Freitag, November 29

Die 22-Jährige setzt im Hochsprung neue Massstäbe. Die Weltrekordhalterin sagt, wenn sie abhebe, werde sie zur Schwalbe. Mahutschich spricht über die Belastung durch den Krieg in der Heimat – und sagt, worin ihre Mission besteht.

Jaroslawa Mahutschich, Sie haben im Juli den 37 Jahre alten Weltrekord im Hochsprung gebrochen. Wie fühlt es sich an, wenn man ein solches Monument stürzt?

Ich ging einen weiten Weg, um dieses Ziel zu erreichen. Daran gedacht hatte ich schon als Teenager, und vor zwei, drei Jahren hätte ich ehrlich gesagt nicht erwartet, dass es so lange dauern würde. Dann war ich in Paris, die Latte lag auf 2,10 Metern, und ich sagte mir: «Wenn du das schaffst, wird es in der Ukraine eine grosse Feier geben.» Das half mir, mich zu entspannen. Ich fühlte, dass ich mental und körperlich bereit war.

Und dann sprangen Sie . . .

Es war kein einfacher Wettkampf, ich hatte bereits auf 1,95 Meter zwei Versuche gebraucht, und so ging es weiter. Aber den Weltrekord brach ich mit dem ersten Sprung, ich rannte zu meiner Trainerin, und sie konnte es fast nicht glauben. Es war wichtig für uns, denn ich habe meinen Namen und den meines Landes ins Geschichtsbuch der Leichtathletik geschrieben. In jedem Wettkampf wird nun auf der Startliste hinter dem Weltrekord stehen: Mahutschich, Ukraine.

Es scheint Ihren sehr wichtig zu sein, dass auch der Name Ihres Landes hinter dem Rekord steht.

Natürlich, es geht nicht nur um mich. Und die Feier war leider nur kurz, denn ich sprang den Weltrekord am 7. Juli, und am Tag danach gab es einen Luftangriff auf ein Kinderspital in Kiew. Das war traumatisch für die Menschen in der Ukraine.

Sämtliche grossen Springerinnen der vergangenen Jahrzehnte haben den Rekord von Stefka Kostadinova angegriffen und sind gescheitert. War er eine Art unüberwindbare Mauer?

Nicht für mich. Ich sprang schon als 18-Jährige mit 2,04 Meter Juniorenweltrekord. Da wusste ich, dass ich für Grosses geschaffen bin. Ich glaube, es braucht harte Arbeit und grosse mentale Stärke. Jeder Champion hat seinen eigenen Lehrer. In meinem Fall ist es Tatjana Stepanowa, die mich von Anfang an begleitet hat. Wir sind uns sehr ähnlich und bilden das beste Team der Welt.

Sie hat Sie bereits als Kind trainiert.

Ja, sie kam an meine Sportschule, als ich elf war. Sie sah mich und sagte: «Ich weiss nicht warum, aber ich mag dich.» Damals dachte ich, ich würde Hürdenläuferin werden. Tatjana brachte mich zum Hochsprung, aber ich nutze die Hürden auch heute noch im Training.

Mahutschich fand erst spät zum Hochsprung

reg. Die 22-jährige Ukrainerin Jaroslawa Mahutschich kam erst spät zum Hochsprung, zuerst machte sie Karate, dann wollte sie Hürdensprinterin werden. Als 13-Jährige wurde sie zur Springerin, zwei Jahre später gewann sie WM-Gold in der U-18-Kategorie und stellte dabei mit 1,92 Metern einen inoffiziellen Weltrekord für 15-Jährige auf. Mit 18 verbesserte sie den Juniorenweltrekord auf 2,04 Meter, und im vergangenen Juli überbot sie die 37-Jährige Bestmarke bei den Aktiven um einen Zentimeter auf 2,10 Meter. Kurz danach wurde sie Olympiasiegerin.

Wie genau sieht Ihr Training aus?

Ich glaube, wir machen alles anders als die anderen. Ich laufe Hürden, weil das gut ist für den Rhythmus, ich mache Sprints für die Schnelligkeit, und ich übe auch Weitsprung. Pro Woche gibt es nur zwei Einheiten, in denen wir an der Hochsprungtechnik arbeiten. Dazu kommen noch Kraftübungen und Gymnastik für die Beweglichkeit über der Latte.

Den Wechsel zum Hochsprung müssen Sie erklären. Tatjana Stepanowa war keine Sprungtrainerin, und Sie waren zu Beginn auch nicht das herausragende Naturtalent, ihr allererster Versuch war ein Nuller über 1,45 Meter. Warum blieben Sie dabei?

