Argentiniens jahrzehntelange Turbulenzen haben die Investoren abgehärtet. Ein Finanzmakler erklärt, warum die Märkte weiter auf Milei setzen.
An der Börse von Mendoza ist es ruhig. Erstaunlich ruhig. Dabei hat die Regierung unter dem argentinischen Präsidenten Javier Milei vor einer Woche die Devisenkontrollen gelockert. Der libertäre Präsident hat damit die lange angekündigte Öffnung des argentinischen Finanzsystems eingeleitet.
Zwar werden in dem imposanten Gebäude aus der Mitte des letzten Jahrhunderts schon lange keine Aktien mehr gehandelt. Doch es ist nach wie vor das Finanzzentrum der viertgrössten Stadt Argentiniens, die vor allem für ihren Wein bekannt ist. Über dem restaurierten Handelssaal von der Grösse einer Bahnhofshalle haben Makler, Investoren und Kammern ihre Büros.
Die ersten Turbulenzen waren enorm
Luis Bonfiglio arbeitet seit 38 Jahren als Finanzexperte in einem dieser Büros – zwischen Faxgerät, Tastentelefon und Taschenrechner, aber auch mehreren Bildschirmen mit den Börsenkursen von Buenos Aires, São Paulo und der Wall Street. Zeitweise war er Direktor der Börse.
Die Ankündigung, die Devisen zu lockern, kam aber auch für ihn völlig überraschend. «Niemand hatte so früh mit einer Liberalisierung gerechnet, deshalb waren die Turbulenzen an den Märkten zunächst enorm», sagt er.
Er hat bereits viele drastische Massnahmen von Regierungen erlebt. Alle wurden sie erlassen, um die Finanzmärkte und die Wirtschaft mit Reformen zum Besseren zu wenden. Das Ergebnis ist ernüchternd. Argentiniens Wirtschaft befindet sich seit Jahrzehnten in einem stetigen Abwärtstrend. «Ich war 17, als Argentinien 1983 wieder eine Demokratie wurde», sagt er. Seither hätten alle Regierungen wirtschaftlich versagt.
Zum ersten Mal seit fast zehn Jahren können Privatpersonen nun unbegrenzt Dollar kaufen. Bisher war der Umtausch auf 200 Dollar im Monat beschränkt. Auch Unternehmen dürfen ab dem nächsten Geschäftsjahr erstmals wieder Dividenden an ausländische Aktionäre überweisen.
Der entscheidende Test beim Börsenstart vor zehn Tagen war, ob es einen Ansturm der Investoren auf den Dollar gäbe. «Der ist ausgeblieben», sagt Bonfiglio. Dollar und Peso haben sich im freien Handel etwa auf dem früheren Schwarzmarktkurs eingependelt.
Nur wer schnell reagiert, überlebt
Bonfiglio selbst ist ein typischer argentinischer Finanzinvestor, wie es ihn in anderen Volkswirtschaften kaum gibt. Im Dickicht der komplizierten Regeln, die sich zudem ständig ändern, verdienen Finanzberater ihr Geld damit, den Überblick zu behalten und blitzschnell zu reagieren, wenn sich Gewinnchancen auftun – oder Verluste drohen.
Wenn der 59-Jährige das «Cepo» erklärt, das Devisenkontrollsystem, das Milei gerade zu entschlacken beginnt, braucht er mehrere Blätter Papier, um mit Filzstift all die Abkürzungen für die verschiedenen Wechselkurse und Sondersteuern zu erklären, die sich wie ein dichtes Netz über den argentinischen Finanzmarkt spannen. Auch nach Mileis Liberalisierung gibt es unterschiedliche Kurse für Sojafarmer, die ihre Ernte jetzt exportieren müssen, für Dollar- und Peso-Anleihen, für Argentinier, die im Ausland mit Kreditkarte bezahlen.
Obwohl das Telefon ständig klingelt und Kunden um Rat fragen oder Aufträge erteilen, bleibt er gelassen. «In den nächsten zwei Monaten wird sich entscheiden, ob Milei sein Reformprogramm fortsetzen kann oder scheitert.»
Milei, den er nicht gewählt hat, unterscheidet sich in einem Punkt grundlegend von den Vorgängerregierungen. «Zum ersten Mal gibt der Staat nicht mehr aus, als er einnimmt», sagt Bonfiglio. Der Staat müsse also kein Geld drucken. Damit sei Milei überzeugender als seine Vorgänger, denen es nie gelungen sei, Kürzungen der Staatsausgaben gegen politische Interessen durchzusetzen.
Deshalb haben sie alle irgendwann die Notenpresse angeworfen oder sich Geld im Ausland geliehen. Bonfiglio sagt: «Milei ist niemandem verpflichtet.»
