Mittwoch, Januar 15

Auf Luxusdampfern verschiffte die sowjetrussische Geheimpolizei vor hundert Jahren unliebsame Künstler und Intellektuelle in den verdorbenen Westen. Von den Exilanten erzählt auch Michael Köhlmeiers neuer Roman «Das Philosophenschiff».

Literarisch betrachtet, ist diese Dame ein Jahrhundertfund. Auf den Tag genau hundert Jahre alt ist sie, als sie die Bekanntschaft eines gewissen Michael Köhlmeier macht. Und weil sie bisher auch nicht in den Klauen der Demenz gelandet ist, kann sie sich glasklar an die entscheidenden Dezennien nicht nur der Familien-, sondern auch der Weltgeschichte erinnern. Man muss Frau Professor Anouk Perleman-Jacob nur reden lassen. Schon fliegt einem mit Köhlmeiers neuem Roman «Das Philosophenschiff» die Historie um die Ohren.

Frau Perleman-Jacob wohnt in einer Villa im Wiener Nobelbezirk Hietzing. Der österreichische Schriftsteller ist ihr bekannt. Jetzt, wo sie ihren Tod ahnt, braucht die frühere Architektin einen Lebenszeugen. In tagelangen Gesprächen erzählt sie gegen ihr Ende an, und es beginnt etwas, was man einen sanften geschichtsrevisionistischen Akt nennen kann. Köhlmeiers Philosophenschiff segelt gemächlich los. Er ist als Ich-Erzähler der Kapitän an Bord, wenn es um Fragen der Menschlichkeit und der grossen Politik geht. Um Fragen der Liebe und vor allem um Fragen der Macht.

Die wütende Paranoia Lenins reicht bis nach Paris

Geboren in St. Petersburg kurz nach der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert, erlebt Anouk Perleman-Jacob die russische Revolution hautnah mit. Ihre jüdischen Eltern, der Vater ein Architekt, die Mutter Ornithologin, gehören zur bourgeoisen Klasse und werden 1917 ihrer Besitztümer und ihrer Würde beraubt. Es folgen die Flucht nach Paris und dort ein Bohèmeleben mit anderen Exilrussen. Lyriker und Libertäre, Philosophen und politisch Entflammte treffen sich in den Cafés und engen Wohnungen. Die freie Liebe ist auch ein Remedium gegen die Angst, denn aus der Heimat hört man nichts Gutes.

Der lange Arm der Leninschen Revolution reicht bis nach Paris. Das russische Spitzelwesen schult sich im Umgang mit möglichen Feinden, und als die Familie Perleman-Jacob wieder nach St. Petersburg zurückkommt, ist klar: Jeder Intellektuelle ist verdächtig. Die Verhöre von Künstlern, Philosophen und Wissenschaftern finden nur zum Schein statt. Die Urteile sind längst gesprochen. Die wütende Paranoia Lenins, gepaart mit Leo Trotzkis infernalischer Todeslogistik, lässt die Feinde der Revolution zu Hunderttausenden ermorden.

Auf die schreibenden Theoretiker Lenin und Trotzki, die als Geister die Revolten der späteren europäischen Linken prägen, fällt bei Köhlmeier das allerschlechteste Licht. «Das Philosophenschiff» ist ein um viele Ecken erzählter und gedachter Roman, ein essayistisches Spiegelkabinett, in dem es manchmal auch ein bisschen zu viel Dekor gibt.

Was ist erfunden, was ist Wahrheit?

Mehrere Tage hintereinander macht der Schriftsteller seine Besuche bei der alten Dame. So lange, bis sie alles erzählt hat. Von den europäischen Tragödien erzählt Michael Köhlmeier mit einer Komödie, wie sie eigentlich nur in Wien spielen kann. Die Gegenwart ist voller Crèmeschnitten und Schnitzel. Es gehört zur luziden Vertrotteltheit der alten Dame, dass sie sich in den Schleifen ihres eigenen Lebens verlieren kann. Ihr per Handy mitschneidender Eckermann muss dann Ordnung in die Dinge bringen, so, wie es auch der Leser tut. Was ist erfunden, was ist Wahrheit?

1922 wird die Familie Perleman-Jacob von der sowjetrussischen Geheimpolizei Tscheka auf einen Luxusdampfer gebracht, der sie übers Meer nach Deutschland bringen soll. Es ist ein Kuriosum, dass es die «Philosophenschiffe», von denen der Roman seinen Namen hat, wirklich gab. Auf ihnen wurden Künstler und Intellektuelle ausser Landes gebracht. Als Präventivschlag gegen den denkenden Klassenfeind.

Einer amerikanischen Journalistin erklärt der echte Leo Trotzki im August 1922: «Diese Elemente, die wir ausweisen oder ausweisen werden, sind politisch bedeutungslos. Aber sie sind potenzielle Waffen in den Händen unserer möglichen Feinde.» Die Weltöffentlichkeit möchte doch bitte die «weitsichtige Humanität» der maritimen Deportationsaktion erkennen, denn eigentlich müssten die Betroffenen umgehend gehenkt werden.

An dieser Stelle verabschiedet sich Michael Köhlmeiers Roman wieder von den Fakten und entwickelt so etwas wie Counterfactual History. Anouk Perleman-Jacob nähert sich dem Höhepunkt ihrer Geschichte. Auf dem Luxusdampfer Richtung Deutschland sei man ein kleines Trüppchen gewesen, bis in einer mysteriösen Aktion noch ein weiterer Passagier an Bord gebracht worden sei. Die Neugier der damals vierzehnjährigen, übers Schiff streifenden Anouk ist genauso gross wie schliesslich ihre Entdeckung. Es ist Lenin selbst. Nach einem Attentat halbseitig gelähmt, sitzt er einsam im Rollstuhl auf dem Sonnendeck der ersten Klasse. Noch ein Deportierter. Die russische Geschichte kann ihn nicht mehr brauchen. Und sein in den Startlöchern stehender Nachfolger schon gar nicht.

Linke Irrtümer aller Epochen

Dass die Revolution ihre Väter frisst, ist eine Erzählung des Köhlmeierschen Romans. Dass es den Kindern der Revolution nicht anders geht, eine andere. Quer über die Epochen hinweg geht es um linke Irrtümer. Um frühere Sympathien des Autors für die deutsche RAF und um Freunde, die beim maoistisch-stalinistischen KBW waren. Beim Kommunistischen Bund Westdeutschlands, wo man den Völkermörder Pol Pot für einen «im Übermass konsequenten Mann» hielt.

Was das konsequente Übermass der Macht ist, sagt der todesnahe Lenin dem staunenden vierzehnjährigen Mädchen in Köhlmeiers Roman ganz deutlich: «Die Macht zu gestalten, die Macht, das Richtige zu tun, die Macht, einen Staat zu lenken. Alles Ausreden. Es gibt nur eine Macht. Die Macht zu töten. Von ihr leitet sich alle andere Macht ab. Die Macht, über ein Leben zu entscheiden. Ob ja oder nein.»

Von der Geschichte der alten Dame führen gerade Linien zur Diktatur Wladimir Putins, der sich nicht zuletzt auf Lenin beruft. Michael Köhlmeiers Philosophenschiff ist auch ein Geisterschiff. Wenn es im wirklichen Leben zugeht wie im Roman, steht der nächste Diktator schon hinter dem jetzigen. Ein kleiner Stoss genügt. Der Rest ist ein Fall für die Fische.

Michael Köhlmeier: Das Philosophenschiff. Roman. Hanser-Verlag, München 2024. 224 S., Fr. 32.–.

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