Montag, Oktober 7

Unsere Autorin und ihre Familie: Eine wahre Geschichte über Gewalt und das heutige Russland

Er lag am Boden, das Blut floss ihm aus der Nase. «Schlag ihn, schlag ihn!», schrien sie. Sie, vor denen er sich schützen wollte, der Fedka, der Dimka, der Andrjucha, all die Jungs aus unserer Strasse. Denen wollte er zeigen, dass er so sei wie sie. Ein Kerl. Der für sich einstehen könne, der stark sei, zuhauen würde. Er dachte, Starksein sei Zuhauen, sei Niederringen.

Es waren die Achtziger in der Sowjetunion. Kolja konnte nicht zuhauen, er war «der Kleine», «der Schmächtige», «der Schwache», das hatte er ständig von seinem Vater gehört, den Jungs aus der Strasse, den Lehrerinnen an der Schule. Wer will schon «der Kleine» sein, wenn er klein ist?

Kolja wollte, dass das aufhört, und schlug mir eines Tages ein Spiel vor: Er haut mich, und ich schlage ihn. Dann könne er allen – und vor allem sich selbst – beweisen, dass er auch zuhauen könne, dass er «stark» und «der Grosse» sein könne. «Schlag mich», sagte er zu mir, da war er elf und ich neun. Er, der Junge, ich, das Mädchen.

Ein Mädchen könne er wenigstens niederringen, dachte er, älter und kleiner als ich. Er schlug mir in den Bauch, es tat weh. Ich lief nicht weg, ich wollte Kolja zeigen, dass er gewinnen kann. Er packte mich an den Schultern, trat gegen das Schienbein. Ich fand das nicht mehr lustig. Ich schubste ihn, er fiel hin. Kolja krümmte sich vor Schmerzen, Fedka, Dimka, Andrjucha krümmten sich vor Lachen. «Ein Mädchen, von einem Mädchen besiegt.»

Kolja lag auf dem Asphalt, und ich weinte. Ich beugte mich nicht zu ihm. Ich wollte ihm helfen und machte alles noch schlimmer. Das Spiel war längst kein Spiel mehr. Wir holten nie die Erwachsenen. Wir wussten, sie würden nicht helfen. Sie würden belehren, bestrafen, vielleicht zuschlagen. Wir wollten uns schützen.

Von der Mutter verlassen, vom Vater verprügelt

Kolja ist mein Cousin. Ein Kind, das von der Mutter beim Vater gelassen wurde, weil sie es mit diesem nicht aushielt und wegzog. Der Vater brachte Kolja zu seiner Mutter, wie er es schon mit seiner älteren Tochter getan hatte. Er sagte, er habe ein eigenes Leben.

Die Grossmutter, längst verwitwet, machte, was von ihr verlangt wurde. Sie kümmerte sich um die Enkel. Doch wie begleitet man Kinder, die sich nach der Mutter sehnen? Die sich diese Mutter in den schönsten Farben ausmalen, jahrzehntelang auf sie warten, auch wenn sie nicht kommt? Wie macht man das, wenn der Vater immer wieder auftaucht, um zu schauen, ob sich seine «Bälger» denn «richtig benehmen»? Nein, sie benahmen sich seiner Meinung nach nie «richtig».

Das «Richtige» musste ihnen eingeprügelt werden. Mit dem Metalllineal, das an der Wand hing, einen Meter lang. Mit dem Gürtel. Mit den Fäusten. Er tat es nicht im Verborgenen, sondern so oft, dass ich als Kind es sah, voller Angst, dass sein Lineal, sein Gürtel, seine Fäuste auch mich treffen könnten.

Er schlug zu, die Grossmutter tröstete danach. Sie stellte sich ihrem Sohn nicht in den Weg. Niemand stellte sich ihm in den Weg. Alle wussten, was er mit Kolja und den anderen machte. Niederringen. Also nahmen das alle als gegeben hin.

In der Sowjetunion galt es als «normal», seine Kinder zu schlagen. Bis heute halten viele in Russland «einen Klaps» – manche auch weit grössere Gewalt – für eine angemessene und nötige Züchtigung beim Grosswerden. Ein Recht auf eine gewaltfreie Erziehung steht in Russland in keinem Gesetz. Kolja und seine Schwester ertrugen die Schläge des Vaters. Wie sie alles ertrugen, was er ihnen antat. Danach verschwand er wieder für Monate. Sie lernten zu hassen. Die anderen, sich selbst. Sie versuchten zu träumen, zu leben, zu lieben.

«Nein, du machst Judo!»

