und zugleich die individuelle Exzellenz kultivieren könne, gäben fast alle amerikanischen Hochschulen heute Antworten zulasten der Exzellenz, sagt er. Als ein Beispiel nennt er die Inflation sehr guter Noten. Die kennt man auch in Europa.
Seine Universität wolle anders sein, sagt Carvalho: aristokratisch in Tocquevilles Sinn. Seinen neuen Studenten sagt er: «Ihr habt euch entschieden, zu rebellieren. Nicht gegen die Hierarchie, sondern gegen deren Aufgabe.»
Es wäre schön, wenn diese wunderbare und überfällige Rede möglichst viele Menschen lesen und verbreiten würden: Hochschullehrer, Politiker, Unternehmer, gerne auch Kinderbuchautoren. Der Sozialismus und seine Apologeten der Gleichheit sind schon viel zu weit gekommen. Höchste Zeit, ihnen zu widersprechen. Je lauter, desto besser.
Es ist nicht nur in Ordnung, in einem Ozean glanzloser Fische zu schillern. Es ist das Beste, was einem passieren kann.