Literatur über SS-Grossväter und Nazi-Mütter boomt. Das jüngste Beispiel stammt vom «FAZ»-Autor Lorenz Hemicker. Sein Buch zeigt die Wichtigkeit, aber auch die Schwächen der deutschen Erinnerungskultur.
Seinen Grossvater Ernst hat Lorenz Hemicker nie kennengelernt. Er starb 1973, fünf Jahre vor seiner Geburt. Aber er kennt Ernst aus Akten und Berichten von Zeitzeugen. Als den SS-Mann Ernst Hemicker, der im Winter 1941 in einem Wald bei Rumbula mehrere Massenerschiessungen beaufsichtigte. Ernst schaute zu, wie lettische Milizen und SS-Männer über 27 000 jüdische Frauen, Kinder und Männer aus dem Ghetto von Riga an den Rand einer Grube führten – und ihnen befahlen, sich mit dem Gesicht nach unten auf die Leichen der bereits Erschossenen zu legen.
Das Grab, in dem die Leichen gestapelt wurden, hatten sowjetische Kriegsgefangene mit blossen Händen ausgehoben. Und Ernst Hemicker, von Beruf Tiefbauingenieur, hatte es geplant. Für jede Leiche, so rechnete er später bei einer gerichtlichen Einvernahme vor, brauche man 1,8 bis 2 Meter. Alles habe reibungslos geklappt.
Eine typische Nazi-Karriere
Lorenz Hemicker arbeitet als Journalist bei der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» und hat die Geschichte seines Grossvaters Ernst akribisch recherchiert. In mehreren Zeitungsartikeln und im kürzlich erschienenen Buch «Mein Grossvater, der Täter» zeichnet er eine Karriere nach, wie es sie in Deutschland zu Hunderttausenden gab: Ein Kriegsfreiwilliger aus gutem Haus kehrt nach dem Ersten Weltkrieg enttäuscht zurück, engagiert sich in nationalistischen Freikorps und Kampfbünden, tritt während der Weltwirtschaftskrise der SS und später der NSDAP bei und stellt sich willfährig in den Dienst der Vernichtungsmaschinerie.
Nach dem Krieg führt Ernst Hemicker, von der bundesdeutschen Justiz kaum behelligt, ein Leben zwischen Frühschoppen und Dämmerschoppen mit alten Kumpanen und vielen Reval-Zigaretten. Seinen Kindern verschweigt er seine Taten, sein Sohn – Lorenz Hemickers Vater – ahnt erst als Erwachsener, was gewesen sein könnte, will es aber auch nicht so genau wissen.
Antisemiten werden zu Widerstandskämpfern
Mit seiner Spurensuche ist Lorenz Hemicker nicht allein. Vielmehr ist aus der innerfamiliären Vergangenheitsbewältigung ein eigenes literarisches Genre entstanden. Davon zeugen Bücher und Zeitungsartikel mit Titeln wie: «Wir müssen über Opa reden», «Der Nazi in meiner Familie», «Mein Opa war ein Kriegsverbrecher» oder «Mein Vater, ein Werwolf».
Neue Erkenntnisse über den Nationalsozialismus oder den Holocaust liefern diese Berichte meist kaum. Aber sie offenbaren viel über die kollektive Verdrängung im Deutschland der Nachkriegszeit. Den Unwillen der von alten Nazis durchsetzten Justiz, die Täter konsequent zu verfolgen. Und vor allem die Zweifel, die Schuldgefühle und die Scham der Angehörigen, den Opa oder den Vater nie richtig zur Rede gestellt zu haben; ihr Reflex, sich an «jeden noch so entlegenen Hinweis» zu klammern, wonach ihre Grosseltern etwas Gutes getan haben. So dass aus «Antisemiten Widerstandskämpfer und aus Gestapo-Beamten Judenbeschützer» wurden, wie der Soziologe Harald Welzer 2002 im Buch «Opa war kein Nazi» feststellte.
Diese Omertà ist zumindest in Teilen der deutschen Öffentlichkeit einem Bedürfnis nach Aufklärung gewichen. Der Westdeutsche Rundfunk der ARD gibt unter dem Titel «War Opa ein Nazi? So kannst du deine Familiengeschichte recherchieren» sogar Tipps, wie es richtig geht.
Wer hat den schlimmeren Grossvater?
Wie wichtig diese Auseinandersetzung ist, zeigt die Tatsache, dass gemäss Umfragen immer noch bloss zehn Prozent der Deutschen glauben, ihre Vorfahren seien NS-Täter gewesen. Eine Mehrheit ist überzeugt, ihre Familie habe Juden und anderen Verfolgten geholfen.
Viele wünschen sich einen Schlussstrich unter die Vergangenheit, wie ihn manche AfD-Vertreter propagieren, die den vermeintlichen «Vogelschiss» der NS-Zeit am liebsten aus der deutschen Geschichte tilgen würden. Wieder andere gebärden sich so, als könnten sie den verpassten Widerstand nachholen, indem sie überall Faschismus wittern.
Jene, die sich ehrlich für die Taten ihrer Vorfahren interessieren, werden häufig von Zweifeln gequält. Einerseits fragen sie sich, wie viel sie mit ihren Nazi-Ahnen gemeinsam haben. Andererseits wünschen sie sich, dass diese zumindest gegen das Morden protestierten oder Mitleid mit den Opfern hatten (Lorenz Hemicker findet im Fall seines Grossvaters keine entsprechenden Beweise).
Werden die Geschichten aufgeschrieben, ist die Versuchung nicht weit, sich wegen des in der Familie erlebten Leids zum Opfer zu stilisieren – und sich an einem inoffiziellen Wettbewerb zu beteiligen, wer die schlimmste Oma oder den schlimmsten Opa hat.
