Dienstag, November 26

Dänemark hat eine sozialdemokratische Regierung, die eine restriktive Asylpolitik verfolgt. Morten Lisborg hat die Sozialdemokraten beraten – und fordert von der EU ein radikales Umdenken.

Seit ein Asylbewerber aus Syrien in Solingen drei Menschen erstochen hat, sind in Deutschland selbst linke Politiker bereit, über ein restriktiveres Asylsystem zu reden. Die deutsche Innenministerin Nancy Faeser lässt Straftäter nach Afghanistan ausschaffen. Bürgerliche Politiker wie der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz betrachten die Länder Dänemark und Schweden als Vorbilder, weil die Zahl der Asylsuchenden dort stark gesunken ist. In Dänemark beantragten letztes Jahr 2355 Personen Asyl. In Deutschland waren es über 350 000, in der Schweiz rund 30 000.

Die dänische Asylpolitik sorgt schon lange für Aufsehen. So hat die sozialdemokratische Regierung auch die Idee lanciert, Asylverfahren ins Ausland zu verlegen – und damit einen Aufschrei bei NGO und linken Parteien provoziert. Der Politikberater, Migrationsexperte und ehemalige UNHCR-Mitarbeiter Morten Lisborg ist einer der Architekten dieser Idee, die auch in Grossbritannien und anderen Ländern diskutiert wird. Er befasst sich seit über zwanzig Jahren mit Migration, hat in Ländern wie dem Irak, Jemen, Äthiopien und Tunesien gearbeitet und die dänischen Sozialdemokraten sowie die britische Regierung beraten. Das heutige Asylsystem hält er für ungerecht, ineffizient und teuer.

Herr Lisborg, in Dänemark haben letztes Jahr nicht einmal 2400 Menschen Asyl beantragt. Woran liegt das?

Meiner Meinung nach liegt das in erster Linie daran, dass die dänischen Regierungen der Einwanderungspolitik immer wieder einen hohen Stellenwert eingeräumt haben, was einem breiten Wählerwillen entsprach. Dies zeigte sich bereits 2001, als die Dänische Volkspartei zur drittstärksten Partei wurde und die Regierung von Anders Fogh Rasmussen unterstützte. Dies vor dem Hintergrund, dass Dänemark in den 1980er und 1990er Jahren eine beträchtliche Anzahl von Asylbewerbern aufgenommen hatte. Seitdem ist die Einwanderungspolitik ein zentrales Thema für alle dänischen Regierungen geblieben.

Inwiefern wirkt sich das aus?

Eine der sichtbarsten Folgen ist, dass Dänemark deutlich mehr abgelehnte Asylbewerber abschiebt als andere Länder. Es gibt aber viele andere Faktoren. Ich vermute, dass die dänische Gesetzgebung in Bezug auf den Familiennachzug, die Erteilung von dauerhaften Aufenthaltsbewilligungen und Staatsbürgerschaften eine entscheidende Rolle spielt. Mit der Zeit ist Dänemark auch international für seine strenge Asylpolitik bekannt geworden. Dies könnte sich ebenfalls auswirken.

Vor kurzem hat ein Syrer in Solingen drei Menschen erstochen. Er war über Bulgarien nach Deutschland eingereist und hätte dorthin zurückgeschickt werden müssen. Funktioniert das in Dänemark besser?

Die dänische Einwanderungsbehörde ist sehr auf die Rückführung von abgelehnten Asylbewerbern bedacht, auch über das Dublin-Abkommen. Wenn das Dublin-System funktionieren würde, hätte der Täter von Solingen längst ausser Landes sein müssen. Leider war Solingen nicht der erste derartige Fall. Letztes Jahr hat ein Tunesier in Brüssel zwei zufällig ausgewählte Schweden erschossen. Er war den Behörden bekannt und hatte in vier Ländern Anträge gestellt. Das ist ein europäisches Problem. Die Rückführung von abgelehnten Asylbewerbern muss stärker in den Mittelpunkt rücken.

Asylexperten und Politiker sagen gern, es sei schwierig oder unmöglich, die Leute zurückzuschicken. NGO und Anwälte rekurrieren, bis sie geduldet werden, auch wenn klar ist, dass sie keine Flüchtlinge sind. Denken Sie, das europäische Recht ist darauf zugeschnitten, die Probleme zu bewältigen?

