Donald Trump droht mit Strafzöllen, sollte Mexiko nicht schärfer gegen die von ihm als Terrororganisationen eingestuften Banden vorgehen. Doch Claudia Sheinbaum hat längst mit dem Umbau des Sicherheitsapparates begonnen.
Der Fund von elf zerstückelten Leichen nahe der Touristenhochburg Acapulco schockierte jüngst selbst die an brutalste Gewalt gewöhnten Mexikaner. In Chilpancingo, der Hauptstadt des Gliedstaates Guerrero, wurden Männer, Frauen und Kinder mit abgetrennten Gliedmassen und Köpfen sowie ausgestochenen Augen entdeckt. Dahinter soll die lokale Bande Los Ardillos stecken, die bereits im Oktober den neuen Bürgermeister von Chilpancingo ermordet und seinen abgetrennten Kopf auf das Dach seines Autos gelegt hatte.
«Dass dem Bürgermeister der Hauptstadt eines Gliedstaates der Kopf abgeschlagen wird, hat es in der Geschichte Mexikos noch nicht gegeben», sagt Armando Vargas von der Sicherheits-Denkfabrik México Evalúa in Mexiko-Stadt. Das zeige, vor welche Herausforderung kriminelle Gruppen Präsidentin Claudia Sheinbaum stellten, die Anfang Oktober ihr Amt angetreten hat.
Vargas zeichnet im Gespräch ein düsteres Bild der Lage. Habe Sheinbaums Vorgänger Andrés Manuel López Obrador bei seinem Amtsantritt Ende 2018 mit Situationen ausufernder Gewalt in drei Gliedstaaten zu kämpfen gehabt, sei die Lage derzeit in rund der Hälfte der 32 Entitäten ausser Kontrolle.
Schockierend ist dabei die zunehmende Brutalität, wie bei Anschlägen mit Autobomben und Massakern in vollbesetzten Bars. Die Nichtregierungsorganisation Acled (Armed Conflict Location and Event Data) stuft Mexiko derzeit als das viertgefährlichste Land der Welt ein.
Die Konflikte drehen sich um die Verteilung von Drogen und die Kontrolle von Schmuggelrouten. An den Grenzen zu Guatemala und zu den USA ist der Transport von Migranten oft noch lukrativer als der von Drogen oder Waffen. Auch um die Kontrolle über den Tourismussektor und den Bergbau wird gekämpft, wie die blutigen Auseinandersetzungen im Gliedstaat Guerrero zeigen.
«In ganz Mexiko erleben wir eine Neuordnung der territorialen Kontrolle, durch welche kriminelle Banden politische, wirtschaftliche und soziale Aktivitäten regulieren», sagt Vargas. Dass dies mit dem Amtsantritt Sheinbaums zusammenfalle, sei Zufall.
Ausschlaggebend sei vielmehr der ebenfalls im Oktober erfolgte Machtwechsel in einigen Gliedstaaten und in den Kommunen, wo Lokalpolitiker und Polizeikräfte in die Machenschaften krimineller Banden verwickelt seien. Dem steht nur selten eine funktionierende Justiz entgegen. Straffreiheit ist die Regel, juristische Konsequenzen die Ausnahme.
Die USA machen Druck
Die offenbare Narrenfreiheit des organisierten Verbrechens hat den amerikanischen Präsidenten Donald Trump auf den Plan gerufen. Er bezichtigte die mexikanische Regierung am vergangenen Wochenende der Komplizenschaft mit den Kartellen und drohte mit Strafzöllen von 25 Prozent auf mexikanische Waren, sollte Sheinbaum den Drogen- und Migrantenstrom über die Südgrenze der USA nicht eindämmen.
Im Fokus steht dabei die Droge Fentanyl, die in den USA 2023 75 000 Todesopfer forderte. Am Montag konnte Sheinbaum einen Aufschub der Zölle bis März im Gegenzug für die Entsendung von 10 000 Soldaten der Guardia Nacional an die Grenze erreichen. Doch Sheinbaum muss im Kampf gegen das organisierte Verbrechen rasch liefern.
Trump hat die Kartelle zudem als terroristische Organisationen eingestuft, was in Mexiko Befürchtungen über mögliche Militäraktionen Washingtons auf mexikanischem Territorium auslöst. Denn wie sehr eine ausländische Einmischung das fragile Machtgefüge des organisierten Verbrechens stört, bekam Mexiko im Juli 2024 zu spüren, als der Chef des Sinaloa-Kartells, das als grösster Fentanyl-Produzent Mexikos gilt, unter bisher ungeklärten Umständen in die USA geschafft und der dortigen Justiz übergeben wurde.