Kolja wollte tanzen. Wollte sich drehen und elegant in die Luft fliegen. Manchmal schaute er bei der Grossmutter Ballett im Fernsehen. «Hast du gesehen, wie hoch der Tänzer springen konnte? Ich will das auch. Ich will über die Bühne fegen und auf einem Bein Pirouetten drehen», sagte Kolja einmal zu mir. Manchmal hüpfte er in der Diagonale durchs Wohnzimmer unserer Grossmutter. Ihr Schminktisch hüpfte auf den Holzdielen mit. Kolja wirkte zufrieden bei seinem Tun. Vielleicht sogar glücklich.

Doch ein Junge und Ballett? «Nein, du machst Judo!», befahl der Vater im Haus der Grossmutter. Ein Junge müsse stark sein, müsse sich wehren. Gegen seinen Vater kam Kolja nicht an und ging zum Judo. Seine ältere Schwester machte da bereits mit. Sie brachte die Medaillen mit nach Hause, sie wollte kämpfen, warf die Jungs ihrer Gruppe auf die Matte. Der Vater fand das ungewöhnlich, aber gut. Das Mädchen erklomm die Siegertreppchen. Sie reüssierte in diesem Sport, Kolja aber quälte sich – und träumte vom Tanzen.

Nach jedem verlorenen Wettbewerb gab es Prügel vom Vater. «Babuschka, ich will da nicht hin», sagte er zur Grossmutter. Sie umarmte ihn fest. Ich stand daneben und schaute zu. Sie war sein Rettungsanker, er weinte, sie wischte seine Tränen weg, bei ihr durfte auch ein Junge weinen. Er weinte oft. Er nässte sich ein. Er versteckte sich im Schrank, wenn der Vater kam. Sie sagte nicht, wo ihr Enkel steckt. Ihrem Sohn widersprach sie nicht. Sie dachte, sie schütze ihren Enkel. Der Vater tobte. Kolja ging weiter zum Judo und blieb der Verlierer.

Er wollte Koch werden. In der Schulkantine koche schliesslich auch ein Mann. «Am Herd stehen sollen die Frauen. Du bist ein Mann!», sagte der Vater immer wieder. Kolja fragte mich: «Was ist überhaupt ein Mann? Warum darf ich nicht kochen?» Der Vater prügelte ihm den Berufswunsch aus. Wenn nicht Koch, was dann?

Mitte der 1990er Jahre schloss Kolja die Schule ab, die Noten waren so mittelmässig wie seit der ersten Klasse. Meine Familie war da bereits ins Ausland gezogen. Raus aus der russischen Steppe weit im Osten des Landes, hinein ins deutsche Mittelgebirge. «Nimm mich mit», sagte Kolja, kurz bevor ich in den Bus stieg, der uns zum Flughafen brachte. Ich liess meinen kleinen, schmächtigen, lustigen Cousin zurück.

Die Grossmutter ist tot

Nach der Schule wartete die Armee. «Die wird dich endlich zum Mann machen», sagte der Vater. Kolja robbte durch den Dreck, er putzte die Klos, er liess sich von seinen Vorgesetzten erniedrigen. Wie fast jeder in der russischen Armee. Er war gut im Ertragen von allerlei Niedertracht. Dann die Nachricht: Die Grossmutter ist tot. Seine geliebte Babuschka! Er wollte zur Beerdigung. Zur Mutter hätte er gedurft, nicht aber zur Grossmutter. So seien die Bestimmungen.

Er kämpfte darum, seine Militäreinheit für diesen einen Tag verlassen zu dürfen. Sie war der wichtigste Mensch in seinem Leben. Die Vorgesetzten lehnten ab. Kolja schrie, er warf alles um sich. Sie steckten ihn in eine Strafzelle. Als er nach zwei Jahren aus dem Armeedienst nach Hause kam, stand das Haus der Grossmutter leer. Es war Ende der 1990er Jahre. Die Schwester war ausgezogen, hatte einen Mann geheiratet, der ebenfalls gut zuschlagen konnte. Sie war mit sich selbst beschäftigt. Kolja besorgte sich ein Visum und ein Ticket, um nach Deutschland zu gelangen. Es ging zur ausgewanderten Tante, es ging zu uns.

Aus dem schmächtigen Jungen war ein Schrank von einem Mann geworden. Ein Goldkettchen baumelte um seinen Hals, er gab den Macho. «Du weisst nicht, was die russische Armee mit dir macht», sagte er nach etlichen Gläsern Wodka, die er mit meinem Vater geleert hatte. Ich, kurz vor dem Abitur an einem deutschen Gymnasium, wusste es tatsächlich nicht. Ich hatte nur darüber gelesen: über die «Dedowschtschina», die grausame «Herrschaft der Grossväter», bei der Soldaten von anderen Soldaten oder Vorgesetzten misshandelt, ausgenommen, auch getötet werden.

