Mittwoch, Oktober 30

Sergei Gerasimow hat in Charkiw ausgeharrt. Zwar haben die russischen Raketenangriffe nachgelassen, die Schrecken des Krieges aber sind in drängender Weise geblieben. Mit diesem Eintrag beenden wir sein Tagebuch für die NZZ, das er am 24. Februar 2022 begann und mit wenigen Unterbrechungen bis zum 28. Oktober 2023 weiterführte.

28. Oktober

Der Wind in Charkiw ist heute so stark, dass er zweihundert Bäume umgeworfen und die ukrainische Nationalflagge in zwei Hälften gerissen hat – die grösste Flagge der Stadt, mehr als zwanzig Meter lang. Der Wind hat sie in zwei wellenförmige Streifen in Gelb und Blau zertrennt.

Heute habe ich mich in die Gegend hinter dem Gebäude der Regionalverwaltung verirrt. Es ist seltsam, aber ich war noch nie hier. Dieser Ort im Zentrum der Millionenstadt wirkt menschenleer wie eine einsame Insel, was sich irgendwie unheimlich anfühlt, so als liefe man durch einen Albtraum. Ich gehe in der Mitte die Strasse entlang, erblicke weder Menschen noch Autos und starre auf die zerbombten Gebäude.

Zu meiner Rechten befindet sich ein zehnstöckiges Geschäftszentrum, das in futuristischem Stil errichtet wurde. Viele Leute nennen es eine «fliegende Untertasse». Es wurde zu hoch gebaut; seine oberste Etage ist über dem staatlichen Verwaltungsgebäude sichtbar und sieht wirklich wie eine fliegende Untertasse aus, besonders aus der Ferne.

Jetzt ist von dem Geschäftszentrum nur noch eine runde Betonröhre übrig, um die herum sich breite Betonkreise fügen, die hier und da zerbrochen sind. Alles andere wurde von den Explosionen weggesprengt. Früher gab es hier eine künstliche Belüftung, und Dutzende von Lüftungsrohren, gross und elegant, zogen sich unter der Decke jedes Stockwerks hindurch. Jetzt hängen sie herab wie Aluminiumdärme und schlagen im Wind aneinander. Das gesamte skelettartige Gebäude klingt, als wäre es voller silberner Glocken.

Um Vandalismus zu verhindern, ist die untere Etage mit Sperrholzplatten abgesperrt.

«Putin, hau ab und häng dich auf», steht auf einer geschrieben.

Auf der anderen ist ein Gemälde zu sehen, das die ukrainisch-polnische Freundschaft symbolisiert. Es zeigt zwei Schwarz-Weiss-Porträts von alten Frauen, die Schals in den Farben der Nationalflaggen stricken. Die Flaggen sind echt, nicht gemalt. Früher waren die ukrainische und die polnische Flagge in einem einzigen Schal verbunden, aber der Wind hat auch diese Doppelflagge in Fetzen gerissen. Dies ist die zweite lädierte ukrainische Flagge, die ich heute sehe.

Zu meiner Linken erhebt sich ein dreistöckiges Gebäude, das in einem Winkel von 45 Grad durchschnitten wurde, so als sei ein Messer durch einen Butterwürfel gefahren. Sechzig Zentimeter dicke Mauerstücke liegen verstreut herum. Ich wende mich dem Eingang zu und trete auf poröse Backsteine. Mein Fuss rutscht aus, und ich stosse mit dem Knie hart auf den Boden. Zwischen den Backsteinen schauen mir Teile eines oder mehrerer Autos sowie zerbrochene Handys entgegen.

Im Inneren steht ein Sammelsurium von zertrümmerten Rechnern, Monitoren und Computerteilen. All das ist mit Backstein vermischt. Es gibt kein Dach, und über mir heult der Wind. Möglicherweise könnte ich die Reste der Treppe zum obersten Stockwerk erklimmen, aber das scheint keine gute Idee zu sein.

