Mittwoch, April 16

Die 36-jährige Managerin rückt auch mitten in der Nacht aus.

Der Ton ist schrill und ertönt auch dann, wenn Noelia Noya ihr Handy auf lautlos gestellt hat. Wenn der Alarm losgeht, weiss Noya, dass gerade irgendwo im Kanton Zürich etwas Schlimmes passiert ist – und dass ihre Hilfe benötigt wird.

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Noelia Noya, 36 Jahre alt, Managerin, ist eine von 116 freiwilligen Care-Givern im Kanton Zürich. Das sind Laien, die von der Kantonspolizei aufgeboten werden, wenn sich etwas Traumatisierendes ereignet und Menschen sofort psychologische Unterstützung benötigen. Die Care-Giver rückten etwa aus, als an der Rad-WM die Schweizer Nachwuchsfahrerin Muriel Furrer tödlich verunfallte oder ein junger Chinese in Oerlikon eine Gruppe Hortkinder mit einer Stichwaffe angriff.

Seit 2020 gibt es das Team in Zürich. Der Regierungsrat hat den Aufbau veranlasst, weil im Kanton zuvor eine Struktur fehlte, um viele Personen auf einmal psychologisch betreuen zu können. Die Leitung des Teams ist an die Kantonspolizei angegliedert, rekrutiert und ausgebildet werden die Care-Giver aber vom Zivilschutz.

Noya ist seit 2022 dabei. Sie ist an einer Sitzung ihres Fussballvereins, als ihr Handy zum ersten Mal Alarm schlägt.

Äusserlich unverletzt, psychisch schwer verletzt

Im Raum Winterthur hat es eine Schiesserei gegeben. Viel mehr weiss Noya im ersten Moment nicht. Sie verlässt die Sitzung, fährt nach Hause, holt den Einsatz-Rucksack. Darin Stifte und Papier, Spielkarten, Funkgerät und eine Leuchtweste, die sie als Care-Giver ausweist.

Noya setzt sich ins Auto, es ist bereits dunkel, ein kühler Spätsommerabend, sie fährt zum Einsatzort, aus dem Lautsprecher tönt ein Hörbuch, an den Inhalt kann sie sich heute nicht mehr erinnern. «Ich habe mich mental vorbereitet, mich in die Situation hineinversetzt», sagt sie. Bei der Kantonspolizei in Winterthur werden die Care-Giver gebrieft. Im Nebenraum sitzen die Betroffenen der Schiesserei, sie werden von der Polizei befragt. Die Personen sind unverletzt, aber gezeichnet von dem, was sie erlebt haben. Nach der Befragung setzt sich ein Care-Giver zu ihnen, sucht das Gespräch. Noya bleibt beim ersten Einsatz im Hintergrund.

In solchen Situation sei weniger mehr, sagt Noya. «Manchmal schweige ich, setze mich neben die Betroffenen und warte, bis sie selbst anfangen, mit mir zu reden», sagt Noya. Sie frage dann: «Was denkst du gerade?» Oder: «Was fühlst du?» Eine Kollegin habe auch einmal geweint. «Wir dürfen auch Trauer zeigen», sagt Noya.

Nach dem ersten Einsatz fährt sie mit dem Auto nach Hause, wieder läuft das Hörbuch, es ist drei Uhr nachts. Sie verstaut ihren Rucksack, hockt sich ans elektrische Klavier, setzt Kopfhörer auf, spielt Schubert. Dann geht sie schlafen.

«Manchmal beschäftigen mich die Einsätze schon zwei, drei Tage lang. Aber ich kann das Erlebte gut verarbeiten, ich bin sehr reflektiert und habe ein Umfeld, das mir zuhört.»

Der bisher grösste Einsatz ist für Noya auch derjenige, der sie am meisten berührt hat: Ein 13-Jähriger begeht an einem Gymnasium Suizid. 30 Care-Giver sind im Einsatz. Sie erinnert sich: «Als ich ins Klassenzimmer kam, habe ich diese schwere Trauer gespürt. Für die Mitschüler ist eine Welt zusammengebrochen. Und sie haben sich Vorwürfe gemacht.» Das Schwierige bei diesem Einsatz sei gewesen, möglichst zeitgleich alle Schüler zu informieren – bevor das Gerede in den sozialen Netzwerken begonnen habe.

Am darauffolgenden Tag, es war ein Samstag, haben die Care-Giver ein Treffen zwischen dem Vater, der Schwester und den Mitschülern des Verstorbenen organisiert. «Die Mitschüler erzählten von positiven Erlebnissen mit dem Verstorbenen. Das half allen.»

