Die Schweiz steht vor drei Europa-Abstimmungen. Wie sollen sie getaktet werden? Welche Regeln sollen beim Ständemehr gelten? Der Politologe Michael Hermann warnt vor allem davor, die SVP-Initiative zu unterschätzen.

Herr Hermann, der Bundesrat will, dass das Volk allein über die neuen Verträge mit der EU entscheiden kann, das Ständemehr soll nicht gelten. Die Kritik ist gross, auch Befürworter befürchten negative Folgen. War der Entscheid kontraproduktiv?

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Im Gegenteil. Es sind ja vor allem die Gegner der Verträge, die jetzt verärgert sind, und diese haben das Ständemehr schon vorher verlangt. Viele Befürworter hingegen sind in dieser Frage weniger entschlossen. Zu ihnen gehören Kantonsregierungen, Ständeräte oder Parteien. Nachdem der Bundesrat sich so klar festgelegt hat, können sie sich in seinem Windschatten leichter für ein einfaches Volksmehr aussprechen. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Abstimmung ohne Ständemehr erfolgt, ist damit stark gestiegen.

Wird der Streit um Ständemehr und Föderalismus dem Vertragspaket in der Volksabstimmung nicht schaden?

Nein. Im Bundeshaus und in den Redaktionen wird die Bedeutung des Abstimmungsmodus für die Bevölkerung überschätzt. Staatspolitische Fragen lösen kaum Emotionen aus und vermögen nicht zu mobilisieren. Initiativen zu institutionellen Fragen wie «Staatsverträge vors Volk!» oder «Schweizer Recht statt fremde Richter» sind bisher immer klar gescheitert. Ein gutes Beispiel sind zudem die Bilateralen II.

Wieso das?

Damals verlangte die SVP erfolglos eine Abstimmung mit Ständemehr. Im Abstimmungskampf war das aber kein Thema mehr, weil es die Massen nicht bewegte. Das Volk sagte schliesslich Ja, die Stände mehrheitlich Nein – und trotzdem führte dies zu keinen hitzigen Diskussionen. Die Menschen machen sich Sorgen über die Zuwanderung oder den Lohnschutz und wollen darüber abstimmen. Das Ständemehr kümmert sie kaum. Dies insbesondere auch, weil der Föderalismus im Alltag an Gewicht verliert.

Weil die Kantone schwächeln?

Es ist profaner: Die Bevölkerung identifiziert sich schlicht nicht mehr im gleichen Mass mit ihrem Kanton. Bei kantonalen Wahlen ist die Beteiligung meist kaum über 30 Prozent. Es gibt nur wenige kantonale Themen mit Breitenwirkung. Medial dominieren nationale Debatten. Entsprechend ist das Ständemehr im Vergleich zum Volksmehr immer weniger im Bewusstsein der Leute verankert.

Nehmen wir an, das EU-Paket wird von 50,5 Prozent angenommen und tritt in Kraft, obwohl die Mehrheit der Kantone Nein stimmte. Der Frust der Verlierer wäre riesig.

Und was wäre umgekehrt? Frühere Europa-Abstimmungen zeigen, dass sich das Ständemehr nur mit Volksmehrheiten über 56 Prozent wirklich sichern lässt. Das EU-Paket hat intakte Chancen, ein Volksmehr zu erreichen. Die Wahrscheinlichkeit ist aber gross, dass es nicht über die «Todeszone» des fehlenden Ständemehrs hinauskommt. Wir müssen uns auch dieses Szenario vor Augen halten: 55 Prozent sagen Ja zum Paket, doch diese klare Volksmehrheit wird vom Ständemehr übersteuert. Ich wette, dies würde erst recht zu inneren Zerwürfnissen führen.

Trotzdem: Es wäre ein Zeichen der Stärke gewesen, wenn der Bundesrat von sich aus das Ständemehr angeordnet hätte. Er hätte Vertrauen gewonnen.

Das würde ihm wenig helfen. Keine bundesrätliche Vertrauensoffensive und keine noch so gute Abstimmungskampagne können die Hürde von zusätzlich fünf oder sechs Prozentpunkten wettmachen, die für das Ständemehr überwunden werden muss. Aus taktischer Sicht ist es klar: Wer findet, dass die Verträge gut sind für die Schweiz, und die Abstimmung nicht verlieren will, wird sich am Ende für ein einfaches Volksmehr einsetzen.

Sie sprechen von Taktik. Ist es denn auch inhaltlich korrekt?