«Du hast es gut hier, Schwester», sagte er zu mir, als er wieder ging. «Schwester», so werden in Russland auch Cousinen zweiten, dritten, vierten Grades genannt, nicht nur die leibliche Schwester. Der Macho stieg ins Flugzeug, und ich schüttelte nur den Kopf über diesen Wichtigtuer. Meinen «Brat», den Bruder.

Zurück in der russischen Steppe, fand Kolja keinen Job. Er fand Freunde. Mit ihnen hing er ab in einem Land, das die grösste Wirtschaftskrise seiner Geschichte durchlebte. In einer Stadt an der Grenze zu Kasachstan, wo Drogen und Aids Einzug gehalten hatten.

Kolja erinnerte sich an die Worte seines Vaters: Sei ein Mann, sei stark, wehre dich. Wie geht noch mal Starksein? Er probierte, was auch seine Freunde probierten. Es war berauschend. Er war high. Da ist es, das Glück der Erde. Und da waren sie, die Abstürze. Seine Schwester versuchte ihm gut zuzureden, nahm ihn zu sich, «Du musst von dem Zeug weg!». Sie half, ihr gewalttätiger Mann jagte Kolja weg. Die Schwester gab Geld. Das Geld war schnell alle. Kolja brach in Apotheken ein. Es ging ganz gut.

Kolja zückt das Messer

Kolja war auf seinen Trips. In dieser Zeit schrieb er Briefe an seine tote Grossmutter, schickte sie an ihre Adresse. Hier war er aufgewachsen, hier hatten wir oft zusammen gespielt. Er fand sich dort allein wieder, öffnete die geschriebenen Briefe, fiel ins Loch. Manchmal traf ihn seine Schwester dort an. «Du bist erbärmlich», sagte sie und half ihm immer wieder auf die Beine. Kolja schrie: «Babuschka, wo sind Sie?»

In Russland siezt man ältere Menschen, auch seine Nächsten. In Koljas und meiner Generation siezen manche sogar die Eltern. «Warum nehmen Sie mich nicht mehr in den Arm? Retten Sie mich!» Babuschka aber war nicht mehr da, sie konnte nicht trösten. Kolja brach weiter ein, stahl und stritt sich mit seinem Kumpel über die Beute. Der Kumpel schlug zu. Kolja zog ein Messer.

Zehn Jahre wegen Totschlags lautete das Urteil. Zehn Jahre, in denen die Päckchen mit ausgesuchtem Essen, Medikamenten, Kleidung, die «Peredatschki», wie sie in jeder russischen Strafkolonie von Verwandten gebracht werden, weil sie das Leben der Verurteilten retten, immer seltener eintrafen. Die Briefe der Schwester wurden immer seltener.

Sie arbeitete beim Staat und fürchtete, die Behörden könnten herausfinden, was mit ihrem Bruder geschehen war. Sie, die sich schliesslich vom Ehemann getrennt hatte, wollte den Job nicht verlieren, der ihr ein eigenständiges Leben im Haus der Grossmutter ermöglichte. Sie wollte immer seltener über Kolja sprechen, wollte die Schmach loswerden, wollte ihre Ruhe haben. Besucht hat sie ihren Bruder nie.

Ohnehin kam niemand von den Verwandten in der Strafkolonie vorbei. Manchmal rief Kolja die Tante im Ausland an. Wie er an ein Telefon gekommen war, sagte er nicht. Er wolle nur schnell grüssen, sagen, dass alles in Ordnung sei. In Ordnung aber war sein Leben nie gewesen.

Bestrafung statt Besserung

Das russische Gefängniswesen setzt auf Bestrafung statt Besserung. Das System geht auf die Zeiten des stalinistischen Gulag zurück und hat einen streng hierarchischen und militärischen Charakter. Wer in den russischen Strafvollzug gerät, entkommt ihm kaum. Kolja versuchte es erst gar nicht.

Nach seiner Strafe fand er sich 2012 auf der Strasse wieder. Er machte sich in einer Stadt auf dem Bau nützlich, in einer anderen als Fahrer. Seine Papiere bescheinigten ihm nicht, ein «unbedenklicher Mensch» zu sein. Die Kontrolle über dein Leben, so hatte es Kolja von seinem Vater vermittelt bekommen, «erlangst du nur, wenn du zuschlägst».

Er schlug wieder zu. Im Suff, auf dem Bau. Wieder Totschlag. Kolja wurde ein «Rezidiwist», ein Wiederholungstäter. Acht Jahre und zehn Monate verschwand er in der Strafkolonie, nun unter «strengem Regime», wo die Rechte und die Bewegungsfreiheit der Häftlinge noch eingeschränkter sind.

