Donnerstag, Oktober 3

Seit Monaten wird über die Aufrüstung der Schweiz gestritten. Mauro Mantovani erklärt, wie die Armee nach dem Ende des Kalten Kriegs ihre Verteidigungsfähigkeit verlor – und was nun zu tun wäre.

Herr Mantovani, Sie haben sich mit der Entwicklung der Schweizer Armee seit dem Ende des Kalten Kriegs beschäftigt – und sie als Geschichte eines grossen Niedergangs beschrieben. Heute ist das Land nur noch bedingt abwehrbereit. Wie konnte es so weit kommen?

Nach dem Fall der Mauer glaubte man, der ewige Friede sei ausgebrochen. Man war nicht mehr bereit, gleich viel Geld und Zeit in die Armee zu stecken. Die frei werdenden Mittel sollten anderswo investiert werden – es waren die Jahrzehnte der «Friedensdividende». Und die Schweiz sah sich bestärkt durch die Entwicklungen im nahen Ausland, wo die Wehranstrengungen ebenfalls massiv reduziert wurden. Selbst die Jugoslawienkriege in den neunziger Jahren oder die russische Aggression auf der Krim und im Donbass 2014 brachten kein Umdenken.

Sie nennen es in Ihrem Buch das «Zeitalter der Illusionen».

Spätestens seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine ist offensichtlich, dass wir uns etwas vorgemacht haben. Aber nicht allein die Friedenseuphorie führte dazu, dass wir heute eine Armee haben, die kaum kampffähig ist. Das hat auch mit Verantwortungsdiffusion zu tun. Politiker aller Couleur wussten zwar um ihre Aufgabe zum Erhalt der Armee, aber sie glaubten, es genüge, wenn man dort wisse, wie Verteidigung funktioniere, ohne sie beherrschen zu müssen. Unter dem Schlagwort Savoir-faire verlor die Schweiz immer mehr militärische Fähigkeiten, die es nun mühsam wieder aufzubauen gilt. Das geschah im Einklang mit dem gesellschaftlichen Wertewandel: Die Armee büsste massiv an Unterstützung ein.

Noch im Kalten Krieg hiess es: Die Schweiz hat keine Armee, sie ist eine Armee.

Es ist erstaunlich, wie hochgerüstet unser kleines Land noch 1990 war: 625 000 Mann Sollbestand, 820 Kampfpanzer, 288 Kampfflugzeuge, 4900 Artilleriesysteme, dazu die stärkste Fliegerabwehr Europas, inklusive Bloodhound-Langstreckenraketen. Ich besuchte kürzlich das Festungsmuseum Crestawald. Dort rückten früher 100 Mann für drei Wochen in den WK ein, auf engstem Raum, niemand hatte ein fixes Bett, eine Stunde pro Tag durfte man die Anlage verlassen. Das würde heute niemand mehr mitmachen.

In den 1990er Jahren wurde die Schweizer Sicherheitspolitik rasch zum Gegenstand intensiver innenpolitischer Kontroversen. Bald jagte eine Reform die nächste.

Das neue geopolitische Umfeld und die Finanzlage setzten die Politik unter Druck. Das bisherige West-Ost-Bedrohungsbild musste angepasst werden. Unter Verteidigungsminister Kaspar Villiger wurde die Armee 95 aufgegleist. Sie hatte einen dreifachen Auftrag: Friedensförderung und Kriegsverhinderung sowie – im äussersten Fall – Verteidigung von Land und Leuten. Der Sollbestand wurde auf 400 000 Mann reduziert und die Zahl der Diensttage massiv gesenkt. Das gefiel auch der Wirtschaft.

Der Bundesrat teilte damals mit, die Armee würde schlanker, aber besser – trotz weniger Mitteln. Ein Trugschluss, wie sich herausstellte.

Die behördliche PR-Abteilung leistete schon damals ganze Arbeit. Zunächst gab es aber durchaus eine Steigerung der Feuerkraft und der Mobilität. Es wurde der Kampfpanzer Leopard II in grosser Stückzahl eingeführt, dazu kamen 34 F/A-18-Kampfjets. Nur: Der Rückgang des Militärbudgets setzte der übrigen Modernisierung rasch enge Grenzen. Die Kampfdoktrin der «dynamischen Raumverteidigung», die das Defizit an verfügbaren Truppen durch Technologie hätte kompensieren sollen, blieb Wunschdenken.

Dem Verteidigungsdepartement war schon Anfang der 1990er Jahre bewusst, dass die Armee nur sehr beschränkt in der Lage war, autonom einen militärischen Angriff abzuwehren. Es gab damals gewichtige Stimmen, die für den Schulterschluss mit der Nato plädierten.

