Mittwoch, Oktober 2

Die Freiheitliche Partei hat bei der Wahl in Österreich das beste Ergebnis ihrer Geschichte erzielt. Warum der Ibiza-Skandal an ihr abperlte und wie sie zur Krisengewinnlerin wurde.

Die Bilder vom Wodka-Gelage des damaligen FPÖ-Chefs Heinz-Christian Strache in einer Finca auf Ibiza gingen um die Welt. Er phantasierte gegenüber einer vermeintlichen russischen Oligarchin von Korruption und Machtmissbrauch, was ihn den Parteivorsitz und das Amt des Vizekanzlers kostete. Die FPÖ flog aus der Regierung und brach bei den Wahlen im darauffolgenden Herbst 2019 um fast 10 Prozent ein.

Dass sie nur fünf Jahre später ihr Rekordergebnis feiert, ist erstaunlich. Wie ist das möglich? Die FPÖ ist traditionell eine Partei, deren Wähler Skandale rasch verzeihen. Nach einer chaotischen Regierungszeit stürzte sie schon 2002 dramatisch ab, erholte sich aber in den folgenden Jahren unter Strache wieder. Für den jüngsten Wahlerfolg gibt es allerdings noch weitere Gründe.

1. Kickl lässt die Skandale hinter sich

Eine Voraussetzung für das Wiedererstarken war der völlige Bruch mit dem langjährigen und für die Partei überaus erfolgreichen Vorsitzenden Strache, der sogar in dessen Ausschluss mündete. Eine treibende Kraft dahinter war der damalige Generalsekretär Herbert Kickl, der als geschickter Stratege die Gefahr für die Partei sofort erkannte und keinerlei Sentimentalitäten anhängt.

Im Frühling 2021 wurde Kickl Parteichef. Zu Recht konnte er behaupten, alle an der Ibiza-Affäre Beteiligten seien nicht mehr Teil der FPÖ. Hilfreich war zudem, dass die juristische Aufarbeitung der Geschehnisse auch unschöne Machenschaften der ÖVP zutage förderte. Alle anderen Parteien legten den Fokus daraufhin aus politischen Gründen auf die Korruptionsvorwürfe gegen die mächtigen Konservativen. Dadurch geriet zum einen der Ibiza-Skandal in den Hintergrund. Zum anderen entstand der Eindruck, dass alle Politiker «eben so sind».

Kickl ist zudem ein ganz anderer Charakter als Strache – misstrauisch und verschlossen. Als Person ist er in der Partei weniger beliebt, und laut der Nachwahlanalyse des ORF war er auch kein wichtiges Zugpferd für die FPÖ-Wähler. Aber während er durch seine radikalen Vorhaben und die brutale Rhetorik schockiert, sind keinerlei private Eskapaden bekannt – weder gegenwärtig noch in der Vergangenheit. So gelang es Kickl, die Aufmerksamkeit auf die Inhalte der Partei zu lenken und das Skandal-Image einfach abzustreifen.

2. Der Sebastian-Kurz-Effekt ist verpufft

Die FPÖ konnte gegenüber der Wahl vor fünf Jahren laut der Wählerstromanalyse des Instituts Foresight fast 260 000 der damaligen Nichtwähler mobilisieren. Damals war die Wahlbeteiligung nach der Ibiza-Affäre vergleichsweise tief, vor allem freiheitliche Wähler blieben zu Hause.

Noch wichtiger ist indes, dass die FPÖ gut 440 000 vormalige Wähler der konservativen ÖVP zurückgewinnen konnte. Die hohe Zahl lässt sich mit Sebastian Kurz erklären: Als dieser die ÖVP 2017 übernahm, schlug er vor allem in der Migrationspolitik einen restriktiveren Kurs ein und warb so gezielt und erfolgreich um freiheitliche Wähler. Über 400 000 Wähler wechselten an den beiden Urnengängen, bei denen Kurz antrat, von der FPÖ zur ÖVP. Sie kehrten jetzt ohne das damalige ÖVP-Zugpferd zurück. Die Konservativen kommen wieder ungefähr in dem Bereich von vor der Ära Kurz zu liegen, und die Freiheitlichen hatten auch 2017 immerhin schon 26 Prozent erreicht.

3. Die Pandemie hat die Gesellschaft nachhaltig gespalten

Das Corona-Virus sorgte anfangs wie in anderen Ländern auch für hohe Umfragewerte der Regierungsparteien, während der Oppositionspartei FPÖ das Scheinwerferlicht abhandenkam. Die restriktiven und teilweise erratischen Pandemiemassnahmen mit vier landesweiten Lockdowns sorgten aber bald für Widerstand in der Bevölkerung, der sich zunehmend radikalisierte.

Während die damalige Führungsspitze der FPÖ zu dieser Bewegung auf Distanz blieb, erkannte Kickl das Potenzial und setzte sich an ihre Spitze. Er wurde so zum Helden der Massnahmenkritiker, was nicht nur ihm zum Amt des Parteichefs verhalf, sondern der Partei auch neue Wählergruppen erschloss. Während alle anderen Parteien die Regierung in ihrem Kurs unterstützten, wetterte Kickl gegen den «Corona-Wahnsinn», die «Blockwart-Mentalität» der Regierung, die Test- und Maskenpflicht. Auch die Impfung lehnte er ab und empfahl stattdessen die Behandlung mit einem Entwurmungsmittel für Pferde.

Vor allem die von der Regierung beschlossene, aber nie umgesetzte Impfpflicht spaltete die Gesellschaft tief. Kickl sprach die Pandemiepolitik im Wahlkampf immer wieder an, und sie war für die Wähler der FPÖ eines der wichtigsten Themen – anders als für jene der anderen Parteien. Laut einer Studie des Meinungsforschers Peter Hajek waren Corona und die Impfpflicht sogar das drittwichtigste Motiv der FPÖ-Wähler, während es für andere Parteien gar keine Rolle spielte.

