Freitag, Februar 21

Dem Fantasy- und Science-Fiction-Autor Neil Gaiman werden schwerwiegende sexuelle Übergriffe vorgeworfen. Er bestreitet die Vorwürfe.

Neil Gaiman schrieb schaurige Kinderbücher wie «Coraline» und die Graphic Novel «The Sandman», die der Schriftsteller Norman Mailer einen «Comic für Intellektuelle» nannte. Immer in Schwarz gekleidet und mit wildem Haar, inszenierte sich der englische Fantasy- und Science-Fiction-Autor wie ein Rockstar. Seine Popularität umspannte alle Medien. Er hatte 2018 einen Gastauftritt in der Serie «Big Bang Theory», wurde für mehrere Folgen der «Simpsons» als Figur gezeichnet und schrieb zwei Folgen der Kult-Serie «Doctor Who». Seine Bücher, von denen sich weltweit rund 50 Millionen Exemplare verkauften, wurden verfilmt und in Serien für verschiedene Streaming-Plattformen übersetzt.

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Nun werfen dem 64-Jährigen mindestens acht Frauen sexuellen Missbrauch vor. Alle Frauen sind Jahrzehnte jünger als er und standen teilweise in Abhängigkeitsbeziehungen mit ihm. Einigen soll er Schweigegeld bezahlt haben. Die Anschuldigungen basieren auf ausführlichen Recherchen des «New York Magazine».

Alte Debatte zur Trennung von Kunst und Künstler

Noch ist nichts bewiesen, ein Gerichtsverfahren steht an, der Autor streitet die Vorwürfe ab. «Ich bin weit davon entfernt, ein perfekter Mensch zu sein, aber ich habe mich nie auf eine nicht einvernehmliche sexuelle Aktivität mit jemandem eingelassen. Niemals», beteuerte er auf seiner Website. «Einige der schrecklichen Geschichten, die heute erzählt werden, haben sich einfach nie ereignet, während andere so entstellt sind, dass sie nichts mit der Realität zu tun haben.» Er schrieb, er bereue, nachlässig mit den Herzen und Gefühlen anderer umgegangen zu sein.

Schon jetzt gilt er als gecancelt, zumindest was die Verfilmung seiner Werke betrifft. Disney hat die Produktion eines auf seinem «Graveyard-Buch» basierenden Films pausiert. Prime Video lässt die dritte und letzte Staffel von «Good Omens», die Gaiman mit Terry Pratchett schrieb, mit nur einer Folge auslaufen. Eine geplante zweite Netflix-Staffel von «The Sandman» soll zwar gedreht werden; eine dritte wird es aber nicht geben. Der Verlag «Dark Horse Comics» trennte sich ebenfalls von Gaiman. Sein Fall entfacht die alte Debatte über die Trennung von Kunst und Künstler neu. Wie auch immer der Gerichtsprozess ausgehen wird: Seine dunklen Bücher dürften von jetzt an mit anderen Augen gelesen werden.

Bereits im Januar 2023 war ein Polizeibericht erstellt worden, in dem Gaiman eines sexuellen Übergriffs beschuldigt wurde. Im Sommer 2024 äusserten sich mehrere Frauen mit ähnlichen Vorwürfen in einem Podcast von Tortoise Media. Es wurde wiederholt behauptet, dass Gaiman während des angeblichen Missbrauchs «Master» genannt werden wollte, während er die Frauen als «Sklaven» behandelte.

Eine der Frauen, die Neuseeländerin Scarlett Pavlovich, hat jetzt Klage gegen ihn eingereicht. Gaimans Frau habe die damals obdachlose 22-Jährige 2020 kennengelernt und als Kindermädchen eingestellt. Während Pavlovich mit den Gaimans in einem Haus lebte, habe Gaiman sie mehrfach sexuell genötigt, unter anderem in Gegenwart seines kleinen Sohns. Trotzdem setzte sie ihre Arbeit für ihn fort, da sie kein Geld gehabt habe, Gaiman ihr mehrfach ihren Lohn vorenthielt und ihr zudem versprochen haben soll, sie bei einer Karriere als Schriftstellerin zu unterstützen.