Normalerweise kommt die Care-Giver nur in den ersten 72 Stunden nach einem Ereignis zum Einsatz. «Damals haben wir aber eine Ausnahme gemacht», sagt Noya. Sie hätten die Familie auch noch in den Tagen danach begleitet.

«Care-Giver sind wie Rettungssanitäter für psychologische Verletzungen», sagt dazu Florian Frei, Mediensprecher der Kantonspolizei Zürich. «Wenn jemand das Bein bricht, ist jedem klar, dass man sofort helfen muss. Dass das wichtig ist, damit er später kein steifes Bein hat.»

Bei der psychologischen Nothilfe sei es ähnlich. Die Care-Giver helfen in den drei Tagen nach einem Ereignis. Sie würden aufgeboten, wenn viele Helfer benötigt würden und die psychologische Nothilfe der Polizei den Einsatz nicht allein stemmen könnte, sagt Frei. Häufig würden die Care-Giver bei Kriminalereignissen aufgeboten, aber auch bei Vorfällen wie einer Massenpanik bei einem Konzert oder dem Einsturz eines Hochhauses würden sie alarmiert.

Intelligenztest und persönliche Fragen

Sie habe von einer Freundin erfahren, dass es in St. Gallen Freiwillige gebe, die Care-Arbeit leisteten. Das habe ihr Interesse geweckt, sie habe dann gegoogelt und sei auf die Anmelde-Seite von Care Zürich gestossen – und habe sich beworben.

Lebenslauf, Motivationsschreiben, Strafregisterauszug. «Es war ähnlich wie bei einer Bewerbung für einen Job.»

Noya wird zum Auswahlverfahren eingeladen. Im Rekrutierungszentrum der Armee in Rüti wird sie geprüft. Sie muss einen Intelligenztest absolvieren. Danach wird sie von einem Psychologen befragt: «Wie gehen Sie mit Stress um, Frau Noya?»; «Haben Sie schon einmal etwas Schlimmes erlebt?», «Trauern Sie noch?», «Wie haben Sie sich verhalten?»

Noya erzählt von einem guten Freund, der sich das Leben genommen habe, und davon, wie ihr Familie und Freunde geholfen hätten, mit der Trauer und den Selbstvorwürfen umzugehen. Und dass sie diese Unterstützung, die sie erfahren habe, nun anderen geben wolle.

Noya erhält schliesslich eine Zusage. Gemeinsam mit 19 anderen, es sind Pfarrerinnen, Lehrer, Verkäuferinnen, mehr Frauen als Männer, wird sie während zweier Wochen im Ausbildungszentrum in Andelfingen geschult in Notfallpsychologie. Danach erhält sie ein Zertifikat und muss sich für drei Jahre verpflichten.

Inzwischen ist Noya aufgestiegen zur Zugführerin, und sie organisiert die Wiederholungskurse. Entlöhnt wird sie für die Care-Arbeit nicht. Aber sie erhält Erwerbsersatz – für die Zeit, in der sie im Job ausfällt.

Noya ist gelernte Fachangestellte Gesundheit. Auch wenn sie heute nicht mehr im Beruf arbeitet, weiss sie, wie man Menschen am Rande der Verzweiflung helfen kann. Sie hat die Lehre in einem Spital gemacht, das auch Anlaufstelle für Drogensüchtige war. Später arbeitete sie auf einer Station für Brandopfer. «Ich habe schon viel Schlimmes gesehen. Das hilft.» Heute arbeitet sie im Büro, als Regionenleiterin beim Gesundheitsdienstleister Medbase. Für Care Zürich ist sie vier- bis fünfmal im Jahr im Einsatz.

Noya könnte mehr Sport machen, mehr Klavier spielen oder lesen. Es sind ihre Hobbys. Stattdessen sitzt sie am Wochenende in Weiterbildungslehrgängen und am Feierabend neben einer traumatisierten Frau auf dem Boden.

«Ich bin sehr privilegiert aufgewachsen», sagt Noya. «Ich möchte etwas zurückgeben. Es ist ein stilles Versprechen an die Gesellschaft.» Die Gesundheitskosten explodierten, sagt sie. Und sie und ihre Kollegen könnten mit dieser Freiwilligenarbeit dazu beitragen, dass weniger Menschen später eine psychiatrische Behandlung benötigten. Der Einsatz-Rucksack im Flur bei ihr zu Hause ist deshalb immer gepackt.

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