4. Die Einwanderung schlägt neue Rekorde

Die Einwanderungspolitik gehört schon lange zu den Kernthemen der FPÖ. Schon als es 2015/16 zur grossen Migrationsbewegung in Richtung Europa kam, warb sie mit ihrem Konzept einer «Festung Österreich» für eine restriktivere Politik. Dass die Zahl der Asylgesuche in den letzten Jahren nicht zurückging, sondern 2022 gar jene der Jahre 2015/16 noch übertraf, machte es den Freiheitlichen leicht, die Politik der schwarz-grünen Regierungskoalition als zu lasch zu kritisieren.

Zudem wurden in den vergangenen Jahren die Auswirkungen sichtbarer: Jüngst häuften sich Schlagzeilen über Bandenkriege in Wien, und es wurde deutlich, dass in den Schulen der Hauptstadt ein immer grösserer Anteil der Kinder dem Unterricht nicht folgen kann, weil sie nicht oder ungenügend Deutsch sprechen. Umfragen zeigen, dass das Thema Zuwanderung die FPÖ-Wählerschaft am meisten beschäftigt. Sie liess sich von Kickls radikalen Versprechen überzeugen, keine Asylanträge mehr anzunehmen und sich für die «Remigration» von ausländischen Staatsbürgern einzusetzen, die sich nicht «an die Regeln» hielten.

6. Die FPÖ ist eine Krisengewinnlerin

Die Herausforderungen der gestiegenen Zuwanderung sind nur eines der Themen, die in Österreich zu einem Klima der Verunsicherung und der Unzufriedenheit beitragen.

Die Pandemie und die Impfpflicht, eine hohe Inflation, die durchzogenen Konjunkturaussichten und der Krieg in der Ukraine mit Auswirkungen auf die heimischen Energiepreise haben dazu beigetragen, dass viele Wählerinnen und Wähler Sympathie für die Fundamentalkritik haben, die die FPÖ an den sogenannten Systemparteien übt. Es ist ein Phänomen, das auch in anderen europäischen Ländern zu beobachten ist: Parteien, die sich gegen die «abgehobenen Eliten» und «auf die Seite des Volkes» stellen, haben in letzter Zeit auch in Portugal, den Niederlanden, Frankreich und Deutschland Wahlerfolge gefeiert.

5. Die traditionelle Opposition ohne Kraft

Über Jahrzehnte haben Konservative und Sozialdemokraten die Machtpositionen untereinander ausgemacht und in der damals noch grossen Koalition auch geteilt. Umso krasser fällt diesmal die Schwäche der SPÖ auf, die aus ihrer Oppositionsrolle der vergangenen fünf Jahre keinerlei Kraft ziehen konnte, obwohl viele sozialpolitische Fragen den Wahlkampf prägten. Im Gegenteil: Sie hat bei dieser Wahl sogar noch Stimmenanteile verloren.

Der ausgeprägt linke Kurs von Andreas Babler, der erst im vergangenen Jahr angetreten war, um die SPÖ zurück auf die Erfolgsspur zu führen, hat sich als Irrweg erwiesen. Intern war und ist Babler zudem umstritten, was der Partei in ihrer Aussenwirkung ebenfalls nicht geholfen hat.

Die Schwäche der Sozialdemokraten hat allerdings anderen Kräften kaum genützt. Die Nachwahlanalyse zeigt, dass viele ehemalige SPÖ-Wähler dieses Mal gar nicht zur Wahl gingen. Ausser der FPÖ hat sich niemand als gewichtige Alternative zu der regierenden Koalition positionieren können. Die Bierpartei, ein einstiges Satireprojekt, setzte zwar auch auf Protest und kam zeitweise auf hohe Umfragewerte. Experten vermuteten, dass sie deshalb der FPÖ schaden könnte. Nach einem schwachen Wahlkampf ihres Chefs kam sie aber nur auf 2 Prozent der Stimmen.

7. Immer mehr Frauen wählen die FPÖ

Frauen wählen links, Männer eher konservativ – diese Regel galt in Österreich nur bedingt und verflüchtigt sich offenbar immer mehr. Die Nachwahlanalyse zeigt, dass die FPÖ auch bei den Frauen die beliebteste Partei ist. 28 Prozent der weiblichen Stimmen entfielen gemäss der Analyse auf die FPÖ. Bei den Männern gaben 30 Prozent den Freiheitlichen ihre Stimme. Vor fünf Jahren hatte der Unterschied zwischen männlichem und weiblichem Wähleranteil bei der FPÖ noch 10 Prozentpunkte betragen.

Politologen erklären diese Entwicklung unter anderem damit, dass die FPÖ mit ihrer Politik schon immer Mütter mit einem traditionellen Familienbild ansprach. Zudem sei das Thema Zuwanderung, das in diesem Wahlkampf sehr präsent war, für Frauen tendenziell wichtig.

Die Politikwissenschafterin und Gender-Spezialistin Birgit Sauer stellte gegenüber der «Wiener Zeitung» fest, dass auch Kickls Auftreten ein Erfolgsfaktor gewesen sei. Im Vergleich zu seinen Vorgängern wirkt er eher spröde, auf seinen Social-Media-Accounts bezeichnet er sich etwa als «bodenständig» und «ehrlich» und zeigt sich naturverbunden beim Wandern. Offenbar weckt er damit aber bei mehr Frauen Vertrauen als seine Vorgänger, die als Lebemänner auch in den Klatschspalten präsent waren.

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