Von Scarlett Pavlovichs Klage ist auch Gaimans Frau Amanda Palmer betroffen, mit der er eine offene Ehe führte. Der amerikanischen Musikerin wird vorgeworfen, von früheren Übergriffen ihres Mannes gewusst zu haben. Das habe sie Pavlovich gesagt. Das ehemalige Kindermädchen verklagt das Ehepaar nun wegen Menschenhandels und fordert einen Schadensersatz in Millionenhöhe.

Im Artikel des «New York Magazine» heisst es, dass alle betroffenen Frauen sich in gewissem Masse Gaimans Wünschen gebeugt hätten. Sie behaupteten aber, dass sie weder spezifischen BDSM-Aktivitäten zugestimmt hätten, die ihrer Meinung nach stattgefunden haben, noch seien diese vorher besprochen und vereinbart worden. Die BBC berichtete, nach dem Podcast im vergangenen Sommer habe Gaimans Vertreter erklärt, dass «sexuelle Erniedrigung, Fesselung, Dominanz, Sadismus und Masochismus vielleicht nicht jedermanns Sache sind, aber zwischen einwilligenden Erwachsenen ist BDSM rechtmässig».

Offener Brief an Putin

Neil Gaiman entstammt einer jüdischen Familie, die sich der Scientology-Sekte anschloss, von der er sich später distanzierte. Ab seinem vierten Lebensjahr entwickelte er sich zum gierigen Leser und wusste früh, dass er Schriftsteller werden wollte. Mit seiner ersten Frau und drei Kindern lebte er in den Vereinigten Staaten. 2020 siedelte er mit seiner zweiten Frau, Amanda Palmer, und dem damals fünfjährigen gemeinsamen Sohn nach Neuseeland. Während des Lockdowns zog er auf die Isle of Skye – ohne Frau und Kind. Palmer wollte die offene Ehe beenden. Sie kamen wieder zusammen und trennten sich wieder. Gaiman und seine Frau leben mittlerweile in Scheidung.

Gaiman ist als Schöpfer starker, weiblicher Figuren bekannt und setzte sich vehement für die #MeToo-Bewegung ein. Er unterstützte die Ukraine im Krieg gegen Russland und kündigte seinerzeit auf Twitter an, dass er Verträge mit russischen Verlagen nicht verlängern wolle. In einem offenen Brief an den russischen Präsidenten Wladimir Putin forderte er 2023 mit mehr als hundert anderen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens die Freilassung des Gefangenen Alexej Nawalny.

J. K. Rowling meldete sich zum Fall Gaiman auf X zu Wort: «Das literarische Publikum [. . .] reagierte seltsam zurückhaltend auf die zahlreichen Anschuldigungen gegen Neil Gaiman, die von jungen Frauen erhoben wurden, die sich nie getroffen hatten, aber – wie bei Harvey Weinstein – bemerkenswert ähnliche Geschichten erzählen.» Elon Musk schreibt über die Zurückhaltung der Literaturwelt: «Ihr Schweigen ist ohrenbetäubend.»

Dunkle Räume in seinem Kopf

«Niemand lernt Neil kennen», sagte Amanda Palmer 2018 in einem Interview mit der «Sunday Times». «Ich auch nicht. Ich bin seit fast einem Jahrzehnt mit ihm zusammen und finde immer noch hinter jeder Ecke gigantische Überraschungen.» Sie hielt sein produktives Schaffen von seltsamen Fiktionen für eine Verschleierung: «Er versteckt sich hinter vielen Masken.»

Sie vermutete, dass selbst Gaiman sich nicht wirklich kenne. «Es ist, als gäbe es ganze Räume in seinem Kopf, die er nie betreten wollte. Vielleicht sind sie zu dunkel, oder vielleicht sind sie von Geistern bevölkert, mit denen er lieber nicht reden möchte.» Im selben Interview dachte Gaiman über die Flüchtigkeit von Ruhm und Erfolg nach: «Man weiss nie, wofür man einmal in Erinnerung bleiben wird. Nichts lehrt einen mehr Bescheidenheit als ein Blick auf die Bestsellerlisten vergangener Zeiten.»

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