Angriffe von Kurden fügen der türkischen Armee empfindliche Verluste zu. Ankara übt massive Vergeltung im Irak und in Syrien. Auch diese Eskalation trägt zur immer komplexeren Lage in der Grossregion bei.
Als das türkische Parlament am Dienstag zum ersten Mal im neuen Jahr zusammentrat, stand nicht die Debatte zum schwedischen Nato-Beitritt auf der Agenda, die im Westen sehnlichst erwartet wird. Auch nicht die schwelende Verfassungskrise wegen des Streits zwischen den höchsten Gerichten des Landes. Der wichtigste Punkt war ein Konflikt, der seit der Eskalation in Gaza kaum noch Schlagzeilen macht, erst recht nicht im Ausland: der Militäreinsatz gegen kurdische Milizen im Irak und in Syrien.
Schwere Schläge gegen die türkische Armee im Irak
Jüngst haben die Kampfhandlungen stark an Intensität gewonnen. Am vergangenen Freitag wurden bei einem Angriff der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) auf eine türkische Militärbasis im Nordirak neun Soldaten getötet. Bereits Ende Dezember waren bei einer ähnlichen Aktion zwölf Armeeangehörige ums Leben gekommen.
Die türkische Regierung berief umgehend einen Krisenstab ein und holte, wie stets in solchen Fällen, zu massiven Vergeltungsschlägen aus. Seit Samstag sind laut dem Verteidigungsministerium mehr als siebzig Ziele durch Luftangriffe zerstört und zahlreiche Kämpfer «neutralisiert» worden. Auch ohne direkten Zusammenhang mit dem Gaza-Krieg trägt diese neue Dynamik zur immer komplexeren sicherheitspolitischen Lage in der Grossregion bei.
Im Parlament in Ankara rechtfertigte Verteidigungsminister Yasar Güler die Operation «Klauenschloss», wie der Militäreinsatz im Irak genannt wird: Nur dank der Präsenz der türkischen Armee sei es möglich, die PKK von der Grenze fernzuhalten. Tatsächlich ist es den Streitkräften in den vergangenen Jahren gelungen, den Kampf gegen die kurdischen Separatisten vom türkischen Südosten in den Nordirak zu verlagern. Im dortigen Kandil-Gebirge befindet sich das Hauptquartier der sowohl in der Türkei wie auch in den meisten westlichen Staaten als Terrororganisation gelisteten PKK.
Nahezu alle politischen Lager in der Türkei unterstützen den Einsatz im Irak, auch wenn dieser mit der Regierung in Bagdad weder abgestimmt noch von ihr sanktioniert ist. Kritik gibt es aber am Vorgehen, etwa der Schaffung einer immer grösseren Zahl von Militärbasen auf irakischem Boden. Der pensionierte Generalmajor Osman Pamukoglu hatte kurz vor dem jüngsten Angriff in einem Interview erklärt, dass die Stationierung von Soldaten nur wenig nütze, aber ein grosses Risiko darstelle. Die relativ hohen Opferzahlen der letzten Wochen stützen diese Sichtweise.
Angriffe gegen syrische Kurden
Die Türkei beschränkt ihre Vergeltungsaktionen nicht auf den kurdischen Nordirak, sondern greift auch Positionen der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) sowie Infrastruktureinrichtungen im Nordosten Syriens an. Laut lokalen Medienberichten waren dort am Montag vorübergehend zwei Millionen Menschen ohne Strom.
Ankara betrachtet die SDF und vor allem deren wichtigste Einheit, die kurdisch dominierten Volksverteidigungseinheiten (YPG), als Arm der PKK und somit als Staatsfeind. Die Vertreibung der kurdischen Milizen aus dem syrischen Grenzgebiet und die Zerschlagung der dortigen kurdischen Selbstverwaltungszone (Rojava) sind seit Jahren das wichtigste Ziel der Türkei in Syrien. Vier grosse Militäroperationen wurden seit 2016 in dieser Absicht lanciert. Diese Woche machte Präsident Erdogan Andeutungen, dass eine fünfte folgen könnte. Luftangriffe stehen schon seit Monaten auf der Tagesordnung.
Die Frage der syrischen Kurden belastet das ohnehin chronisch angespannte Verhältnis zwischen Ankara und Washington. Denn die SDF sind der engste Verbündete der USA im Kampf gegen den Islamischen Staat in Syrien. Die Türkei hat diese Zusammenarbeit stets aufs Schärfste verurteilt und führt alle möglichen Zerwürfnisse mit dem Westen auf diese «Ursünde» zurück. Washington betont aber, dass es sich bei den syrischen SDF und der PKK, die auch in den USA als Terrororganisation gilt, um zwei unabhängige Organisationen handle.
Allerdings gibt es durchaus persönliche und wohl auch organisatorische Verbindungen zwischen den beiden Gruppierungen. Der Oberkommandierende der SDF ist ein enger Vertrauter des inhaftierten PKK-Führers Abdullah Öcalan. Die syrischen Kurden sehen jedoch bewusst von Aktionen auf türkischem Boden ab und sind auch sonst bemüht, eine gewisse Distanz zur PKK zu wahren.
Strategiewechsel bei den Kurden?
Zumindest war dem bis vor kurzem so. Nach dem tödlichen Angriff am Freitag im Nordirak feierte ein hochrangiger SDF-Kommandant in den sozialen Netzwerken den Schlag gegen die türkische Armee. Charles Lister, ein Syrien-Experte der amerikanischen Denkfabrik Middle East Institute, nannte dies «gelinde gesagt problematisch» und ein Ärgernis für alle in Washington, die sich um eine Deeskalation bemühten.
In der Türkei vermuten Beobachter seit einiger Zeit, dass die kurdischen Milizen auch deshalb wieder prominente Anschläge gegen türkische Ziele ausführen, um Spannungen zwischen Ankara und Washington zu schüren. So solle unter anderem eine Einigung im Streit um die Nato-Erweiterung und die Modernisierung der türkischen Luftwaffe erschwert werden. Die Türkei fordert als Gegenleistung für ihre Zustimmung zu Schwedens Nato-Beitritt eine amerikanische Ausfuhrerlaubnis für F-16-Kampfflugzeuge.
Die kurdische Sorge sei demnach, dass die USA der Türkei im Falle eines Durchbruchs grösseren Spielraum in Syrien zugestehen könnten. Auch der Bombenanschlag in Ankara am Tag der Parlamentseröffnung am 1. Oktober wird von einigen Kreisen in diesem Licht gesehen. Der schwedische Nato-Beitritt muss vom türkischen Parlament ratifiziert werden.
Schwedisches Beitrittsgesuch vor letzter Hürde
Präsident Erdogan geht es beim Ringen um die Nato-Erweiterung zwar schon länger primär um die F-16. Die öffentliche Debatte zum Thema ist aber vor allem mit dem «kurdischen Terrorismus» verknüpft, bei dessen Bekämpfung Ankara von Stockholm eine stärkere Kooperation einfordert. Jede Zuspitzung des Konflikts mit der PKK treibt deshalb die politischen Kosten für ein Ja zu Schweden in die Höhe.
Dennoch rückt ein solches allmählich in Sichtweite. Präsident Erdogan hat das schwedische Beitrittsgesuch Ende Oktober an das Parlament weitergeleitet. Kurz vor der Neujahrspause empfahl es die aussenpolitische Kommission dann zur Annahme. Nun muss die Abstimmung nur noch auf die Tagesordnung gesetzt werden.