So ist es. Man erkannte, dass unsere Armee weder Nuklearwaffen abschrecken noch ballistische Raketen und Marschflugkörper abwehren konnte. Es war im Grunde ein frühes Eingeständnis, dass der Verteidigungsauftrag gemäss Bundesverfassung nicht erfüllt werden konnte. In einem internen Diskussionspapier wurde gar die Frage aufgeworfen, ob der Neutralitätsstatus der Schweiz nicht zunehmend als Risiko zu werten sei und dies öffentlich thematisiert werden solle. Das stiess aber im Aussendepartement auf Ablehnung.

Die Mängel der Armee 95 zeigten sich bald. Es folgte die nächste Reform: die Armee XXI, die zumindest strukturell eine Annäherung an die Nato vorsah.

Man wollte die Effizienz der Armee mit modernen Managementmethoden steigern und orientierte sich an den Strukturen und der Militärdoktrin der Nato. Die Herstellung umfassender Interoperabilität, also der Fähigkeit zur Allianzkriegsführung, war nicht nur das Ziel der Militärplaner, sondern anfänglich auch des Bundesrats. Konsequenterweise trat die Schweiz 1996 der Partnership for Peace und zwei Jahre später dem Prozess Planning and Review der Nato bei.

Weshalb geriet die Kooperation dann doch ins Stocken?

Innenpolitisch wurde der Gegendruck letztlich zu hoch, ausgehend vor allem von der SVP, die zur stärksten Partei aufstieg und von Auslandabenteuern nichts wissen wollte. Der damalige Verteidigungsminister Samuel Schmid, der sich für eine Annäherung an die Nato starkmachte, wurde von der eigenen Partei als «halber» Bundesrat diffamiert. Die Kooperation mit der Nato blieb aber auch deshalb auf Partnership for Peace beschränkt, weil es als höchst unwahrscheinlich galt, dass ein Krieg in Europa auch die Schweiz erfassen könnte.

Letztlich blieb als Ausweg wieder nur die Reform der misslungenen Reform.

Mit der Armee XXI wurde der Sollbestand halbiert, gleichzeitig aber noch einmal versucht, eine kriegstaugliche Armee zu schaffen. Das Unternehmen wurde jedoch zur Planungsleiche: Die Mittel für die Vollausrüstung der Truppe blieben aus, und die Zentralisierung der Logistik nach rein betriebswirtschaftlichen Kriterien war unter dem Gesichtspunkt der Sicherheit immer fragwürdig, was nun mit viel Geld korrigiert werden muss. Auch sicherheitspolitisch ging die Reform in eine aus heutiger Sicht fragwürdige Richtung: Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 wurde die Armee in einem weiteren «Entwicklungsschritt» auf die Unterstützung der zivilen Behörden bei terroristischen Gefahren ausgerichtet. Um die Sinnfrage zu klären, wurde eine präzedenzlos breite Vernehmlassung über die Weiterentwicklung der Armee (WEA) veranstaltet.

Obwohl der SVP-Bundesrat Ueli Maurer als Verteidigungsminister von der «besten Armee der Welt» schwadroniert hatte.

Das sieht heute wohl niemand mehr so. Maurer ist aber kein Einzelfall. Die Landesregierung behauptete noch 2014 über die WEA: Die Armee werde, «auch wenn sie kleiner wird, dank verbesserter Ausbildung und Ausrüstung schlagkräftiger». Sie könne «rasch beachtliche Fähigkeiten zur Verteidigung zum Einsatz bringen». Der hochtrabenden Rhetorik stand eine ernüchternde Realität gegenüber.

Seit Putins Angriff auf die Ukraine hat sich die Bedeutung der Landesverteidigung verändert. Nur lassen sich die Fähigkeitslücken, die in den letzten Jahren entstanden sind, nicht so schnell schliessen. Was sind die schlimmsten Versäumnisse?

Es mangelt an allen Ecken und Enden. Uns fehlen zentrale Waffensysteme, vor allem für die Luftverteidigung. Wir haben ohne Not viel kriegsverwendbares Gerät ausser Dienst gestellt oder gleich verschrottet: die Festungsminenwerfer zum Beispiel, die leichte und mittlere Flab. Sodann wurde die obligatorische Ausbildung der Kader im Ausland gestoppt, was den Know-how-Verlust bezüglich des militärischen Kernauftrags weiter verschärft hat. Wir haben aufgehört, den Kampf der verbundenen Waffen ernsthaft zu trainieren. Wir halten viel zu wenig Munition für einen Ernstfall und haben Produktionsstätten im Land aufgegeben, in der Meinung, man könne das bei Bedarf schnell im Ausland besorgen. Doch in Krisenzeiten trocknet der internationale Rüstungsmarkt rasch aus, wie wir gerade wieder erleben.

Immerhin hat die Schweiz inzwischen F-35-Kampfjets und Patriot-Raketensysteme in den USA bestellt.

