Montag, November 25

Gjader in Nordalbanien ist zum Testzentrum europäischer Migrationspolitik geworden – betrieben von Italienern. Die Dorfbewohner sind zunächst skeptisch. Doch dann melden sich ihre Kinder zu Wort. Eine Reportage.

Am Mittwoch vor zwei Wochen brachten die Carabinieri die ersten Migranten ins Dorf. Auf diesen Moment hatte sich Aleksander Preka sechs Monate vorbereitet. Sein Land schrieb europäische Migrationsgeschichte. Und im Zentrum stand seine Gemeinde.

Der Dorfvorsteher von Gjader in Nordalbanien hatte kurz zuvor auf dem Fernsehschirm, der über seiner Ladentheke hängt, ihre verpixelten Gesichter gesehen. Er sah, wie ein Dutzend junge Männer in weissen Flipflops und mit gesenkten Köpfen zum Aufnahmezentrum unten am Hafen von Shengjin schlurfte. Neben ihnen gingen bewaffnete italienische Polizisten und Mitarbeiter des neu gebauten Zentrums. Einige kannte Preka persönlich – es waren Italiener und Albaner, die vor kurzem ins Dorf gezogen waren und in seinem Laden einkauften.

Die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni will einen Teil des Migrantenstroms nach Nordalbanien umlenken. Flüchtlinge aus Ländern, die offiziell als sicher gelten, werden von der italienischen Marine im Mittelmeer aufgegriffen und an die EU-Aussengrenze in das geschlossene Camp von Gjader gebracht, wo die Asylverfahren durchgeführt werden sollen. Sie haben wenig Aussicht auf Asyl. Maximal einen Monat sollen sie festgehalten werden, bis klar ist, ob ihnen der Grenzübertritt nach Italien gewährt wird.

Melonis Gefängnis steht leer

Die meisten aber sollen, so Melonis Plan, von dort so schnell wie möglich zurück in ihre Ursprungsländer geschafft werden. Sie hofft auf Abschreckung: Menschen, die keinen Anspruch auf Schutz haben, werden die gefährliche Fahrt über das Meer nicht antreten, wenn die Reise in Albanien endet.

Das Experiment wird von europäischen Regierungen gespannt beobachtet. Und auch Brüssel schaut interessiert zu: Die EU-Kommissions-Präsidentin Ursula von der Leyen sagte, man müsse vom albanischen Beispiel lernen und die Möglichkeit von «Rückkehrzentren» in anderen Drittstaaten prüfen. Letzte Woche reiste sie nach Albanien, um den Ministerpräsidenten Edi Rama zu treffen.

Etwa zur selben Zeit, als von der Leyen in einer schwer bewachten Wagenkolonne durch Tirana kurvt, sitzt Preka vor seinem Laden in Gjader und gähnt. Neben ihm türmen sich Säcke mit Kartoffeln, am Fernseher laufen die Nachrichten. Auf den medialen Paukenschlag, mit dem Italien seine Drittstaatenlösung präsentierte, folgte Stillstand. Ein italienisches Gericht hatte befohlen, alle verbliebenen Flüchtlinge aus Albanien auf italienisches Staatsgebiet zu bringen, damit sie dort ein reguläres Asylverfahren durchlaufen. Das Gefängnis in Gjader wird nur noch von seinen Wächtern bewohnt.

Generationen liefen davon

Preka fragt, ob es okay sei, wenn er sich nicht umziehe. Mit Journalisten hat er jetzt nicht mehr gerechnet. Heute war er schon früh bei der Traubenernte – es muss jetzt schnell gehen mit der Weinherstellung. Über dem Laden ist Prekas Wohnung, im Garten grunzen die Schweine, die regelmässig auf seinem Teller landen. Er mustert seine riesigen Hände, die Nägel schwarz vom Weintrester. Preka ist ein nüchterner Mensch. Ende der 1980er Jahre hat er die Kommunisten flüchten sehen, die Euphorie erlebt und das Chaos danach. Preka und seine Frau sassen die Wirtschaftsdepression aus, ernährten sich von dem Boden rund um Gjader, der seiner Familie seit Generationen gehört und den er nach dem Ende der Diktatur vom Staat zurückerhielt.

In den 1990er Jahren lief dem Dorf eine ganze Generation davon, auch Prekas Söhne wanderten aus. Die Regierung in Tirana hatte der Flucht der Jungen nichts entgegenzusetzen. Das Land versank in Korruption, wegen der anhaltenden Abwanderungen fehlen dem Arbeitsmarkt die Menschen.

