Mittwoch, November 27

Seit dreissig Jahren widmet sich Miljenko Jergović den Abgründen seiner Heimat Bosnien. Nun hat er «Sarajevo Marlboro» nochmals geschrieben, die Erzählung, die ihn einst berühmt machte. Derselbe Stoff kommt in gleicher Komposition nun völlig anders daher.

1994 veröffentlichte ein junger Schriftsteller, der das erste Jahr der Belagerung in Sarajevo ausgeharrt hatte und dann dem alltäglichen Gemetzel nach Zagreb entronnen war, einen Band mit Erzählungen, der ihn auf einen Schlag berühmt machte. In «Sarajevo Marlboro» hat Miljenko Jergović das Kunststück zuwege gebracht, dokumentarisch und poetisch zugleich vom Leben in der eingekesselten Stadt zu erzählen: vom Versuch der Menschen, ihre innere Freiheit zu bewahren, von der exzessiven Gewalt, die ihr Leben, ja die Zivilisation selbst zerstört. Wie nebenhin gelang es dem Autor, in individuellen Schicksalen das epische Bild einer Gesellschaft zu gestalten und im markanten Detail die grosse Geschichte einzufangen.

In den dreissig Jahren seither hat Jergović etliche Erzählbände und grandiose Romane wie «Buick Riviera», «Der Walnussbaum» oder «Die unerhörte Geschichte meiner Familie» veröffentlicht. Und zuletzt, in der Übersetzung der bewährten Brigitte Döbert, den Erzählband «Das verrückte Herz» vorgelegt, der den Untertitel «Sarajevo Marlboro remastered» trägt.

Die zwei Bände von «Sarajevo Marlboro» haben die exakt gleiche Komposition: Einem Prolog mit dem Titel «Unumgängliches Detail der Biografie» folgen 27 Erzählungen, zusammengefasst unter der Kapitelüberschrift «Rekonstruktion der Ereignisse», und am Ende steht da wie dort ein kurzer Epilog mit der Überschrift «Who will be the witness» – der ein wichtiges Moment des Buches abschliessend benennt: Wer wird der Zeuge sein? Aber kein einziger Text findet sich in beiden Bänden, es handelt sich also nicht um zwei Varianten, Versionen desselben Buches, sondern um zwei aus demselben Stoff und nach derselben Architektur gebaute Bücher, die völlig unterschiedlich sind.

Augenblicke des Kippens

Der unbekannte 29-jährige Autor des Buches von 1994 hat besondere Momente festgehalten, Augenblicke des Kippens, in denen das gewohnte Leben als Lüge kenntlich wird, eine urbane Kultur unter dem beständigen Donner der Geschütze zerfällt. Das ergab eine wohlkomponierte Sammlung von Kurzgeschichten. Der in zahlreiche Sprachen übersetzte und weltweit renommierte Autor von heute hat auf das erprobte formale Gerüst zurückgegriffen, aber es ist ihm um etwas anderes gegangen: um eine Suite aus lauter kleinen Romanen, deren episches Geschehen er auf zehn, fünfzehn Seiten verdichtet hat.

Die Geschichte «Nachbar Pašić» erzählt etwa den Roman eines Hauses, in dem die Angehörigen der verschiedenen bosnischen Volksgruppen friedlich zusammenleben, bis sich die Zeichen des Unheils mehren und am Ende der Krieg nicht nur von aussen droht, sondern die Hausgemeinschaft auch von innen zerstört.

Der Kürzestroman beginnt im Februar 1984, als die Olympischen Winterspiele Sarajevo einen glänzenden Auftritt vor der Weltöffentlichkeit bieten. Der neue Nachbar Pašić scheint einen fürsorglichen Charakter zu haben, dazu wohlgeratene Kinder und eine vornehme Frau. Er ist es, der den verstörten Sohn eines muslimischen Selbstmörders im Haus tröstet, er besucht die Kranken im Spital, er beschenkt die Nachbarn zu Neujahr mit Nelken: «Nachbar Pašić half, wo es andere entweder nicht gekonnt oder nicht ausgehalten hätten. Der eine wäre in Tränen ausgebrochen, der andere durchgedreht, der Dritte geschockt gewesen und vor Angst weggerannt . . . Er half uns allen, weil es sich so gehörte und ehrenvoll war.»

