Laut Feng-Shui soll man die Westseite seines Heims gelb dekorieren, um reich zu werden. So heisst es im jüngsten Roman der Japanerin Mieko Kawakami, der unaufgeregt auf Armut und Verbrechen blickend dem Leser gerne falsche Fährten auslegt. Sie liest in Zürich.
Mieko Kawakami ist das It-Girl der japanischen Literatur. Die jugendlich wirkende 48-Jährige mit dem makellosen Teint könnte auch als Testimonial für eine der derzeit gehypten koreanischen Kosmetikmarken arbeiten. Ihre Bob-Frisur sitzt perfekt wie bei der gerade abgetretenen «Vogue»-Chefredaktorin Anna Wintour. Selbst das plissierte gelbe Oberteil, in dem die Schriftstellerin für ihren neuen Roman «Das gelbe Haus» posiert, demonstriert pures Stilbewusstsein.
Ihren literarischen Durchbruch verdankt Kawakami dem Roman «Brüste und Eier» (auf Deutsch 2020), einem Frontalangriff auf das konservative Japan. Sie schrieb darin nicht nur über Armut und die gängige Erwartung an Frauen, selbstlose und einwandfrei funktionierende Mütter zu sein, sondern auch über Brustwarzen-Bleachings und blutige Tampons, Asexualität und eine Fortpflanzung möglichst ohne Männer.
Das humorgeladene Werk spaltete die Nation. Der Schriftsteller Haruki Murakami nannte es «atemberaubend». Sein Kollege Shintaro Ishihara, wie Kawakami Träger des angesehenen nationalen Akutagawa-Preises, fand es «unerträglich».
Fast alles ist prekär
In «Das gelbe Haus» spielen Armut und Geschlechterrollen wieder eine Rolle – verbunden mit einer gehörigen Portion «crime». Zu Beginn des Romans entdeckt die etwa vierzigjährige Ich-Erzählerin Hana im Netz eine Meldung über ihre frühere Bekannte Kimiko. Diese steht vor Gericht, weil sie angeblich eine Frau gefangen gehalten haben soll. Die skurrile Nachricht, die Hana mitten in der Corona-Pandemie erreicht, ruft die Erinnerung an einschneidende Erlebnisse ihrer Jugend wach.
Aufgewachsen ist Hana in den neunziger Jahren in einem armseligen Holzhaus im Grossraum Tokio. Als Teenager wird sie gemobbt und leidet unter der Lebensuntüchtigkeit ihrer Mutter, die wechselnde «Beschützer» aus der Halbwelt hat. Als die Mutter plötzlich für ein paar Jahre verschwindet, kümmert sich deren Freundin Kimiko um das Mädchen. Aus der Dauerkrise ihrer Kindheit zieht Hana einen Schluss: möglichst viel Geld anzuhäufen, um unabhängig zu werden. Dabei helfen soll ihr die Farbe Gelb, die laut der Lehre des Feng-Shui Geld anzieht.
Dann taucht der Roman in die verrauchte und alkoholgeschwängerte Luft des Tokioter In-Viertels Sangenjaya ein. Dort betreibt die inzwischen 17-jährige Hana gemeinsam mit Kimiko die florierende Bar «Lemon». Bald stossen zwei weitere Mädchen, ehemalige «Hostessen», dazu.
«Enko» heisst das in Japan verbreitete Geschäftsmodell, bei dem Oberschülerinnen reiche Männer begleiten und sich von diesen aushalten lassen, ohne dass es dabei zwingend um Sex gehen muss. Bald wohnen die vier Frauen auch zusammen – im sogenannten «gelben Haus». Hinter der glitzernden Fassade des Nachtlebens führt die zusammengewürfelte «sisterhood» allerdings ein erstaunlich unglamouröses Leben zwischen Convenience Store und McDonalds, Boyband-Fandom und Karaokesingen. Fast scheint es, als könne die Wahlgemeinschaft Hana die ramponierte Familie ersetzen.
Doch in diesem Buch ist alles prekär: das Selbstbewusstsein der Frauen, der Zusammenhalt der Gesellschaft, die ganze Existenz. Von den weiblichen Charakteren weiss keine, auch Hana nicht, wohin mit sich. Männer sind nur schemenhaft präsent, als Väter, Boyfriends oder Sugar-Daddys. Der einzige Mann, dem Mieko Kawakami in ihrer Erzählung Raum gibt, ist der undurchsichtige, aber hilfreiche Koreaner Yeong-su, der als Kind verächtlich «Kimchi» genannt wurde. Er gehört offensichtlich zur Mafia.
Kunstvoll in der Schwebe
Das Gegenstück zum stillen Yeong-su ist der geschäftige Journalist Nekota Nagasawa, der eines Tages im «Lemon» auftaucht. Der korpulente Mann mit einem «Teint so weiss wie ein Reiskuchen» kündigt grossspurig an, für ein Buch zu «terekura» – Sex-Dating – und «burusera» zu recherchieren. Bei dieser japanischen Spielart des Fetischismus verkaufen junge Mädchen ihre gebrauchte Unterwäsche und ihre Schuluniformen. Doch Nagasawa bleibt ein amüsanter Treppenwitz. Er will nur schnell im Erdgeschoss des «Lemon» nach dem Rechten sehen – und hinterlässt eine Leerstelle im Roman.
All dies erzählt Kawakami im Plauderton eines Gesellschaftsromans. Ihre Charaktere entwickelt sie durch die leicht unscharfe Brille von Hanas Wahrnehmung, hauptsächlich mittels beiläufiger Dialoge. Als das «Lemon» jedoch eines Tages aus unbekannter Ursache abbrennt, wird die Erzählung zum temporeichen Thriller.
Angeführt von Hana werden die vier Frauen vollends kriminell. Organisiert werden ihre Raubzüge von der geheimnisvollen Viv-san, welche die Frauen für ihre Kreditkartenbetrügereien quer durch Tokio hetzt. Die im gelben Haus versteckten Geldbündel werden dicker und dicker. Während des Showdowns stellt sich die Frage: Was wird siegen, der Gemeinschaftssinn oder die Geldgier?
Vieles bleibt in «Das gelbe Haus» bis zum Schluss im Unklaren, wird meisterhaft in der Schwebe gelassen. Nicht nur, weil Kawakami sich mit Wertungen, ja Kategorisierungen überhaupt, stark zurückhält. Am ehesten zeigt dieser flirrende Roman Aufbrüche und Abbrüche, Irrwege und alltägliches Scheitern – schillert dabei aber wie eine bunte Seifenblase. Ohne philosophisch zu werden, führt das Buch die Unbeherrschbarkeit und die Hinfälligkeit des eigenen Schicksals vor Augen. Das begehrte Geld, das den Protagonisten immer wieder zwischen den Händen zerrinnt, ist dafür das umfassende Symbol.
Mieko Kawakami: Das gelbe Haus. Roman. Aus dem Japanischen von Katja Busson. Dumont-Verlag, Köln 2025. 528 S., Fr. 36.90.
Mieko Kawakami wird am 16. September um 19 Uhr 30 ihr neues Buch im Literaturhaus Zürich vorstellen. Moderation: Daniela Tan.