Ob amerikanische Agenten direkt vor Ort an der mutmasslichen Entführung beteiligt waren, ist unklar. Dahinter stehen aber offenbar Absprachen zwischen Kartellmitgliedern und der amerikanischen Justiz. Die mexikanische Regierung, die nicht informiert war, muss nun die Konsequenzen tragen.
Denn die mysteriöse Aktion hat das bis anhin mächtigste Kartell Mexikos in interne Machtkämpfe gestürzt und destabilisiert. So kommt es jetzt in Regionen, die bisher vom Sinaloa-Kartell beherrscht wurden und dadurch verhältnismässig friedlich waren, plötzlich zu blutigen Auseinandersetzungen mit aufstrebenden Kartellen wie demjenigen von Jalisco Nueva Generación.
Sheinbaum setzt auf die Polizei
Sheinbaum hatte versprochen, die Politik ihres politischen Ziehvaters López Obrador fortzusetzen. Er hatte den Krieg gegen die Drogen seiner beiden Vorgänger offiziell für beendet erklärt. Die Offensive des Militärs hatte ab 2006 zu einer Explosion der Gewalt geführt. Den insgesamt 120 000 Ermordeten in Präsident Felipe Calderóns Amtszeit (2006–2012) folgten über 150 000 Tote unter Enrique Peña Nieto (2012–2018).
Unter dem Slogan «Abrazos, no balazos» (Umarmungen statt Kugeln) wollte López Obrador mit Sozialprogrammen die Ursachen der Gewalt angehen, wie etwa die hohe Jugendarmut. Experten vermuten, dass die Regierung zudem gegenüber einigen Gangs Stillhalten signalisiert habe, sollten diese dafür die Gewalt reduzieren. Trotzdem endete López Obradors sechsjährige Amtszeit mit der Rekordzahl von fast 200 000 Toten.
«Wir werden nicht zum Krieg gegen die Drogen zurückkehren, wir werden vorbeugen und die Ursachen bekämpfen», sagte Sheinbaum im Oktober bei der Vorstellung ihres neuen Sicherheitsplans, in dem die Armutsbekämpfung weiterhin an erster Stelle steht. Zudem will sie die 2019 von López Obrador gegründete Guardia Nacional als Speerspitze der Verbrechensbekämpfung ausbauen.
Doch hinter dem scheinbaren «Weiter so» steckt ein Paradigmenwechsel. Denn Sheinbaum will das Ministerium für öffentliche Sicherheit mit neuen Kompetenzen ausstatten. Hier sollen die Informationen aller Ermittlungsbehörden und Nachrichtendienste vernetzt und mit der Arbeit der Staatsanwaltschaft verknüpft werden. Mit modernster Fahndungstechnologie will sie den Kartellen beikommen.
Geleitet wird das auf Hightech zu trimmende Ministerium von Omar García Harfuch, der in der Bundespolizei Karriere machte und unter der damaligen Bürgermeisterin Sheinbaum von 2019 bis 2023 Sicherheitsminister von Mexiko-Stadt war. Gemeinsam erreichte das Duo dort einen drastischen Rückgang der Gewalt. Sheinbaums neuer Sicherheitsplan ist im Wesentlichen eine Kopie jener erfolgreichen Politik.
Harfuch ist nun für die Ausarbeitung und Koordinierung der Sicherheitsstrategie der nationalen Regierung zuständig. Damit leitet er die militärischen Einsätze an den wichtigsten Brennpunkten der Gewalt. Hatte das Militär unter López Obrador hier noch freie Hand, bekommt es nun eine zivile Behörde unter der Leitung eines Polizisten vor die Nase gesetzt.
López Obrador setzte auf das Militär – und scheiterte
Für López Obrador hingegen war die Bundespolizei ein rotes Tuch. Genau wie lokale Polizeikräfte sei diese korrupt und mit den Eliten verbandelt, wetterte er. So löste er die Bundespolizei 2019 auf und gründete stattdessen die militärisch geführte Guardia Nacional. Obwohl deren Personal zu über 90 Prozent aus ehemaligen Soldaten besteht, stellte er sie stets als zivile Truppe dar.
Da er gleichzeitig die Zuschüsse für die lokalen Polizeieinheiten kürzte, verfügen viele Städte und Gemeinden heute über keine eigenen Polizeikräfte zur Verbrechensbekämpfung mehr. Dadurch seien sie von der Zentralregierung abhängig, bei der sie im Krisenfall Kräfte der Guardia Nacional anfordern müssten, sagt Vargas. Dies öffne der politischen Erpressung Tür und Tor und stärke die Macht der Zentralregierung.
López Obrador rechtfertigte den Machtzuwachs des Militärs damit, dass dieses seiner Ansicht nach nicht korrumpierbar sei. So übertrug er ihm auch zivile Aufgaben wie den Ausbau der Infrastruktur und das Management von Flughäfen. Die Bevorzugung militärischer Organisationen in der Sicherheitspolitik spiegelt sich im Budget wider: Fast drei Viertel der Mittel fliessen ans Militär, während die Polizeikräfte chronisch unterfinanziert sind.