Interessant ist ja, dass selbst kritische Staatsrechtler wie Andreas Glaser sagen, die Sache sei nicht eindeutig, juristisch sei auch ein fakultatives Referendum ohne Ständemehr zulässig. Letztlich ist es also auch eine politische Frage. Es braucht allerdings bessere Argumente, um von der bisherigen Praxis des fakultativen Referendums bei den bilateralen Abkommen abzuweichen, als sie beizubehalten.

Da gibt es aber noch die Kompass-Initiative: Sie will nachträglich eine zweite Abstimmung über das EU-Paket erzwingen, falls es bei der ersten ohne Ständemehr angenommen wird. Kann das Parlament dieses Risiko eingehen?

Das ist nur ein Scheinrisiko. Die Kompass-Initiative wird überschätzt. Sie mag eine eindrückliche Drohkulisse sein – aber die Drohung ist leer. Wenn das Volk die Verträge mit der EU annimmt, ist es extrem unwahrscheinlich, dass es ein, zwei Jahre später auch die Kompass-Initiative annimmt. Ein Ständemehr dafür genügt ja nicht. Die Wahrscheinlichkeit ist viel grösser, dass das Volk den eigenen Entscheid so kurze Zeit später bestätigt. Am Ende wird die Initiative vielleicht sogar zum Eigentor.

Warum?

Weil sie eine Rückwirkungsklausel enthält, kann die Kompass-Initiative als der abschliessende Entscheid über die neuen Verträge gelesen werden. Das gibt dem Parlament umso mehr Spielraum, vorerst ohne Ständemehr darüber abstimmen zu lassen. Sollte dies grosse Konflikte auslösen oder sich als Fehler herausstellen, könnten Volk und Stände dank der Kompass-Initiative die Notbremse ziehen.

Wie beurteilen Sie das Potenzial der SVP-Initiative «Keine 10-Millionen-Schweiz», die in letzter Konsequenz das Ende der Personenfreizügigkeit verlangen würde?

Sie ist sicherlich die grössere Gefahr für die Verträge als die Kompass-Initiative. Unsere Umfragen zeigen, dass die Zuwanderung die Menschen zunehmend beschäftigt und Unzufriedenheit auslöst. Die SVP-Initiative kann den bilateralen Weg grundsätzlich infrage stellen. Dies vor allem dann, wenn sie vor den neuen Verträgen an die Urne kommt. Dass dieses Risiko eingegangen wird, verstehe ich nicht.

Die anderen Parteien hoffen offenbar auf einen schnellen Sieg gegen die SVP-Initiative. Das soll eine positive Dynamik erzeugen, von der die neuen Verträge profitieren. Finden Sie diesen Plan nicht gut?

Nein, denn das EU-Paket und die SVP-Initiative könnten beide angenommen werden. Die Bevölkerung will geregelte Beziehungen, ärgert sich aber über die Zuwanderung. Ein Ja zur 10-Millionen-Initiative erst nach der Annahme der Verträge würde nicht als Absage an den bilateralen Weg gelesen, sondern als Auftrag, bei der Zuwanderung bessere Lösungen zu finden. Wird die SVP-Initiative jedoch zuerst angenommen, wird dies wohl als Todesstoss für die Verträge verstanden. Um dieses Risiko zu vermeiden, müsste sich das Parlament bei der SVP-Initiative mit einem Gegenvorschlag Zeit verschaffen, das EU-Paket aber zügig behandeln.

Zügig? Fast alle Parteien wollen unbedingt vermeiden, dass die Abstimmung über das Paket in das Wahljahr 2027 fällt. Das gilt vor allem für FDP und Mitte, die gespalten sind.

Auch das leuchtet mir nicht ein. Gerade für FDP und Mitte wäre es doch ideal, wenn das Volk spätestens im Juni 2027 entscheiden würde. Dann ist das für sie mühsame Thema vom Tisch, bevor die heisse Phase des Wahlkampfs beginnt. Andernfalls wird die Detailberatung im Parlament just in dieser Zeit stattfinden. Ihre Zerrissenheit wird medial endlos ausgeschlachtet, sie müssen öffentlich zerstritten den Wahlkampf bewältigen. Dieses Risiko würde ich als Parteipräsident nicht eingehen.

Zuletzt eine Frage zur Transparenz, um Ihre Analysen besser einordnen zu können: Unterstützen Sie persönlich die neuen EU-Verträge?

Ja. Ich halte stabile Beziehungen zur EU für wichtig und die Schweiz für stark genug, sich in dieser Beziehung zu behaupten.

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