Er rechnet allerdings damit, dass der Druck auf den Präsidenten in den kommenden Monaten zunehmen wird: Im Oktober stehen die Zwischenwahlen für den Kongress an. Opposition und Gewerkschaften bringen sich jetzt in Stellung. Bei den Kongresswahlen muss es Milei gelingen, mehr Abgeordnete und Senatoren seiner Partei in die Legislative zu bringen. Sonst droht sein Reformprogramm für Staat und Wirtschaft ins Stocken zu geraten.
Kredit und Gütesiegel des Fonds kamen zur rechten Zeit
Mileis bisheriger Ansatz, Wirtschaft und Staat per Dekret zu sanieren und täglich Fortschritte bei Einsparungen oder Reformen zu verkünden, verliert langsam an Überzeugungskraft. «Er kann nicht jeden Tag gute Nachrichten produzieren», sagt Bonfiglio. Deshalb sei es gut, dass der Internationale Währungsfonds (IWF) und andere multilaterale Banken für Argentinien ein neues Finanzpaket von insgesamt 42 Milliarden Dollar für die nächsten drei Jahre geschnürt hätten.
Das Gütesiegel des IWF kam zur rechten Zeit: Im März stieg die Inflation mit 3,7 Prozent erstmals seit fünf Monaten wieder auf über 3 Prozent. Damit liegt die Teuerung immer noch bei 56 Prozent im Jahr. «Wenn die Inflation in nächster Zeit auf über 5 Prozent im Monat steigt, wird Mileis Popularität schnell sinken – und das könnte das vorzeitige Ende seiner Regierung bedeuten.»
Bonfiglio hofft, dass ein schwächerer Peso nicht mehr automatisch die Inflation anheizt – wie in der Vergangenheit. Die Preise für viele lokale Produkte seien in den vergangenen Monaten bereits stark gestiegen. Viel Spielraum nach oben gebe es nicht mehr. Mileis Politik der Öffnung für Importe sorgt zudem dafür, dass viele billige Waren ins Land kommen. Das könnte den automatischen Inflationsanstieg bei einer Abwertung des Peso bremsen.
Die Mittel- und Oberschicht bekomme die Preissteigerungen derzeit am stärksten zu spüren. Die Ärmeren würden von der Regierung durch höhere Sozialleistungen unterstützt. Aber seine Internet- und Telefonrechnung habe sich versiebenfacht. Der Lebensunterhalt seiner Familie sei innerhalb eines Jahres von umgerechnet 1000 Dollar auf 5000 Dollar gestiegen.
Anfang 2024 habe er mit seiner Familie Ferien in Uruguay gemacht: «Wir fanden alles teuer.» Ein Jahr später sei ihnen dort bei gleichen Preisen alles billig vorgekommen. Der Peso sei innerhalb eines Jahres so stark aufgewertet worden, dass Argentinien zu einem der teuersten Länder der Welt geworden sei.
Früher hätten seine Kunden von den Zinsen ihrer Ersparnisse und Anlagen leben können. Wenn das nicht gereicht habe, habe man am Monatsende eben ein paar Dollar aus Ersparnissen getauscht. Diese Zeit sei vorbei. «Jetzt muss die Mittelschicht von der Substanz zehren», sagt Bonfiglio.
Warum sollen Steuerzahler Unternehmer subventionieren?
Er verteidigt die Öffnungspolitik Mileis, die das Land mit billigen Importwaren überschwemmt. Die Klagen der einheimischen Industrie, mit dem starken Peso nicht mehr konkurrenzfähig zu sein, kann er nachvollziehen, hält sie aber für nicht gerechtfertigt. Warum, fragt er, sollten 19 Millionen argentinische Steuerzahler eine Million Unternehmer subventionieren, die durch hohe Zollmauern geschützt werden?
Die Devisenkontrollen waren der entscheidende Grund, warum ausländische Geldgeber bisher nur wenig in Argentinien investiert haben. Sie fürchten, dass bei einer Freigabe der Wechselkurse und einer möglichen Abwertung des Peso ihre Investitionen schlagartig an Wert verlieren.
Ob sich das nun ändert? Das Wachstum zieht jedenfalls an. Die Prognosen für 2025 liegen bei rund 5 Prozent. Doch noch zögern ausländische Konzerne, etwa in die grossen Bergbauprojekte zu investieren, die sich in den Anden wie vor Mendoza mit riesigen Vorkommen an Kupfer oder Lithium anbieten. Nur in Argentiniens Öl- und Gasindustrie haben ausländische Konzerne bisher investiert.
Bonfiglio sagt: «Die entscheidende Wende wird kommen, wenn die Argentinier selbst wieder Vertrauen fassen und anfangen, im eigenen Land zu investieren.» Genug Geld hätten sie. Zwischen 240 und 400 Milliarden Dollar sollen Argentinier im Ausland oder unter der Matratze verwahren. Er sei nicht optimistisch, aber hoffnungsvoll.