Das stimmt, aber sind wir sicher, dass sie termingerecht, ab 2026/27, ausgeliefert werden? Zudem wird sich mit den Patriots gerade einmal ein Drittel der Schweiz schützen lassen, wir haben aber auch Schlüsselinfrastrukturen ausserhalb des Mittellandes. Ich bedauere, dass wir den Gripen nicht beschaffen konnten. Er hätte uns halb so viel wie der F-35 gekostet und ist mittlerweile in mehreren Staaten erfolgreich eingeführt. Vor allem aber hätten wir ihn heute schon einsatzbereit. Das Gleiche gilt für die Boden-Luft-Verteidigung: Wenn sich der damalige Verteidigungsminister Guy Parmelin nicht von einer armeeinternen Intrige hätte verunsichern lassen, besässen wir jetzt eine moderne bodengestützte Luftverteidigung. Aber im Nachhinein ist man immer klüger.

Was muss die Armee nun tun?

Sie hat vor einem Jahr kommuniziert, welche Waffensysteme bis Mitte des nächsten Jahrzehnts erneuert werden sollen und was das kosten würde. Jetzt ist die Politik am Zug, die erst eine Erhöhung der Armeeausgaben auf ein Prozent des BIP bis 2035 beschlossen hat. Ich halte das für zu wenig.

Und falls letztlich noch weniger Geld fliessen wird?

Dann wird die Armee einzelne Operationssphären priorisieren müssen. Für mich sind das Luft und Cyber. In diesen Räumen sind wir besonders verwundbar und exponiert. Das Heer geniesst jedoch die Sympathien der Bevölkerung, nicht nur weil dort das Gros der Wehrpflichtigen eingeteilt ist, sondern auch, weil es Leistungen erbringt, die nicht verteidigungsrelevant sind. Ich denke etwa an Einsätze bei Katastrophen. Überhaupt ist die Haltung der Bevölkerung seit dem Ukraine-Krieg nicht wirklich konsequent. Eine grosse Mehrheit befürwortet in Umfragen eine «vollständig ausgerüstete» Armee. Doch nur 20 Prozent der Befragten möchten die Verteidigungsausgaben erhöhen.

Noch viel umstrittener ist die Frage, ob und wie stark sich die Schweiz der Nato annähern soll.

Wenn es um eine vertiefte Zusammenarbeit geht, stellen sich tatsächlich hohe Hürden. Eine unheilige Allianz von links und rechts droht im Parlament jeden Schritt zu blockieren. Die SVP hat eine Neutralitätsinitiative lanciert, die zwar Vorbereitungen mit einem Militärbündnis für den «Fall eines direkten Angriffs auf die Schweiz» zuliesse. Gemeint ist allerdings ad hoc, und da fragt sich, wie weit im Voraus Vorkehrungen getroffen werden könnten. Die Studienkommission Sicherheitspolitik hat vergangene Woche operative «Punktationen» vorgeschlagen, das heisst, nicht bindende, geheime Absichtserklärungen mit dem Ausland für den Ernstfall. Ich bezweifle, dass so etwas überhaupt machbar ist und einen praktischen Nutzen hätte. Aber die Interoperabilität ist generell schwierig, da unsere Milizformationen mit den professionellen Verbänden der Nato kaum mithalten können – mit Ausnahme der Luftwaffe und ein paar kleinen Formationen des Heeres wie der Spezialkräfte.

Der ehemalige NZZ-Sicherheitsexperte Bruno Lezzi sagte einmal: Die Neutralität und das Milizsystem seien seit dem Ende des Kalten Kriegs die «bequeme Möglichkeit gewesen, keine schwierigen Entscheide fällen zu müssen».

Beide Prinzipien sind mythisch überhöht und drohen selber zum Sicherheitsrisiko zu werden. Die allgemeine Wehrpflicht wurde 2013 vom Stimmvolk mit fast 75 Prozent Ja-Stimmen bestätigt und bietet gewiss weiterhin Vorteile. So dient sie etwa als Integrationsmaschine, gerade für junge Schweizer mit Migrationshintergrund. Aber die modernen Waffensysteme sind anspruchsvoll, da stösst man mit drei Wochen WK im Jahr schnell an seine Grenzen. Und unser Kooperationsverständnis mit dem Ausland ist ja eigentlich kurios: Wir halten uns als neutraler Staat fern, falls Nato-Staaten angegriffen werden. Gleichzeitig erwarten wir, dass diese uns beistehen, wenn wir angegriffen werden. Um uns als valablen Kooperationspartner zu empfehlen, sollten wir zumindest in Teilen autonom verteidigungsfähig werden.

Mauro Mantovani: Die Schweizer Armee im Zeitalter der Illusionen, 1990–2023. Schrittweiser Niedergang der Verteidigungsfähigkeit. Schwabe-Verlag, Basel 2024. Fr. 34.–.

Exit mobile version