Eigentlich kommt der Mercedes-AMG One aufgrund seiner verzögerten Entwicklung drei Jahre zu spät. Dennoch entwickelt der Hypersportwagen eine enorme Faszination. An Bord mit einem Rennfahrer.
Ein kurzes, helles Pfeifen, und die Front hebt sich. Ein weiteres Pfeifen, und die Klappen auf den Kotflügeln für die Radkästen-Entlüftungen, sogenannte Louvres, öffnen sich. Im Heck rasselt und zischt es. Bernd Schneider dreht am Lenkrad ein paar Knöpfe, kontrolliert die Einstellungen am Display. Check-Control vor einem Abflug im Airbus, könnte man meinen. Doch wir sitzen nicht in einem Jet kurz vor dem Start, sondern in einem Mercedes-AMG One, einem Hypersportwagen mit rund 1000 PS. Und dieses Fahrzeug hat mit einem Auto ungefähr so viel zu tun wie eine SpaceX-Rakete mit einer Junkers Ju-52.
Bernd Schneider rollt im «Race Safe»-Modus auf die kleine Teststrecke in Brooklands nahe London. In unmittelbarer Nähe der ältesten Rennstrecke der Welt liegt das Hauptquartier von Mercedes Grossbritannien, und dazu gehört der kleine Rundkurs. Im benachbarten Goodwood regnet und stürmt es, und die Mercedes-Mannschaft zieht zu Demo-Zwecken um. Eine glückliche Fügung, denn sonst gäbe es kaum eine Möglichkeit, auf dem Beifahrersitz neben dem erfahrenen Profi Schneider Platz zu nehmen.
Bernd Schneider, fünfmaliger Meister der Deutschen Tourenwagenmeisterschaft und Vollblut-Racer, hebt den Daumen. Damit signalisiert er uns, dass er bereit ist. Langsam fährt er los. Die ersten paar Meter wirbelt er am Lenkrad, bremst und beschleunigt abrupt, kontrolliert die Einstellungen. Traktionskontrolle und elektronisches Stabilitätsprogramm ESP sind aktiviert, denn die Strecke ist noch feucht, Reifen und Bremsen sind noch nicht auf Betriebstemperatur für die hochsportliche Fahrt.
Schneider tastet sich langsam heran. «Ist schon ein paar Wochen her, dass ich das letzte Mal den One gefahren bin – ich muss mich erst wieder einfuchsen», brüllt er gegen den Lärm im Auto an. Als Markenbotschafter in Diensten von Mercedes-AMG zeigt er den wenigen künftigen Kunden, was das Auto auf der Rennstrecke kann. So viel ist jetzt schon klar: Es kann sehr, sehr viel.
Nach zwei, drei Runden scheint der Rennfahrer im Flow und der One in seiner Wohlfühltemperatur zu sein. Schneider schaltet zuerst den «Race plus»-Modus ein und die Assistenzsysteme ab. Race plus bedeutet maximale Aerodynamik, straffe Fahrwerksabstimmung, Fahrzeugabsenkung. Alle Komponenten spannen ihre Muskeln an.
Nach zwei weiteren Runden stellt der Pilot das System auf «Strat 2». Dann steht die volle Leistung aller Motoren bereit, und das aus der Formel 1 bekannte Drag Reduction System (DRS) zur vorübergehenden Verminderung des Luftwiderstandes wird verfügbar. Bernd Schneider drückt auf den Knopf am Lenkrad, und direkt fahren die vorderen Louvres an den Kotflügeln ein, ebenso wie das obere Aero-Element des Heckflügels. Wie bei einem Qualifikationstraining in der Formel 1 jagt Schneider nun nach der schnellsten Zeit.
Der Wagen spielt mit der Aerodynamik
Die Strecke ist frei, und er gibt Feuer. Das heisst: immer voll beschleunigen, in Kurven über die Randsteine räubern und im Scheitelpunkt wieder Vollgas geben. Die Finger ziehen blitzschnell an den Schaltpaddeln für die Gangwahl des automatisierten Getriebes, die Füsse huschen über die Pedale wie Salsa-Tänzer übers Parkett. Kurz vor der nächsten Kurve hart anbremsen, in Pressatmung fallen und das Lenkrad akkurat herumreissen. Das DRS erkennt die Verzögerung und fährt die Aerodynamik-Elemente blitzschnell wieder aus. Das Heck wedelt kurz nach, und Schneider fängt es mit zwei Lenkbewegungen ein. Ein Profi in seinem Element.
Von 0 auf 100 km/h sprintet der One in 2,9 Sekunden, 200 km/h sind in 7 Sekunden erreicht. Hätte die Strecke in Brooklands eine lange Gerade, würde nach 15,6 Sekunden Tempo 300 anliegen, die Spitze liegt bei 352 km/h. Doch die nächste Kurve naht, und Bernd Schneider bremst hart ab, die Gänge der 7-Gang-Schaltbox schalten knallend und mit automatischem Zwischengas zurück.