Ich machte damals alles: Hürden, Weitsprung, Dreisprung, sogar Würfe. Mit 13 begannen mir die Sprünge besonders zu gefallen. Die Atmosphäre ist besonders, wenn du mehrere Versuche hast und du dazwischen immer wieder eine Pause machen und dich entspannen kannst. Ich sprang zuerst mit der Scherentechnik, und die 1,45 Meter waren mein erster Versuch mit dem Fosbury-Flop. Danach begann ich, an meiner Technik zu arbeiten, und bekam Spass am Fliegen.

Am Fernsehen sieht es tatsächlich wie Fliegen aus. Aber empfinden Sie das im Wettkampf auch so?

Ich sage immer, ich sei wie eine Schwalbe. Wenn ich abspringe, habe ich das Gefühl, dass ich während ein, zwei Sekunden tatsächlich schwerelos bin. In meiner Phantasie bin ich dann ein Vogel.

Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie den Sprung vorbereiten. Visualisieren Sie diesen Vogel?

Ich suche den Augenkontakt mit meiner Trainerin, ein Blick in ihre Augen gibt mir Kraft. Und dann sage ich mir: «Du schaffst es, denn du bist eine Schwalbe.» Sobald ich losrenne, denke ich an gar nichts mehr, dann weiss mein Körper ganz genau, was er tun muss.

Manchmal ziehen Sie im Wettkampf die Schuhe aus und wechseln Ihre Socken. Wozu ist das gut?

Meine Füsse können sich so besser entspannen. Und die Socken wechsle ich, wenn sie wegen der Hitze oder vom Regen feucht sind. Denn ich mag es nicht, wenn die Füsse in den Spikes ein wenig rutschen.

Sie nehmen also stets mehrere Paar Socken mit zum Wettkampf?

Ja, und nach dem Wettkampf habe ich immer das Problem, dass ich sie im Hotelzimmer waschen und trocknen muss.

Die Socken sind das eine, auch Frisur und Make-up scheinen sehr wichtig für Sie zu sein. Können Sie das erklären?

Als ich 2017 an den U-18-WM in Kenya teilnahm, sagte mein Vater, meine Zöpfe seien mein Markenzeichen. Seither flechte ich die Haare immer vor dem Wettkampf. Das hilft mir auch, mich zu entspannen und zu fokussieren. Mein Make-up war eine andere Möglichkeit, mich auszudrücken. Es gibt in der Leichtathletik keine Regeln dafür, man kann seiner Phantasie freien Lauf lassen.

Inzwischen ist Ihr Make-up zu einem politischen Statement geworden.

Als 2022 der Krieg ausbrach, fragte ich mich, wie ich der Welt zeigen kann, dass ich aus der Ukraine bin und mein Land schützen will. So kam ich darauf, gelben und blauen Eyeliner zu benutzen. Ich werde oft darauf angesprochen, und das gibt mir Kraft. Aber ganz ehrlich: Ich brauche mittlerweile eine Stunde, bevor ich aus dem Zimmer komme. Wenn ich morgens zu einer Qualifikation antreten muss, ist das mühsam. Doch ohne dieses Ritual wäre ich nicht bereit.

Der Krieg in Ihrer Heimat ist allgegenwärtig. Wie schafft man es, in einer derart schwierigen Situation eine Topleistung abzurufen?

Gerade jetzt ist es schwierig für mich, weil wir uns dem Ende der Saison nähern und ich nur einen Wunsch habe: in meine Heimat zurückzukehren. Als am 24. Februar 2022 der Krieg begann, wusste ich nicht, ob ich jemals zurückkehren würde. Meine Familie sagte zu mir: «Du musst an die Wettkämpfe gehen und der Welt zeigen, dass wir Ukrainer immer weiterkämpfen.» Mich motiviert es, ein Symbol für diesen Kampf um Unabhängigkeit und Freiheit zu sein.

Ist es nicht auch eine Belastung, immer mit den Bildern des Kriegs im Kopf zu leben?

Während der Wettkämpfe versuche ich, nicht zu viele Nachrichten zu lesen. Aber ich habe Eltern, eine Familie, Freunde in der Ukraine – ich kann nicht einfach abschalten. Auf meinem Handy bekomme ich die Warnungen vor Luftangriffen und Frage dann jeweils zu Hause nach, ob alles in Ordnung sei. Vor zwei Tagen gab es in meiner Heimatstadt zahlreiche Explosionen, das ist furchtbar. Aber wir sind stark, und wir träumen davon, dass der Krieg bald endet.

Sie denken trotz allem positiv?

Ich bin überzeugt, dass wir unser Land wieder aufbauen können. Aber wir können all die Leben, die wir verloren haben, nicht zurückholen. Viele junge Menschen kämpfen und sterben, das ist schrecklich.

Nur knapp einen Monat nach Kriegsausbruch wurden Sie Hallenweltmeisterin. Wie war das?

