Der Schiefergas-Boom in den USA hat in den vergangenen Jahren zur Abschaltung einiger Reaktoren geführt. Der KI-Boom könnte sie wieder ans Netz bringen.
Grosse Techunternehmen wie Microsoft, Google oder Amazon sehen sich gerne als Vorreiter im Hinblick auf den Klimaschutz. Schon vor Jahren haben sie dargelegt, wie sie möglichst rasch klimaneutral werden wollen. Doch der Boom der künstlichen Intelligenz (KI) droht ihnen einen Strich durch die Rechnung zu machen.
Sowohl Microsoft als auch Google mussten kürzlich eingestehen, dass ihre CO2-Emissionen im Vergleich zu den Vorjahren nicht gesunken, sondern gestiegen sind. Offensichtlich kann die Umstellung der Rechenzentren auf erneuerbare Energien nicht mit dem explodierenden Energiebedarf Schritt halten. Dieser geht vor allem auf das Cloud-Computing und energieintensive KI-Anwendungen wie Chat-GPT zurück. Laut Analysten könnte sich der Energieverbrauch von Rechenzentren in den USA bis 2030 verdoppeln.
Rettung soll ausgerechnet die Kernenergie bringen, die in den USA in den vergangenen Jahren mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte. Amazon hat vor einigen Monaten ein Rechenzentrum mit einer Leistung von 960 Megawatt in Pennsylvania gekauft, das von einem nahe gelegenen Kernkraftwerk rund um die Uhr mit CO2-freiem Strom versorgt wird.
Noch einen Schritt weiter geht Microsoft. Der Tech-Gigant hat kürzlich einen Vertrag mit dem Eigentümer des Kernkraftwerks Three Mile Island in Harrisburg abgeschlossen. Der Name weckt Erinnerungen an den Reaktorunfall von 1979, bei dem es zu einer partiellen Kernschmelze kam. Die nun getroffene Vereinbarung betrifft den zweiten Reaktor, der damals unbeschädigt geblieben war. Er wurde 2019 stillgelegt, weil er wegen des Schiefergas-Booms in den USA nicht mehr rentabel war. Falls die nukleare Aufsichtsbehörde der USA ihr Okay gibt, soll der 835-Megawatt-Reaktor 2028 wieder ans Netz gehen und die Rechenzentren von Microsoft 20 Jahre mit Strom beliefern.
Auch andere grosse Techunternehmen suchen nach schnellen Lösungen für ein Problem, das ihnen über den Kopf zu wachsen droht. Führt also der KI-Boom zu einem zweiten Leben für Kernkraftwerke, die aus wirtschaftlichen Gründen ausgemustert wurden? Und warum setzen Microsoft & Co. nicht auf innovativere Lösungen, etwa kleine modulare Reaktoren, wie sie beispielsweise die von Bill Gates gegründete Firma Terrapower entwickelt? Immerhin ist Gates der Gründer und langjährige CEO von Microsoft.
Kleine modulare Reaktoren kommen zu spät
Kleine modulare Reaktoren wären durchaus in der Lage, Rechenzentren mit Strom zu versorgen. Diese vorgefertigten Reaktoren haben eine elektrische Leistung von maximal 300 Megawatt (ungefähr ein Drittel der Leistung herkömmlicher Reaktoren) und können je nach Bedarf miteinander kombiniert werden. Der Strompreis dürfte sich dadurch zwar nicht reduzieren. Wegen der modularen Bauweise verspricht man sich aber kürzere Bauzeiten. Ausserdem ist die Schwelle für Investoren weniger hoch.
In China und Russland gibt es solche Reaktoren bereits. In westlichen Ländern wartet man noch auf ihren Durchbruch. Das einzige bisher zertifizierte Projekt in den USA hat kürzlich Schiffbruch erlitten. Die Firma Nuscale hatte die Kosten für ihr Pilotprojekt in Idaho massiv unterschätzt. Das sollte eine Warnung sein. Kleine modulare Reaktoren mögen mittelfristig vielversprechend sein. Die Techunternehmen suchen aber nach einer raschen Lösung ihres Energieproblems.
Das erklärt, warum stillgelegte Kernkraftwerke plötzlich wieder interessant werden. Zwar können auch sie nicht von heute auf morgen Strom liefern. Mit einigermassen moderaten Investitionen könnten sie aber in wenigen Jahren wieder einsatzbereit sein.
Die Probe aufs Exempel wird gerade im amerikanischen Gliedstaat Michigan gemacht. Dort steht das Kernkraftwerk Palisades, das im Mai 2022 aus wirtschaftlichen Gründen vom Netz genommen wurde. Eigentlich sollte es zurückgebaut werden. Inzwischen gibt es aber politische Bestrebungen, das Kernkraftwerk bis Oktober 2025 wieder ans Netz zu bringen. Es soll 800 000 Haushalte in ländlichen Regionen mit Strom versorgen. Es wäre das erste Mal, dass in den USA ein stillgelegter Reaktor wieder in Betrieb genommen wird.
Das amerikanische Energieministerium unterstützt das Projekt und hat eine Darlehensgarantie über 1,5 Milliarden Dollar gegeben. Das sollte es der Betreiberin des Kernkraftwerks erlauben, einen Kredit zu günstigen Konditionen zu erhalten. Das Geld wird zum einen für die Nachrüstung des 50 Jahre alten Kernkraftwerks benötigt. Zum anderen kostet auch die Rekrutierung und Schulung neuer Mitarbeiter Geld.