Die Verwandten gaben den «Nichtsnutz» auf. Nur hin und wieder recherchierte der Mann einer Cousine, ein Polizist, in den Sicherheitsbehörden, ob Kolja noch lebe. Hin und wieder meldete sich Kolja selbst. Bei seiner Schwester, die ihm versicherte, dass sie ihm helfen werde, wenn er rauskomme, aber nur, wenn er sich aus ihrem Leben heraushalte. Bei der Tante in Deutschland, also meiner Mutter, die so weit weg war, dass auch sie ihm lediglich zuhören, aber nicht helfen konnte.

Auf Mission in der Ukraine

Kolja ging in Berufung und versuchte wiederholt, Rechtsmittel einzulegen. Die Gerichte liessen ihn bis Ende 2022 die volle Strafe absitzen. Zurück in Freiheit, zog er, der zweifache Totschläger, von der Peripherie des Landes in eine andere Provinzstadt, weit weg von der Schwester, der Cousine, seinen ehemaligen Kumpels.

Er zog bei einer Frau ein, er wollte dieser Frau etwas bieten. Er hörte von der Möglichkeit, viel Geld zu verdienen, und glaubte, etwas «wahrhaftig Gutes» zu tun. Russlands Propaganda unterzieht jeden, der nie das Zweifeln gelernt hat, einer höllischen Psychotherapie: Die Gedemütigten und Machtlosen fühlen plötzlich die «Grossartigkeit der russischen Nation», sie sind stolz auf die schlichte Grösse ihres Landes, sind stolz auf die vermeintliche Stärke ihrer Armee, auf das angeblich «einzigartig Russische».

Was das konkret bedeutet, kann keiner von ihnen erklären. Den Verbitterten und Frustrierten gibt das Regime ein Ziel für ihre Wut: die Ukraine, den Westen an sich. So sehen sich die Verängstigten und Unsicheren auf einer grossen Mission, die all ihre Leiden und ihre Entbehrungen rechtfertigt.

Im Frühjahr 2024 sah Kolja seine Zeit gekommen und brach zu dieser Mission auf: als Freiwilliger in der Ukraine. In einem Land, in dem seine geliebte Babuschka geboren wurde. Aus dem sein Grossvater stammte, den er nie kennenlernte, von dem aber jeder in der Familie voller Achtung sprach, weil dieser sich älter machte, um im Zweiten Weltkrieg gegen das nationalsozialistische Deutschland zu kämpfen.

Kolja meinte nun, die «Sache des Grossvaters» zu Ende führen zu müssen. So trichtert es der Kreml dem Volk ein und zieht dabei unverhohlen den Bogen von damals zu heute. Das Verquere des russischen Präsidenten Wladimir Putin bei seiner «militärischen Spezialoperation» stellte auch Kolja nicht infrage.

«Ich bin hier wer. Ich zähle was. Ich diene.»

«Putin ist ein Arschloch, aber er hat Russland wieder zu einem Land gemacht, das jeder fürchtet», erzählte er der Tante in Deutschland. Da war er bereits bei Donezk in der Ukraine und richtete seine Waffe gegen «die Feinde». «Ich bin hier wer», sagte er. «Ich zähle was. Ich diene.» «Ein Mörder bist du, dein Grossvater würde sich im Grab umdrehen», entgegnete ihm meine Mutter. «Ja», sagte Kolja. «Ich liebe Sie, Tantchen.»

Kolja diente einem Land, das sein Leben zur Tragödie machte. Er tötete in dem Land seiner Vorfahren. Von klein auf lernte er Gewalt. Erniedrigungen. Schläge. Die Sehnsucht, so sein zu dürfen, wie er sein wollte, wurde aus ihm herausgeprügelt. Zurück blieben die Schrammen des Metalllineals, die Narben eines Jungen, der tanzen wollte und zum Töten von Kindern auszog, die vielleicht auch nur davon träumen, auf einer Bühne zu schweben.

Dann kam kein Lebenszeichen mehr von Kolja. Meine Mutter hofft, er sei in Gefangenschaft. «Vielleicht, es könnte doch sein», so versucht sie sich zu beruhigen. Niemand weiss, wo «der Kleine» jetzt ist, was mit ihm passiert ist. Sein Vater hat ihn längst verstossen. «Du bist nicht mehr mein Sohn», hatte er ihm auf der Polizeiwache, seine Tochter neben sich, ins Gesicht geschrien, nachdem Kolja zum ersten Mal getötet hatte.

Vor wenigen Tagen erhielt der Vater in der russischen Steppe einen zerknitterten Zettel: «Verschollen.» Was bleibt, ist die Ungewissheit und die Aufforderung an die Verwandten, ihre DNA abzugeben, um Kolja zu identifizieren, sollten seine Überreste gefunden werden. Wahrscheinlich liegt er auf einem ukrainischen Feld, sein Blut längst eingetrocknet. Ein Sohn, ein Neffe, ein Bruder, ein Cousin, ein Freund, ein Partner. Kein Held.

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