Keine zehn Jahre nach den Olympischen Spielen wütet der Krieg um Sarajevo. Noch einmal zieht Pašić in der Neujahrsnacht seine Runde von Partei zu Partei, überreicht jedem eine Nelke und sagt: «Die Zeiten sind rau, lasst uns zivilisiert miteinander umgehen.» Nach und nach flüchten die einen Hausbewohner ins Ausland, andere ziehen zu Verwandten aufs Land, und im April läutet der gute Nachbar bei denen, die noch geblieben sind, reicht ihnen die Hand und wünscht alles Gute. Er trägt jetzt die Uniform eines Majors, und künftig wird er im Fernsehen als Befehlshaber eines gefürchteten serbischen Bataillons zu sehen sein, das die Beschiessung der eigenen Stadt als Akt nationaler Selbstverteidigung verherrlicht.

Jergović verfügt über die hohe Kunst des Auslassens, Aussparens und braucht nicht alles zu Ende zu erzählen oder gar zu erklären, dafür vertraut er auf die Wirkung präzise erfasster Details. Etwa wie sich die Wohnungen der Kroaten, Muslime, Serben und all der national, religiös, politisch gemischten Familien verändern, in deren Wohnzimmern stets ein Foto von Tito hing, das später von gestickten Gobelins ersetzt wurde, die idyllische Landschaften bestimmter Landesteile des einst gemeinsamen Staates Jugoslawien zeigen.

Am Ende gebietet eine neue Wahrheit über das Leben im Haus, in der Stadt, im ganzen Land. Die Menschen sind nicht mehr, was sie waren, gescheit oder dumm, hilfsbereit, zänkisch oder irgendetwas dazwischen, nein: «Menschen sind nicht, was sie sind, sondern wie sie heissen . . . Menschen sind, was in ihrem Personalausweis steht.» Und an den dort eingetragenen Namen erkennen sie nun ihre eigene Nationalität und die der anderen.

«Kein fremder Krieg»

Der Erzähler sieht im Fernsehen den guten Nachbarn in der Uniform des Schlächters. Und kommt zur bittersten Einsicht, die möglich ist: «Er war immer noch derselbe. Er hatte sich nicht verändert. Andere behaupten, die Menschen hätten sich verändert, aber ich weiss, dass es nicht so ist. Und das ist schwer zu ertragen. Es war vielleicht das Schwerste überhaupt. Wir hätten es leichter ertragen, wären das alles andere Menschen gewesen.» Der hilfsbereite Nachbar und der Kommandant, der Massaker befehligt, ist derselbe Mensch.

Nicht mehr als elf Seiten umfasst diese Geschichte, aber in ihr erfährt man mehr über Sarajevo, mehr darüber, wie eine Gemeinschaft auseinanderbricht, eine Zivilisation sich selbst zerstört, als aus umfangreichen Studien. 27 solcher Kürzestromane hat Jergović aneinandergefügt, oft erzählt darin irgendwer seine Geschichte, in einem dem Mündlichen angenäherten Tonfall, aber uns wird seine Geschichte dann von einer anderen Erzählerin, einem anderen Erzähler übermittelt. Da verändern sich die Perspektiven auf das Berichtete, und das Geschehen wird doppelbödig, mehrdeutig.

Ob es um einen kroatischen Chauffeur geht, der unverdrossen die Strassenbahn durch den Kugelhagel fährt; um das Begräbnis einer seelenguten alten Serbin, die wegen des Dauerbeschusses auf dem nächstgelegenen katholischen Friedhof bestattet wird und in deren Wohnung unverzüglich eine grimmige muslimische Familie einzieht; oder um einen frommen muslimischen Philatelisten, der seine letzten Tage damit zubringt, seine Markenalben zu ordnen, «denn der liebe Allah hasst es, wenn einer zu ihm kommt und daheim ein Chaos hinterlässt»: Stets handelt es sich um erzähltechnisch einfallsreiche Romankonzentrate, in denen gewöhnliche Menschen mit all ihren Vorzügen und Obsessionen, ihren Widersprüchen und Geheimnissen gezeigt und in die topografisch präzise geschilderte Kulisse einer Stadt gestellt werden, die sich gerade selbst zerstört. «Denn versteh mich recht, das ist kein fremder Krieg.»

Miljenko Jergović: Das verrückte Herz. Sarajevo Marlboro remastered. Aus dem Kroatischen von Brigitte Döbert. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2024, 299 S., Fr. 27.–.

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