Das Hauptproblem bei Abschiebungen ist nicht rechtlicher Natur. Es ist die unzureichende politische und administrative Tätigkeit der Behörden. Wir müssen uns stärker darauf konzentrieren, effiziente Rückführungsprogramme zu entwickeln, in Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern. Viele Nicht-EU-Länder sind nicht bereit, ihre Bürger aufzunehmen. Von den 1,1 Millionen Asylbewerbern, die letztes Jahr in Europa ankamen, sind nur 45 Prozent als Flüchtlinge anerkannt worden. Sprich, wir müssten jedes Jahr Hunderttausende in Länder ausserhalb der EU zurückschicken. Statistiken zeigen, dass das nur in etwa 20 Prozent der Fälle geschieht. Die abgelehnten Asylbewerber beschäftigen die Polizei, Richter, Anwälte, Übersetzer, Ärzte und so weiter. Ein einziger abgelehnter Asylbewerber kostet in Dänemark 45 000 Euro im Jahr. So geben wir Milliarden aus. Im Hinblick auf die künftige Entwicklung der Asylgesuche muss es rechtlich eine Option sein, Leute zu inhaftieren, die nicht gewillt sind, auszureisen. In Dänemark gibt es Zentren für Leute, die nicht kooperieren.

Die dänischen Zentren werden vom Europarat stark kritisiert: Sie seien schlimmer als russische Gefängnisse.

Über die Rückführungszentren und die Rechte abgelehnter Asylbewerber wird seit Jahren intensiv debattiert. Einige argumentieren, die Bedingungen seien zu schlecht, andere glauben, sie seien zu vorteilhaft. Unabhängig davon scheint es absurd, sie mit russischen Gefängnissen zu vergleichen. Wer in ein solches Zentrum eingewiesen wird, hat ein Bett, sanitäre Einrichtungen, Essen und Anspruch auf anständige Behandlung. Natürlich, die Lebensbedingungen sind nicht luxuriös, und sie sollen die Bewohner nicht dazu animieren, in Dänemark zu bleiben. Persönlich finde ich es legitim, dass die dänische Politik nicht nur die Rechte der Asylsuchenden beachtet, sondern auch die demokratischen Rechte der Wähler. Die Mehrheit hat wiederholt zum Ausdruck gebracht, dass sie gegen unkontrollierte Asylmigration ist.

2018 haben Sie geschrieben, die Flüchtlingskrise habe «grundlegende Mängel im europäischen Asylsystem offenbart». Es müsse geändert werden. War das Problem mit abgewiesenen Asylbewerbern der Grund, weshalb Sie das Asylsystem für gescheitert halten?

Nein, der Hauptpunkt war, dass das derzeitige Asylsystem dysfunktional und untauglich ist, Flüchtlingskrisen zu bewältigen. Diese Gedanken sind nicht über Nacht entstanden, sondern sind das Ergebnis jahrzehntelanger Erfahrungen und Beobachtungen. Sie beruhen zum Teil auf meiner Arbeit mit Asylbewerbern und Flüchtlingen in Europa, Afrika und dem Nahen Osten. Da ist es offensichtlich, dass die Hilfe nicht dort ankommt, wo sie am dringendsten benötigt wird.

Ihre Idee ist es, Asylgesuche nicht mehr in der EU, sondern in Drittstaaten prüfen zu lassen, etwa in Rwanda. Wie kamen Sie darauf?

Als wir die dänische Sozialdemokratische Partei beraten haben, haben wir die Lage im Mittelmeerraum analysiert und vor allem nordafrikanische Länder wie Ägypten in Betracht gezogen. Seit 2015 sind fast 30 000 Menschen im Mittelmeer ertrunken oder verschollen. Dies auch, weil das derzeitige System verlangt, dass man an der Grenze Asyl beantragen muss. Die Bearbeitung von Asylanträgen ausserhalb der EU könnte gefährliche Reisen verhindern – und wir könnten unsere Ressourcen für echte Flüchtlinge einsetzen, besonders für Frauen und Kinder in Konfliktgebieten.

Ihre Vorschläge sind stark kritisiert worden, als unmenschlich und menschenrechtswidrig. Hat Sie das getroffen?