Nicht die Beschleunigung ist das eigentlich Verrückte an diesem Hypersportwagen, sondern die hohen Kurvengeschwindigkeiten und die Verzögerung. Wie ein Gecko klebt der One auf der Strasse, wechselt ruck, zuck die Richtung. Als Beifahrer musst du dich permanent mit den Beinen hart im Fussraum abstützen, zusätzlich mit den Händen am Sitz festhalten. Gierig zieht sich der Motor die benötigte Kühlluft über ein Saugluftgehäuse auf dem Fahrzeugdach ein.
Der AMG One hat mehr mit einem Formel-1-Rennwagen zu tun als mit einem Supersportwagen: Fahrgastzelle und Karosserie aus Carbon, aktive Aerodynamik, Schubstreben-Fahrwerk und aktiv gelenkte Hinterachse. Herzstück des Autos ist der V6-Turbo-Mittelmotor mit 1,6 Litern Hubraum und 574 PS, maximal lässt er sich auf beeindruckende 11 000 Umdrehungen pro Minute hochdrehen. Zusätzlich arbeiten vier E-Motoren mit insgesamt 611 PS am Antrieb.
Ein elektrisch unterstützter Turbolader sorgt dabei für permanenten Druck. Zwei Elektromotoren mit jeweils 120 kW (163 PS) treiben bei Bedarf die Vorderräder an. Die vier E-Maschinen und der V6 leisten insgesamt 782 kW / 1063 PS und verteilen die Kraft voll variabel auf alle vier Räder. Der 8,4-kWh-Akku reicht für eine elektrische Fahrt im Modus EV von nur rund 18 Kilometern und hat eher die Hauptaufgabe, den Benziner kraftvoll zu unterstützen.
Jenseits aller G-Kräfte ist die Geräuschkulisse im engen Innenraum der Wahnsinn. Je nach Drehzahl ist der Klang eine Mischung aus hochfrequentem Scheppern, Rasseln, Heulen, Zischen und Klacken – und eher ungewöhnlich für einen sonst basslastig-bollernden Wagen von AMG.
Die lange Entwicklungszeit wirkt sich negativ aus
Eigentlich kommt der Mercedes-AMG One gut drei Jahre zu spät auf den Markt. Die Zeiten von Power-Hybriden sind schon fast vorbei. Neue Rekorde stellen heute vor allem reine Elektrofahrzeuge wie der Rimac Nevara mit 1914 PS auf. Die Idee der Ingenieure war es damals, einen F1-Renner mit Strassenzulassung zu bauen. Der Antrieb stammt aus dem damaligen F1-Rennwagen Mercedes W07 Hybrid der Saison 2016. Selbst der Mercedes-Chef Ola Källenius bezeichnete das Projekt einst scherzhaft als Schnapsidee. Das ambitionierteste Projekt von AMG war dann wohl doch etwas zu ambitioniert. Die Auslieferung sollte Ende 2019 beginnen, doch erst drei Jahre später ging das erste Auto an einen Kunden.
Der V6 mit den vier E-Maschinen stammt aus der AMG-Abteilung High Performance Powertrains in Brixworth, die Fahrzeuge entstehen in Handarbeit in Coventry bei Partner Multimatic. Legal fahren lässt sich der One allerdings nur in Europa. Für die anderen Kontinente erhält der Extremsportler wegen strengerer Regulierung keine Zulassung – diese würde sonst den Wagen zu stark entschärfen und damit den Fahrcharakter verwässern.
Vielleicht besser so. Der One ist eben extrem. Und damit einzigartig. «Der One fährt sich nicht nur wie ein Rennwagen – er ist einer», sagt Bernd Schneider. «Nur eben mit Strassenzulassung. Antrieb, Fahrwerk und Aero liegen auf sehr, sehr hohem Rennsport-Niveau.» Auf einer letzten Auslaufrunde gibt Schneider dem One Zeit zum Verschnaufen und Abkühlen. «Nur die wenigsten Kunden werden das Auto auf der Rennstrecke einsetzen und im Grenzbereich bewegen. Aber der One ist dafür gemacht.»
Die Nürburgring-Nordschleife umrundet der One in fast unglaublichen 6:35,183 Minuten, dies bedeutet seit 2022 Rekord für Serienfahrzeuge mit Zulassung für den Strassenverkehr. Eine Grossserie legt Mercedes-AMG allerdings nicht auf, sondern plant lediglich 275 Exemplare von dem 2,75 Millionen Euro teuren Hypersportwagen. Die meisten davon werden in Sammlungen verschwinden. Und damit nur selten das kurze, helle Pfeifen hören lassen, wenn sich die Front hebt und der One sich auf einen Start vorbereitet.