Die Angst, sich als Täterkind zu wichtig zu nehmen
Der ehemalige «Spiegel»-Autor Cordt Schnibben hat diese Selbstzweifel 2014 in einem Artikel über seine Eltern geschildert. Beide waren fanatische Anhänger der Nazis, der Vater beteiligte sich kurz vor Kriegsende an der Ermordung eines angeblichen «Volksverräters». Wie Lorenz Hemickers Grossvater zeigte er kaum Reue. Bücher von Nazi-Nachkommen, so schreibt Schnibben, seien ihm lang suspekt gewesen, «ich wollte keine Geschichte lesen von Leuten, die sich das Leben erträglicher machen, indem sie sich zu Opfern machen».
Seine Meinung habe er geändert, als er eine ZDF-Serie gesehen habe, in der keine «überzeugten Durchschnitts-Nazis» wie sein Vater vorgekommen seien. Aber noch immer beschäftige ihn die Angst, «mich als Täterkind zu wichtig zu nehmen». Dies umso mehr, als es mittlerweile Treffen in KZ-Gedenkstätten gebe, an denen sich alles um Täterkinder drehe. Da träfen dann die Nachkommen von Ortsgruppenleitern, Henkern und Lagerärzten mit den Söhnen von Hans Frank zusammen, dem einstigen Generalgouverneur und «Schlächter von Polen».
Schnibbens eigener Artikel über seinen Werwolf-Vater ist nicht frei von Kitsch, etwa wenn er beschreibt, wie ihm seine Eltern erschienen seien, als er «Schindlers Liste» gesehen habe, der Vater aufseiten der Mörder, «das Gewehr an der Wange».
«Der Bauleiter der Todesstollen»
Gerade wenn die Vergangenheitsbewältigung medial inszeniert und vermarktet wird, kann sie schnell selbstgefällig und aufschneiderisch wirken. Etwa wenn die «Frankfurter Allgemeine» die Ahnenforschung ihres Mitarbeiters Lorenz Hemicker wie eine Enthüllungsgeschichte über einen Prominenten anpreist. Nachdem Hemicker herausgefunden hatte, dass sein Grossvater nicht nur im Baltikum, sondern auch in Österreich im Rahmen eines mörderischen Rüstungsprojekts für die SS gearbeitet hatte, platzierte die Zeitung auf Google diesen Cliffhanger: «Ich glaubte, den Weg meines Grossvaters in der NS-Zeit zu kennen. Dann stiess ich auf Projekt ‹Quarz›.» Der Titel des Artikels lautete «Der Bauleiter der Todesstollen».
Dieser Stil passt nicht recht zu Hemickers Buch, das meist nüchtern erzählt, wie der Enkel alle Hoffnungen verliert, dereinst mit Grossvater Ernst Frieden zu schliessen. Er fühle sich, so schreibt Hemicker bei einem Besuch der Gedenkstätte von Rumbula, ein wenig «wie ein Pilger, der ein Stück von sich selbst finden, der Abbitte leisten will». Auf dieser Mission offenbart Hemicker unfreiwillig auch den wohl problematischsten Aspekt der deutschen Erinnerungskultur: den Glauben, besser als die Nachkommen der ehemaligen Opfer zu wissen, was sie heute bedroht.
Blind für Gefahren, die nichts mit der AfD zu tun haben
Deutlich wird das, als Hemicker beschreibt, wie er bei seinen Recherchen in Lettland auf einen Vertreter der jüdischen Gemeinde von Riga trifft. Der Deutsche erzählt dem Mann stolz, dass Klezmer-Musik in Berlin gerade «richtig in sei», muss dann aber mit Unwohlsein zur Kenntnis nehmen, dass sich der lettische Jude besorgt zeigt über die wachsende Zahl der Muslime in Deutschland.
«Wie kann ein Angehöriger einer Religionsgemeinschaft, der ein Schicksal wie den Holocaust erlitten hat, einen solchen Hass auf eine andere Religion empfinden?», fragt sich da der Enkel des SS-Grossvaters. Trotz vielem Nachdenken fällt ihm nur eine simple Antwort ein: «Wie jeder andere auch.»
Offensichtlich hat Hemicker nie davon gehört, wie viele antisemitische Taten heute in Europa von Muslimen ausgehen und wie populär Adolf Hitler in islamischen Ländern ist. Oder dass SS-Verbrecher nach dem Krieg nicht zufällig in arabische Staaten geflüchtet sind. Ebenso scheint ihm die Charta der Hamas nicht bekannt zu sein, die dieselben Verschwörungstheorien zitiert wie einst die NSDAP und am 7. Oktober 2023 das schlimmste Massaker an Juden verübt hat seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.
Die intensive Beschäftigung mit deutscher Schuld und die Sehnsucht, diesmal auf der richtigen Seite zu stehen, führen so zu einer neuen Form der Verdrängung, zu einer Blindheit gegenüber Gefahren, die nicht von der AfD oder anderen Nationalisten ausgehen.
Lesenswert ist «Mein Grossvater, der Täter» dennoch. Ernst Hemicker wurde nach dem Krieg als Mitläufer eingestuft und galt damit als «entnazifiziert». In den 1960er Jahren musste er einige Male bei der Staatsanwaltschaft antreten, weil diese wegen Beihilfe zum Mord ermittelte. Verurteilt hat ihn die deutsche Justiz nie.
Lorenz Hemicker: Mein Grossvater, der Täter. Eine Spurensuche. Rowohlt Berlin, 2025. 256 S., Fr. 34.90.