Aleksander Preka kann nicht aufhören zu gähnen. Der 64-Jährige und seine Frau haben mehrere Jobs, mit denen sie sich über Wasser halten: einen Lebensmittelladen, ein Café, einen Landwirtschaftsbetrieb mit Weizenfeldern, Weinanbau und Schweinezucht: Und dann ist da noch seine Rolle als Dorfvorsteher, für die ihm der Staat eine kleine Vergütung bezahlt. Seine Kinder sind längst erwachsen und wie Hunderte andere aus Gjader ins Ausland gezogen, um dort eine sichere Existenz aufzubauen.

«Was soll uns das bringen?»

Nein, Preka war nicht von Anfang an Feuer und Flamme für Melonis Idee, das stellt er gleich klar. Dass ausgerechnet Gjader zum Testlabor der europäischen Migrationspolitik werden soll, machte ihn zunächst skeptisch. Im März hatten sie aus den Medien erfahren, dass seine 500-Seelen-Gemeinde von den albanischen Behörden ausgewählt worden sei für den Bau des Gefängnisses. «Doch die Zeitungen schreiben über vieles, das nicht eintrifft», sagt Preka.

Aber dann sei er von Vertretern der Kommune Lezha, zu der Gjader gehört, offiziell über das Vorhaben informiert worden und habe sich umstimmen lassen. Dutzende, vielleicht sogar Hunderte von italienischen Beamten würden eine Unterkunft brauchen, hiess es. Sie würden hier einkaufen und leben. Das geschlossene Lager am Dorfrand, das bis zu 3000 Migranten beherbergen kann , würde Arbeitsplätze für die lokale Bevölkerung schaffen: Ingenieure und Handwerker für den Bau und für den Betrieb, Wachpersonal ausserhalb des Lagers, Putzequipen, Köche, Fahrer und Haustechniker. «Heute bin ich super pro», sagt Preka und meint damit, dass er voll hinter dem italienischen Projekt in seinem Dorf steht.

Dorfvorsteher Preka sah eine Chance für seine schrumpfende Gemeinde, die vor 30 Jahren noch fast 2000 Einwohner und heute je nach Zählweise ein paar hundert zumeist ältere Einwohner hat. Er berief eine Gemeindeversammlung ein und informierte über die Pläne, die vom albanischen Ministerpräsidenten Edi Rama persönlich überwacht werden sollten. Viele waren skeptisch. «Was soll uns das bringen?», fragten sie.

Verlorenes Paradies

Die meisten Bewohner von Gjader sind im Pensionsalter, bekommen vom Staat umgerechnet etwa 200 Euro Rente. Stehen grössere medizinische Behandlungen an, sind sie auf das Geld ihrer Kinder im Ausland angewiesen. Was, ausser der ungemütlichen Aussicht auf einen Aufstand von Tausenden eingesperrter Flüchtlinge hätten sie von diesem Camp in der Nachbarschaft zu erwarten?

Da kam Preka die Idee, was gegen die Bedenken seiner Gemeinde zu machen sei. «Ich schlug vor, dass wir unsere Kinder anrufen und um Rat fragen: Was hält ihr vom Ausschaffungsgefängnis?» Sie selbst waren ausgewandert, waren von den Italienern, den Briten oder den Griechen aufgenommen worden. Mit ihrer Erfahrung würden sie wissen, was zu tun sei.

Die Kinder von Gjader teilten die Skepsis ihrer Eltern nicht. Sie sahen in Melonis Abschiebegefängnis eine Chance für den Heimatort. Manche hatten Häuser gekauft in Gjader, die sie nur für einige Wochen, wenn sie zu Besuch bei ihren Eltern waren, nutzten. Man würde sie an italienische Beamte oder Albaner vermieten, die Arbeit im Lager gefunden hatten.

Auch Preka rief seine Söhne an. Beide leben in Italien. Einer arbeitet als Busfahrer und hat inzwischen die italienische Staatsbürgerschaft. Der andere hat im benachbarten Lezha in ein Restaurant investiert und pendelt zwischen Albanien und Italien. Der Erste erhielt eine Stelle angeboten als Busfahrer, um die Migranten von Shengjin ins 20 Kilometer entfernte Gjader zu fahren. Und der Ehefrau des anderen Sohnes bot man eine Arbeit in der lokalen Verwaltung des Camps an.

