Derzeit wird in Deutschland die Mahnung an die historische Verantwortung gerne polemisch verknüpft mit dem Hinweis auf die vermeintlich überzogene Gewalt Israels gegen die Palästinenser. Der Historiker Michael Wolffsohn kritisierte am Evangelischen Kirchentag heftig den Israel-Hass. Die NZZ bringt hier seine Rede.

Auch am Evangelischen Kirchentag 2025 wird wieder kräftig politisiert. Aber als politischer Akteur ist die Kirche einer von vielen politischen Akteuren und hat ihre Rolle als irdisch-moralische, nahezu metaphysisch legitimierte Instanz selbstverschuldet verspielt.

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Trotzdem habe ich die Einladung zum Kirchentag 2025 angenommen. Wegen des Themas der Diskussion, an der ich teilnehmen soll: «Eine Vertrauensfrage? Deutsche Erinnerung nach dem 7. Oktober». Ich fürchte nämlich, dass weniger die Podiumsteilnehmer als vielmehr die anwesenden Massen die beiden Themen «Deutschlands (Ewige?) Schuld» einerseits und andererseits «Nahost, Israel, Palästina» zusammenführen wollen, um zu «beweisen»: Damals begingen die Deutschen Völkermord an den Juden, heute tun die Juden beziehungsweise Israeli Gleiches an den Palästinensern.» Also: «Israel = Nazis». Gegen diesen kontrafaktischen Meinungsstrom müssen Deiche errichtet werden. Ich bitte also dieser mildernden Umstände wegen um Absolution.

Die willigen Helfer der Nazis

Thema deutscher Erinnerungskultur ist die Last der Geschichte des Nationalsozialismus von 1933 bis 1945, die Nachwirkungen nach 1945 bis in die Gegenwart. Deren Akteure im eigentlichen Sinne sind die heutigen und künftigen Nachfahren der Deutschen, die im «Dritten Reich» lebten.

Akteure im Nahostkonflikt zwischen Israeli und Palästinensern sind seit rund 140 Jahren Israeli und Palästinenser. Was aus taktisch, tages- und falsch verstandenen integrationspolitischen Gründen fast immer vermieden wird, ist die erweiterte Perspektive.

Blickt man über den nationalsozialistisch-deutschen Mordmeister hinaus auch auf seine ausserdeutschen, willigen Gesellen – ist festzuhalten: Zu den willigen Gesellen des nationalsozialistischen Mordmeisters zählten zahlreiche Kollaborateure in Europa, die damalige Führung der Palästinenser, weitere arabisch-islamische Nationalisten in Ägypten, Syrien und im Irak oder iranische, europäische sowie aussereuropäische Antikolonialisten, die mit den Faschisten die westlichen oder sowjetischen Kolonialisten bekämpften. Man denke an die ukrainischen, muslimischen Kaukasus- und hinduistisch-indischen Nationalisten.

Daraus folgt: Schon aus faktisch-historischen Gründen ist die besonders bei Anhängern der Postkolonialismus-Theorie beliebte Gleichung «Juden/Israeli = Nazis» grundfalsch. In Teilen stimmt eher die Nähe von Antikolonialismus und Faschismus.

Wenn man im Heute (inflationiert) die NS-Vergangenheit thematisiert, dann bitte nicht, indem man wesentliche Fakten ignoriert oder tabuisiert. Vielmehr gelte das Motto der «New York Times» («NYT»): «All the News That’s Fit to Print». Dass auch die «NYT» dieser Leitlinie nicht unbedingt folgt, sei nur nebenbei erwähnt. «Juden/Israel = Nazis» ist das Lieblingsthema der Postkolonialisten. Da eine Theorie bisher nicht Widerlegtes enthalten muss, ist die Postkolonialismus-Strömung keine Theorie, sondern es handelt sich dabei um kontrafaktische Konstruktionen.

Aus alldem folgt: Indem die Organisatoren des Evangelischen Kirchentages das Thema «Eine Vertrauensfrage? Deutsche Erinnerung nach dem 7. Oktober» wählten, griffen Sie zwar unausgesprochen, doch unzweideutig die postkolonialistisch gefärbte, kontrafaktische, nahezu global und millionenfach lautstark hinausposaunte Behauptung «Juden/Israel = Nazis» auf. Auf diese Weise erhält die skandalöse Umkehrung von Opfern und Tätern quasi kirchliche Weihen.

Damit präsentiert und qualifiziert sich die evangelische Kirche einmal mehr als politischer Akteur. Zugleich disqualifiziert sie sich als weltlich- und erst recht als religiös-moralische, nahezu metaphysische Instanz. Sie ist – mit und ohne Missbrauchsfälle – austauschbar und auf dem Feld der Möchtegern-Politik der echten Politik unterlegen, denn Politik können Politiker besser.