Das Nachbarhaus besass früher eine weisse Marmortreppe. Im fünfstöckigen Gebäude gegenüber gab es früher im ersten Stock ein Café, denn an der Wand prangte der Spruch «Come in for coffee». Durch ein Fenster im ersten Stock sehe ich eine perfekt erhaltene Preistafel mit mehr als zwanzig Kaffeesorten, eine tote Zimmerpflanze, die ihre Wurzeln in die Höhe streckt, sowie weisse Wolken, die in rasender Geschwindigkeit über den Himmel ziehen.

Alle Wände, sowohl aussen als auch innen, sind mit Russ bedeckt. Vor sechshundert Tagen hat hier ein Feuer gewütet, seitdem herrscht nur noch Stille zwischen den geschwärzten Wänden. Gegenwärtig wird sie durchbrochen durch das Heulen des Windes und das Klirren der Dachplatten, die oben auf den Mauern liegen.

Durch einen hohen Betonbogen gelange ich in einen Innenhof. Letztes Jahr, am 24. September, zerstörte eine von Belgorod aus abgefeuerte S-300-Rakete drei Stockwerke direkt darüber und verwandelte sie in einen Haufen Trümmer, vermischt mit den Artefakten menschlichen Lebens: Teppichen, Bügelutensilien und Möbelstücken. Ein rotes Mädchenkleid, das nach mehr als einem Jahr in Sonne, Regen und Schnee verblasst ist, hängt an der Spitze des Baumes hinter mir.

Ich hebe eine zerrissene gelb-blaue Kinderflagge aus den Trümmern auf. Dies ist bereits die dritte kaputte Nationalflagge heute. Ich schaue in den Himmel. Der Wind nimmt zu, und es sieht so aus, als ob er das grosse Stück Backstein, das bereits abgebrochen ist und schräg zum Rest der Mauer hängt, niederreissen könnte. Die Holzbalken, die einst das Dach stützten, zittern im Wind. Ein Blech, das vom Dach hängt, schlägt rhythmisch aneinander und singt im Luftstrom. Diese monotone, sich wiederholende Vier-Ton-Folge erinnert mich an eine bekannte Melodie.

Schliesslich erinnere ich mich, woran – an das Ende des berühmten Frank-Sinatra-Songs «My Way»:

«For what is a man, what has he got?
If not himself, then he has naught.
To say the things he truly feels
And not the words of one who kneels.»

«Was ist ein Mann, was stellt er dar?
Wenn er nicht er selber ist, ein Nichts.
Er ist da zu sagen, was er wirklich fühlt,
und nicht die Worte von einem, der da kniet . . .»

Ich denke, dass diese Zeilen das Wesen des über uns verhängten Krieges ziemlich genau beschreiben.

Zur Person

PD

Sergei Gerasimow – Was ist der Krieg?

Von den Kriegstagebüchern, die nach dem russischen Überfall auf die Ukraine vom 24. Februar 2022 verfasst wurden, gehört jenes von Sergei Wladimirowitsch Gerasimow zu den aufwühlendsten und anrührendsten. Es vereinigt Beobachtungsgabe und Menschenkenntnis, Empathie und Phantasie, Sinn für das Absurde und forschende Intelligenz. Gerasimow wurde 1964 in Charkiw geboren. Er studierte Psychologie und verfasste später ein Psychologielehrbuch für Schulen sowie wissenschaftliche Artikel über kognitive Aktivitäten. Seine literarischen Ambitionen galten bisher der Science-Fiction und der Lyrik. Gerasimow und seine Frau leben im Zentrum von Charkiw in einer Wohnung im dritten Stock eines Hochhauses. Der Beginn des Tagebuchs liegt mittlerweile gesammelt unter dem Titel «Feuerpanorama» als Buch bei DTV vor. Dem Autor freilich geht der Stoff nicht aus. – Hier der 400. und letzte Beitrag des vierten Teils. Die Serie findet damit ein Ende.

Aus dem Englischen von Andreas Breitenstein.


Serie: «Kriegstagebuch aus Charkiw»

Nach einer Pause hat der ukrainische Schriftsteller Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch weitergeführt. Ab Beginn der Kämpfe berichtete er über die Schrecken und Absurditäten des Alltags im Zentrum seiner Heimatstadt Charkiw, die noch immer beschossen wird.

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