Doch mehr Sicherheit hat López Obrador nicht erreicht. Eine im Dezember von México Evalúa veröffentlichte Bilanz seiner Regierungszeit kommt zu dem Schluss, dass unter ihm das organisierte Verbrechen seine Kontrolle über Territorien weiter ausgeweitet hat.
Der Guardia Nacional wird bescheinigt, dass ihr Vorgehen keinen klaren Kriterien folge und keine positiven Effekte ihrer Einsätze zu verzeichnen seien. Im Gegenteil: «Die einzigen Regionen, in denen die Morde zurückgegangen sind, sind die, in denen die Guardia Nacional nicht aktiv war», sagt der Experte Vargas. «Die Militärs bringen keinen Frieden, sondern Gewalt.»
Dem stimmt der Sicherheitsexperte David Saucedo zu. «Das Militär ist eher Teil des Problems als Teil der Lösung», sagt er im Gespräch. In den vergangenen Jahrzehnten sei es immer wieder mit der Verbrechensbekämpfung beauftragt worden. Funktioniert habe das nie. Stattdessen sei es zu Menschenrechtsverletzungen durch das Militär gekommen, das – genau wie die Polizeikräfte – korrumpiert worden sei.
Saucedo mahnt Hilfe aus Washington an. Die USA sollten gegen die Finanzierung des Drogenhandels mit amerikanischem Geld und den Schmuggel amerikanischer Waffen nach Mexiko vorgehen. Zumal das Drogenproblem ein amerikanisches sei: «Denn die Drogen werden in den USA konsumiert, und dort wird nichts dagegen unternommen.»
Erste Erfolge von Sheinbaum
In der vergangenen Woche präsentierte Präsidentin Sheinbaum erste Ergebnisse ihrer Offensive gegen die Banden. Seit Oktober 2024 habe man bereits 40 Tonnen Drogen beschlagnahmt, darunter 20 Millionen Dosen Fentanyl, sowie mehr als zehntausend in den Drogenhandel involvierte Personen festgenommen.
Dabei geht die Regierung auch gegen das von den USA ins Visier genommene Sinaloa-Kartell mit demonstrativer Härte vor. Die Vorgängerregierungen standen stets unter dem Verdacht, in Konflikten zugunsten der Gruppe zu intervenieren. Auch das Duo Harfuch-Sheinbaum sei in Mexiko-Stadt selektiv gegen die gewalttätigsten Kartelle wie Jalisco Nueva Generación vorgegangen, während man dem Sinaloa-Kartell weitgehend freie Hand gelassen habe, sagt Saucedo.
Harfuch zeigt sich derzeit bei den medienwirksam aufgezogenen Aktionen stets an der Seite des Militärs. Dass der Sicherheitsminister sein Büro im Gliedstaat Sinaloa, dem Epizentrum der derzeitigen Gewaltwelle, aufgeschlagen hat, ist ein Signal an Donald Trump, dass man es mit der Verbrechensbekämpfung ernst meint.
Experten zweifeln an langfristigen Erfolgsaussichten
Ob sich das Militär langfristig dem Sicherheitsminister unterordnen wird, ist aber fraglich. «In Mexiko haben wir das alte Problem, dass das Militär nicht akzeptiert, Befehle von einem Zivilisten zu erhalten, der nicht der Präsident ist», sagt Saucedo. Auch von einer Präsidentin seien die Militärs nicht begeistert. Es herrsche immer noch ein gewisser Machismo. So sei Sheinbaum gezwungen, die von López Obrador den Militärs gewährten Privilegien in Form von einflussreichen Posten und grossen Budgets fortzuführen, um deren Loyalität zu bewahren.
Saucedo ist skeptisch, dass der Präsidentin langfristig die Wende im Kampf gegen die Gewalt gelingen wird. Sheinbaums erfolgreiches Konzept in Mexiko-Stadt habe auf dem Einsatz Zehntausender von Überwachungskameras und massiver Polizeipräsenz basiert. Dies sei nicht einfach auf ganz Mexiko übertragbar.
Auch Vargas ist pessimistisch. Der Rückgang der Gewalt in der Hauptstadt sei auch deshalb gelungen, weil man dort über besonders starke und gut ausgerüstete Polizeikräfte und eine weitgehend funktionierende Justiz verfüge, die es sonst nirgendwo in Mexiko gebe. «Die Realitäten im Landesinneren sind völlig anders. Solange dort die lokalen Polizei- und Justizapparate nicht gestärkt werden, wird es keine Verbesserungen geben», so Vargas.