«Auge um Auge, Zahn um Zahn» bedeutet nicht wilde Rache

Einmal mehr: Schade, denn religiös, theologisch und eben über den deutschen Tellerrand hinaus menschheitsethisch liesse sich zum Thema «7. Oktober» so manches fragen und sagen. Ein Beispiel: Was soll, was kann als Reaktion auf den 7. Oktober 2023 gelten? Die Botschaft Jesu aus der grandiosen Bergpredigt (Neues Testament, Matthäus 5,44)? «Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde.» Oder gelte (Altes Testament, Exodus 21,24) «Auge um Auge, Zahn um Zahn»?

Kann man von den Juden / den Israeli verlangen, ihre Hamas-Feinde zu lieben oder auch nur zu verschonen? Hätten die Juden und andere Opfer des deutschen Nationalsozialismus Hitler und seine Mitverbrecher lieben sollen? Wer die Frage bejaht, käme zwangsläufig zu dem Schluss, der Krieg gegen Hitler-Deutschland wäre durch und durch unmoralisch gewesen.

«Auge um Auge, Zahn um Zahn» wird ohnehin total missverstanden. Nämlich als Aufforderung zu wilder Rache. Das genaue Gegenteil trifft zu. Gemeint ist damit die Ausgewogenheit zwischen Tat und Strafe. Die Strafe dürfe nicht schwerer als die Tat sein. Das nennt man Verhältnismässigkeit. Von Rache keine Spur, und auf ebenjener Verhältnismässigkeit von Tat und Strafe basiert die Ordnung eines jeden Rechtsstaates.

Krieg und Verhältnismässigkeit schliessen einander strukturell aus. Im Krieg will A gegen B seinen Willen durchsetzen, also siegen und folglich stärker als der andere sein. Keine Verhältnismässigkeit, sondern Sieg oder Niederlage. Das moderne Völkerrecht versucht, die strukturelle Kluft zwischen der militärischen Notwendigkeit siegreicher Überlegenheit und menschlich, moralisch gebotener Verhältnismässigkeit zu verringern. Ehrenhaft, aber historisch bislang völlig erfolglos.

Stoff zum Nachdenken

Auch zum Thema «Völkermord» bietet die Juden und Christen gemeinsam heilige Bibel reichlich Stoff zum Nachdenken. Man denke an die (ganz und gar unhistorische) biblische Erzählung von der Eroberung des Heiligen Landes durch die Kinder Israels. Als sich ihnen unter König Saul die militärische Gelegenheit bot, empfingen sie Gottes Befehl, das Volk der Amalekiter, das ihnen lange zuvor den Weg ins Land brutal versperrt hatte, zu vernichten. König Saul besiegte die Amalekiter total, aber führte Gottes Befehl zum Völkermord nicht aus, was sowohl den göttlichen Zorn des Richter-Propheten Samuel als auch den höchstgöttlichen Zorn Gottes hervorrief. König Saul wurde bestraft.

Nicht nur Atheisten, wahrscheinlich (und hoffentlich!) sympathisieren wir Heutigen diesbezüglich mit König Saul und eben nicht mit dem alles andere als lieben biblischen Gott.

Wer jedoch den biblischen Text aufmerksam liest, erkennt: Der oder die Autoren dieser Bibelgeschichte erzählen sie vielschichtig, denn nicht nur am Ende ist Saul eine tragische, mitleiderregende Person – anders als David und Salomon, die wahrlich nicht als die Personifizierung menschlicher Tugenden dargestellt werden. Kein Wunder, dass der biblische Saul bedeutende Schriftsteller wie Karl Wolfskehl, André Gide oder Botho Strauss zu lesens- und sehenswerten Theaterstücken inspirierte.

Gerade ausgehend vom Politischen führen unzählige Seins- und Sinnfragen zurück ins Urreligiöse, ins Urmenschliche. Aber nein, auf dem Evangelischen Kirchentag beschäftigen wir uns mit der platten, kontrafaktischen, explosiven und letztlich antisemitischen Gleichsetzung von Juden, Israeli und Nazis. Wer heute Erinnerung so betreibt, wird nicht nur erinnerungspolitisch, sondern auch allgemeinpolitisch heute und morgen scheitern. Die Kirche wird sich selbst als religiöse Instanz abschaffen.

Michael Wolffsohn ist Historiker und Publizist. Der vorliegende Text ist eine leicht gekürzte Fassung der Rede des Autors zum Evangelischen Kirchentag am 1. Mai in Hannover. Jüngst vom Autor erschien «Feindliche Nähe. Von Juden, Christen und Muslimen», Herder-Verlag, Freiburg, 272 S., Fr. 29.90.

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