Die Reise an die WM in Belgrad dauerte drei Tage, mit dem Auto durch meine Heimat unter Beschuss. Als ich in Belgrad ankam, sagte ich mir, ich müsse Gold gewinnen. Denn Sieger haben mehr Möglichkeiten, mit Journalisten zu sprechen. Die Situation war für alle völlig neu, ich hatte nur in Geschichtsbüchern vom Krieg gelesen, und jetzt war er plötzlich Realität, mitten in Europa. Das wollte ich den Leuten klarmachen.

Sie leben heute in Belgien. Besuchen Sie noch regelmässig die Ukraine?

2022 zog ich mit meiner Mutter und meiner Schwester nach Deutschland, wo mich mein Ausrüster Puma unterstützte. Die beiden gingen dann zurück, und ich fand ein Haus in Belgien, wo das ganze Team lebt. Letzte Oktober besuchte ich meine Familie, und jetzt plane ich, nach dem Saisonende zurückzugehen. Ich brauche das, ich will an dem Ort sein, von dem ich sagen kann: Das ist mein Zuhause.

Wenn Sie als Sportlerin unterwegs sind, reden Sie immer über den Krieg in Ihrer Heimat. Sind Sie auf einer Mission?

Meine Mission ist es, jede Gelegenheit zu nutzen, um zu sagen: «Wir werden niemals aufgeben.»

Nach dem Olympiasieg haben Sie einen Teil des Preisgeldes an verschiedene Organisationen in der Ukraine gespendet.

An eine Tierschutzorganisation, an ein humanitäres Projekt und auch an unsere Armee. Das ist mir wichtig; wie viele andere Ukrainer im Ausland versuche ich, wenn immer möglich etwas zu geben. Vor einem Jahr war es einfacher, weil es vor allem Material brauchte, zum Beispiel Drohnen. Jetzt ist der Alltag sehr schwierig geworden, viele sitzen ohne Strom zu Hause, sie können nicht einmal kochen. Ich habe in meinem Haus in Belgien alles, und ich habe die Möglichkeit zu helfen.

Warum spenden Sie für Tiere?

Weil es in den besetzten Gebieten sehr viele Haustiere gibt, die von ihren Besitzern zurückgelassen wurden. Tiere können sich leider nicht selber helfen, das müssen wir tun. Ich habe selbst eine Katze aus einem Tierheim, und ich unterstütze die Organisation, die dieses betreibt, damit auch anderen Tieren geholfen wird.

Sind Sie mit Ihrer Mission eine Ausnahme, oder ist das die allgemeine Einstellung im ukrainischen Sport?

Ich glaube, jede einzelne ukrainische Athletin, jeder einzelne ukrainische Athlet ist sich bewusst, dass es ein Privileg ist, Sport treiben zu können. Wir können das nur tun, weil andere Menschen an der Front kämpfen. Aus dem Sport kamen 200 000 Dollar zusammen, um an einer Auktion Benzin für die Armee zu kaufen. Wir sind alle auf einer Mission.

Sie sind eine junge Frau, da sollte das Leben doch leicht und schön sein. Ist es nicht schwierig, immer diese Last zu tragen?

Natürlich ist es das. Ich habe jetzt die besten Jahre meines Lebens, sollte leben und geniessen. Es gibt auch Momente, in denen mir das gelingt. Doch das dauert nur kurz, und dann frage ich mich, ob ich das Recht habe, glücklich zu sein, wenn in meinem Land Krieg herrscht und Soldaten im Schützengraben liegen. Das Traurigste aber ist, dass Kinder nicht so aufwachsen, wie ich es konnte. Es gibt ständig Luftalarm, es können jederzeit Bomben fallen. Die Kinder lernen in Luftschutzkellern, weil es in den Schulen zu gefährlich ist. Aber ich hoffe, dass uns all das stärker macht.

Ist das wirklich so?

In einer gewissen Weise ist es heute schon spürbar. Der Krieg lässt uns zusammenrücken. Weil die Ukraine einst zur UdSSR gehörte, wuchsen viele mit der russischen Sprache auf. Jetzt haben sie angefangen, Ukrainisch zu lernen.

Und wo finden Sie die kurzen Augenblicke des Glücks?

In Büchern. Ich lese viele Romane. Das ist für mich, als würde ich in andere Welten eintauchen.

Sie machen auch Mode-Shootings und sind schon als Model aufgetreten. Was bringt Ihnen das?

Ich wurde auch schon gefragt, warum ich Sport mache, wenn ich doch auch modeln könnte. Aber der Sport hat mir viele Möglichkeiten eröffnet. Es ist lustig, zwischendurch in die Welt der Mode einzutauchen, aber das ist nicht meine Welt. Als ich an der New York Fashion Week über den Laufsteg ging, fühlte ich nicht viel, es war nicht aufregend. Die professionellen Models konnten das nicht glauben. Ich sagte: «Glück ist für mich, wenn ich über die Latte fliege.»

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