Preka sah eine Chance, seine Söhne, Schwiegertöchter und Enkel endlich wieder um sich zu versammeln. Warum auch nicht? Gjader ist ein idyllischer Ort mit renovierten Häuschen, üppigen Gärten und Zufahrten so breit wie die Autobahn nach Tirana. Die katholische Kirche wurde eben erst frisch renoviert, ein italienischer Pfarrer liest dreimal die Woche die Messe.

Falsche Hoffnungen?

Die Siedlung ist von saftiger Vegetation umgeben, Eukalyptusbäume wachsen neben Granatapfelstauden, und auf der alten Landebahn des Militärflughafens weiden Schafherden neben den Schweinen, die in der Erde nach vergessenen Kartoffeln wühlen. In Aleksander Prekas Augen ist Gjader nicht weniger als das verlorene Paradies vergangener, glücklicher Tage. Melonis Abschiebegefängnis sieht er als Chance, es wieder instand zu setzen.

Nichts als falsche Hoffnungen seien das, sagt Agron Shehaj. Flausen, die der Regierungschef Edi Rama in die Köpfe der Menschen von Gjader gesetzt habe. An einem warmen Herbstabend sitzt der Parlamentsabgeordnete im Sitzungszimmer seines Büros mitten im Vergnügungsviertel von Tirana. Für Shehaj ist das Empfangszentrum in Shengjin und das Gefängnis in Gjader nichts anderes als eine Schnapsidee des Autokraten Rama, dem die Europäer, von Blindheit geschlagen, hofieren.

«Welches Problem unseres Landes wird mit einem solchen Migrationsdeal gelöst?», fragt er rhetorisch. «Richtig: kein einziges.» Shehaj sagt, das albanische Problem Nummer eins sei die Korruption. Nummer zwei: die unaufhörliche Abwanderung, die schon fast zur Identität jedes Albaners und jeder Albanerin gehöre. Beides, Korruption und Emigration, sieht der Oppositionspolitiker in engem Zusammenhang.

«Dass die jungen Leute Albanien in Scharen verlassen, liegt nicht an der fehlenden Arbeit.» Ursache sei vielmehr die chronische Müdigkeit, die sich in Albanien breitgemacht habe. Wer in dieser Gesellschaft vorwärtskommen wolle, müsse Beziehungen haben und bereit sein, Bestechungsgelder zu bezahlen. Solange das so sei, sagt Shehaj, würden die Jungen abwandern.

Albanien hat grössere Sorgen

Er selbst emigrierte in den 1990er Jahren nach Italien, studierte in Florenz Wirtschaft und zog 2005 zurück in die alte Heimat, wo er eine Familie und ein Unternehmen im Telemarketing gründete. Inzwischen ist Shehaj nicht nur einer der erfolgreichsten Unternehmer Albaniens, sondern auch gewählter Abgeordneter in der Opposition.

Draussen ist es inzwischen dunkel, und das Nachtleben erwacht: Die Menschen sitzen in Freiluftbars beim Feierabendbier, Touristen besuchen Tavernen in alten Gemäuern, über allem schwebt die Stimme des Muezzins, der zum Abendgebet ruft.

Der Oppositionspolitiker muss zum nächsten Termin. Shehaj macht deutlich, dass es nicht um den albanisch-italienischen Migrationspakt gehen wird: Albanien hat grössere Sorgen. Vielleicht fanden auch deshalb nur eine Handvoll Protestierender den Weg nach Shengjin, als das Lager der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. «Der europäische Traum endet hier», stand auf ihren Transparenten.

Wenn das Tageslicht schwindet, gehen in Gjader die Scheinwerfer auf den Gefängnismauern an und tauchen die Umgebung in ein ausserirdisches Licht. In Rom arbeitet Giorgia Meloni an einer neuen Gesetzesgrundlage, um das Lager in Gjader doch noch in Betrieb nehmen zu können.

Der Dorfvorsteher Preka ruht sich unterdessen von einem anstrengenden Tag aus. Den Moment, als er die ersten Migranten sah, die ins Lager gebracht wurden, wird er so schnell nicht vergessen. «Wir waren alle schlecht drauf, als wir sie sahen», erzählt er. Diese Flüchtlinge seien ja noch Kinder gewesen, mit hängenden Schultern, gar nicht stolz oder zuversichtlich. Mehr wie Buben hätten sie gewirkt, die etwas angestellt hätten. Ausserdem hatte er dunkelhäutige Menschen erwartet: «Aber die hatten Gesichter, weisser als unsere.» Der Anblick erwischte Preka, den Nüchternen, auf dem falschen Fuss. Die jungen Männer erinnerten ihn an seine Söhne, daran, wie sie sich damals auf den Weg nach Europa gemacht hatten.

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