Mittwoch, Januar 15

Der amerikanische Künstler hat die Skulptur radikal neu gedacht: weg vom in sich geschlossenen Objekt, hin zum Raum. Sein Werk hat die Kunstrichtung der Minimal Art vorgespurt.

Manchmal kommt man seiner Kunst näher, als es einem lieb ist. Denn ehe man es sich versieht, steht man schon darauf. Und jedes Mal irritiert der Fauxpas von neuem. Ein Kunstwerk mit Füssen treten? Das geht doch nicht. Vor allem wenn es von einem Übervater der amerikanischen Nachkriegskunst stammt. Das passiert im Fall von Carl Andre aber laufend. Und viele machen diese äusserst irritierende Erfahrung in all den öffentlichen Kunstsammlungen dieser Welt, wo auch Minimal Art gezeigt wird. Carl Andre hat diese Kunstrichtung massgebend mitgeprägt. Und wie kein anderer die Kunst buchstäblich vom Sockel geholt.

Er gilt als Vordenker der Minimal Art, dieser kühnen Kunstrichtung, die den Skulpturbegriff auf den Kopf stellte. Kunstwerke sollten nicht mehr länger darstellen, Gemälde nichts mehr erzählen. Sie sollten sein, was sie materiell sind. Carl Andre löste das Motto von Frank Stella, den er in New York traf, sozusagen wörtlich ein. Der Pionier der Farbfeldmalerei verkündete: «You see what you see.» Und dies gilt insbesondere für Andres Bodenskulpturen, rechteckig oder quadratisch und Kante an Kante auf dem Boden ausgelegte Metallplatten. War das noch eine Skulptur? Oder einfach ein metallener Fussboden?

Mit diesen bahnbrechenden Werken stellte der 1935 in Neuengland geborene Bildhauer die Skulptur vor allem auch auf die Füsse. Denn Skulptur ist auch, was wir als Körperlichkeit erfahren, wenn wir den Raum beschreiten. Seine flachen Bodenskulpturen forcierten dieses Raumgefühl, ja vermögen es zu triggern wie kaum eine andere Kunstform. Andre galt unter den Minimalisten, zu welchen neben Stella auch Donald Judd oder Sol LeWitt zählen, als der radikalste. Er konfrontierte die Betrachter mit seinen Kunstwerken am unmittelbarsten.

Brâncuși als Inspiration

Meist sind seine Werke aus Stahl, aber auch aus Kupfer, Blei, Aluminium. Andre hat auch mit Ziegelsteinen gearbeitet. Oder mit Holz. Er stapelte oder schichtete seine Einzelelemente, anfangs grobe Holzscheite, dann Holzklötze, zu ganzen Raumskulpturen. Die einzelnen Teile sind austauschbar. Die unterschiedlichen Anordnungen und Auslegeordnungen machen den umgebenden Raum sichtbar und beziehen ihn in die Skulptur mit ein. Besucher können sich in das Kunstwerk hineinbegeben und werden sozusagen Teil davon.

Die Idee, Elemente zu einem Raumkörper zu kombinieren, kam Carl Andre Mitte der fünfziger Jahre, als er nach New York zog. Ein Schlüsselerlebnis war die Begegnung mit der Kunst des rumänischen Bildhauers Constantin Brâncuși. Seine frühen Holzskulpturen orientieren sich in ihrer Formensprache stark an Brâncușis berühmter «Endlosen Säule» von 1937. Diese besteht aus seriellen Formelementen – eine Vorgehensweise, die bei der Minimal Art Schule machen sollte. «Für mich war Brâncuși ein ‹Minimal›-Künstler, der sich auf die grundlegendsten Elemente reduzierte», sagte Andre im Nachhinein einmal.

Von 1960 bis 1964 arbeitete Carl Andre bei der Pennsylvania Railroad in New Jersey als Bremser auf Güterzügen und Schaffner. Dieser Lebensabschnitt war wichtig für seine künstlerische Entwicklung. Obwohl er in jener Zeit kaum zum künstlerischen Arbeiten kam. Seine Kunstproduktion beschränkte sich auf Gedichte auf Schreibmaschine, die er aus zufälligen Textfunden generierte.

In jener Zeit entdeckte Andre für sich die Erfahrung der Strasse: «Meine Vorstellung von einer Skulptur ist eine Strasse. Eine Strasse erschliesst sich nicht von einem bestimmten Punkt aus oder an einem bestimmten Punkt. Ich glaube, die Skulptur sollte einen unendlichen Blickpunkt haben.» Das hat er am treffendsten in seinen Bodenplatten eingelöst: «Du kannst in der Mitte davon stehen, und du kannst hinausschauen», hatte er 1970 einer Kunstkritikerin erklärt.

Schatten über seiner Karriere

Seine erste Einzelausstellung fand 1965 in der Tibor de Nagy Gallery in New York statt. Im März 1969 nahm er an Harald Szeemanns legendärer Ausstellung «When Attitudes Become Form» in der Kunsthalle Bern teil. Seinen Durchbruch hatte Andre 1970 mit einer Solo-Show im Guggenheim Museum in New York. Andres Arbeiten waren an der Documenta 4, 6 und 7 zu sehen. 2011 wurde ihm der Zürcher Roswitha-Haftmann-Preis zugesprochen.

Heute zählt Carl Andre zum Vermächtnis der amerikanischen Nachkriegskunst. Aber lange galt er auch als umstritten. Amerikanische Museen mieden ihn. Und dies nicht wegen seiner revolutionären Kunstauffassung. Seine Frau, die kubanische Performancekünstlerin Ana Mendieta, war 1985 ums Leben gekommen. Die Ursache ihres Todes wurde nie restlos aufgeklärt. Andre wurde angeklagt, Mendietas Fenstersturz mitverursacht zu haben. Schliesslich sprach ihn das Gericht frei. Seine Karriere blieb aber bis zuletzt von Mendietas Tod überschattet. – Am 24. Januar ist Carl Andre im Alter von 88 Jahren in New York gestorben.

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