Begleitet wird das Projekt von der Nuclear Regulatory Commission. Die nukleare Aufsichtsbehörde der USA muss sicherstellen, dass die Anlage den Sicherheitsbestimmungen entspricht. Dafür wurde extra eine Arbeitsgruppe gegründet. Sie soll Richtlinien für die Wiederinbetriebnahme von stillgelegten Kernkraftwerken erarbeiten. Damit spielt das Palisades-Projekt eine Vorreiterrolle, von der Microsoft und andere Techunternehmen profitieren könnten.
Ist der Reaktordruckbehälter zerlegt, ist es zu spät
Ob und wie schnell ein stillgelegter Reaktor wieder in Betrieb genommen werden kann, hängt davon ab, in welchem Zustand er sich befindet. Man unterscheide bei Kernkraftwerken zwischen sofortiger und verzögerter Stilllegung, sagt die Kerntechnikerin Annalisa Manera von der ETH Zürich.
Bei der sofortigen Stilllegung wird nach der Entfernung der Brennstäbe und der Dekontamination des primären Kühlkreislaufs mit dem Rückbau des Reaktors begonnen. Dabei werden zunächst nichtnukleare Komponenten wie Pumpen, Leitungen, Wärmetauscher und Turbinen entfernt.
Solange der Reaktordruckbehälter noch intakt ist, lassen sich diese Massnahmen im Prinzip rückgängig machen. Manera hält das allerdings nicht für sinnvoll. «Ein Neustart kommt nur für Reaktoren infrage, die den Weg der verzögerten Stilllegung gegangen sind und deren Komponenten sich noch in einem guten Zustand befinden.»
Bei der verzögerten Stilllegung wird der Reaktor nach der Abschaltung für einen längeren Zeitraum sicher eingeschlossen. In diesem Zustand habe sich der Reaktor von Three Mile Island befunden, so Manera. Je nach Zustand seiner Komponenten sollte es daher relativ einfach sein, ihn wieder in Betrieb zu nehmen.
Der Betreiber müsse Wartungsarbeiten durchführen, möglicherweise einige Komponenten ersetzen, neues Personal einstellen und schulen, neue Verträge für Kernbrennstoffe abschliessen und eine neue Betriebsgenehmigung beantragen. Das sei in wenigen Jahren zu schaffen, sagt Manera.
Japan macht vor, was möglich ist
Dass eine Wiederinbetriebnahme stillgelegter Reaktoren auch noch nach vielen Jahren möglich ist, zeigt das Beispiel Japan. Das Land hatte nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima im Jahr 2011 zahlreiche seiner 54 Reaktoren ausser Betrieb genommen. Zeitweise musste das Land völlig ohne Atomstrom auskommen.
Inzwischen ist die Situation eine andere. Die japanische Regierung hat erkannt, dass sie die Kernenergie braucht, um ihre Klimaziele zu erreichen. Bis 2030 sollen Kernkraftwerke wieder 20 bis 22 Prozent des Stroms liefern. Deshalb fördert die Regierung die Wiederinbetriebnahme stillgelegter Reaktoren.
Laut einem Bericht der World Nuclear Association gibt es in Japan 33 Reaktoren, die als betriebsfähig eingestuft werden. Davon haben seit 2015 12 eine neue Betriebsgenehmigung erhalten. Der Neustart kostete zwischen 700 Millionen und 1 Milliarde Dollar.
Bei 13 Reaktoren läuft das Genehmigungsverfahren noch. Der japanische Wirtschaftsminister Yoji Muto hat kürzlich das Ziel bekräftigt, so viele Reaktoren wie möglich zu reaktivieren – solange sie sicher seien. Das zu beurteilen, ist die Aufgabe der japanischen Regulierungsbehörde. Und die hat nach der Katastrophe von Fukushima ihre Kriterien zur Regulierung von Kernkraftwerken verschärft. Erst kürzlich hat sie sich geweigert, den Neustart eines Reaktors zu genehmigen, der sich über einer seismisch aktiven Zone befindet.
Die Situation in Japan sei nicht mit der in den USA zu vergleichen, sagt Manera. In den USA habe der Schiefergas-Boom dazu geführt, dass einige ältere Reaktoren nicht mehr rentabel seien. In Japan seien es politische Gründe gewesen, die nach Fukushima zu einer Abschaltung der Reaktoren geführt hätten. Viele Kernkraftwerke befänden sich immer noch in einem guten Zustand. Es sei nie die Absicht gewesen, sie dauerhaft ausser Betrieb zu nehmen.
Die Situation in Japan unterscheidet sich auch von der in Deutschland. Dort hat der Bundestag im April einen Antrag der CDU/CSU-Fraktion abgelehnt, den Rückbau der letzten drei deutschen Kernkraftwerke zu stoppen. Diese waren ein Jahr zuvor vom Netz genommen worden.
Manera glaubt nicht, dass das Beispiel Three Mile Island Schule machen wird. Es gebe in den USA nicht viele Reaktoren, die mit relativ wenig Aufwand zu reaktivieren seien. «Die Wiederinbetriebnahme eines stillgelegten ist eher die Ausnahme als die Regel.» Sinnvoller sei es, die Laufzeit bestehender Kernkraftwerke zu verlängern.