Innovation und neues Denken stossen oft auf Widerstand. Ich war kürzlich mit einer Delegation in Rwanda, wir haben die Unterkünfte besichtigt, mit Verantwortlichen gesprochen. Mein Eindruck ist, dass sie alles tun, um die erforderlichen Standards zu erfüllen. Die Frage ist, ob wir weiterhin Milliarden für ein ineffizientes und ungerechtes System ausgeben oder ob wir mehr Menschen gezielt unterstützen wollen. Unsere Kritiker übersehen gern, dass wir für mehr Verantwortung und Menschlichkeit eintreten. So schlagen wir vor, das Uno-Flüchtlingsquotensystem auszuweiten und die Hilfe für Asylbewerber in den Nachbarländern deutlich zu erhöhen, anstatt sich auf diejenigen zu konzentrieren, die die EU erreichen. Im Jahr 2022 besuchte ich das Bekaa-Tal in Libanon, wo syrische Familien mit 50 bis 100 Dollar im Monat auskommen müssen. Dort sieht man nicht in erster Linie Männer, sondern Frauen und Kinder, die ums Überleben kämpfen.

Die britische Labour-Regierung hat das Rwanda-Projekt ihrer konservativen Vorgänger kürzlich gestoppt, Dänemark hat es bis heute nicht geschafft, eine Lösung zu finden. Ist Ihr Plan tot, bevor er umgesetzt wird?

Im Gegenteil, das Interesse an dieser Lösung wächst in ganz Europa. Im Mai unterzeichneten fünfzehn EU-Länder ein Schreiben, in dem sie die Idee der Asylbearbeitung in Drittländern unterstützen. Ich glaube, die meisten Politiker erkennen, dass Europa einen Wendepunkt erreicht haben könnte. Asyl und Migration destabilisieren die europäischen Gesellschaften zunehmend. Es geht nicht mehr nur um humanitäre Grundsätze und Menschenrechte, sondern auch um die Stabilität und Sicherheit Europas. Langsam beginnen auch die grösseren EU-Länder umzudenken. Was in Deutschland passiert, ist diesbezüglich bezeichnend.

Deutsche Politiker sprechen das Problem an, man diskutiert über Rückschaffungen, Grenzkontrollen sind plötzlich möglich. Diese Massnahmen werden das Problem vermutlich nur verlagern, zurück nach Italien, Griechenland oder Spanien.

Das ist richtig. Es gibt immer noch viel Kritik an den Grenzen und den Pushbacks, vor allem in Ländern wie Polen, Griechenland und Ungarn. Wir müssen jedoch realistisch sein: Wie kann man eine Grenze aufrechterhalten, ohne physische Massnahmen zu ergreifen? Wir brauchen Grenzen, Kontrollen und Zäune. Es ist klar, dass diese Barrieren nicht aus ästhetischen Gründen errichtet werden. Der 2015 errichtete Zaun entlang der ungarischen Grenze hat den Zustrom über die Balkanroute erheblich reduziert, manche behaupten sogar, stärker als das Abkommen mit der Türkei. Es ist eine widersprüchliche Situation: Wir investieren Milliarden in den Grenzschutz. Gleichzeitig profitieren jene von unserer Asylpolitik, die es schaffen, diese Grenzen zu überschreiten, häufig mithilfe von Menschenschmugglern.

Ungarn wird für seine Politik öffentlich stark kritisiert, inoffiziell scheinen viele europäische Staaten froh zu sein, dass jemand die Grenze kontrolliert. Die Türkei wiederum setzt Flüchtlinge als Druckmittel gegen die EU ein. Ist das ein verlässlicher Partner?

Die Türkei hat Millionen von Flüchtlingen aus Syrien, Afghanistan und anderen Ländern aufgenommen. Das verdient Anerkennung. Die EU muss die Türkei unterstützen. Es ist jedoch klar, dass Migranten als Druckmittel eingesetzt werden können von Politikern wie Erdogan und Putin. Strategische Partnerschaften mit anderen Ländern in der Nähe von Konfliktgebieten sind unerlässlich. Europa kann und sollte sich nicht allein auf Mauern verlassen. Denn anders als manche rechte Politiker behaupten, können wir das Problem nicht allein lösen.

In der politischen Diskussion wird oft gesagt, Migration habe es schon immer gegeben, das sei nichts Besonderes. Teilen Sie diesen Eindruck?

Nein. Wir leben in vielerlei Hinsicht in aussergewöhnlichen Zeiten. Ich glaube nicht, dass sich die Schöpfer der Flüchtlingskonvention von 1951 vorstellen konnten, dass eines Tages Millionen von Menschen nach Europa kommen würden, um Asyl zu beantragen. Das heutige System bedroht die Sicherheit und die politische Stabilität Europas zunehmend. Während der Flüchtlingskrise 2015/16 waren viele der heutigen Entwicklungen vorhersehbar. Jetzt hinken wir hinterher – mit bedauerlichen Folgen.

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