Die Bilanz des Detailhändlers beim Zukauf von Firmen und beim Aufbau neuer Tätigkeiten ist ernüchternd. Doch der Härtetest für das Migros-Geschäftsmodell kommt erst jetzt.
Man hat sich fast schon daran gewöhnt: Am Ende eines Geschäftsjahres wird bei der Migros ein dicker Abschreiber nötig. 2019 waren es 485 Millionen Franken. 2023 eine halbe Milliarde Franken. Für 2024 fällt der Betrag mit 440 Millionen Franken erneut fast gleich hoch aus.
Vereinfacht gesagt, sind diese Summen die Fehleinschätzungen der Migros-Führung, ausgedrückt in Zahlen. Man könnte auch sagen: Sie sind das Resultat einer manchmal etwas zu kreativen Suche der Manager nach neuen Einnahmequellen.
Denn hinter den Abschreibern stehen meist Zukäufe, die sich nicht bewährt haben. Die Wertberichtigungen wurden nötig, weil sich die Aussichten für ein Geschäftsfeld verschlechtert haben. Oder weil die Migros Firmen unter ihrem Buchwert abstossen musste.
Flops mit E-Mobilität, Hörgeräten und Zahnspangen
Und was hat die Migros in den letzten Jahren nicht alles zusammengekauft oder neu aufgebaut, was sich nicht bewährt hat oder schlicht überzahlt wurde: den Deko-Händler Depot, die E-Mobilitäts-Firma M-Way, das Warenhaus Globus, die Hörgerätekette Misenso, den deutschen Lebensmittelhändler Tegut, den Fitnessanbieter Aciso oder die Zahnspangenfirma Bestsmile – die Liste liesse sich verlängern.
Und weiterer Korrekturbedarf ist schon heute absehbar. Spätestens wenn in zwei Jahren die Gnadenfrist für den kriselnden Händler Tegut abläuft, könnte bei dieser Beteiligung in Deutschland nochmals ein Bewertungsverlust im dreistelligen Millionenbereich drohen.
Nun gibt es durchaus eine wohlwollende Lesart für diese Abschreiber: als Zeichen, dass die Migros-Führung den Mut zum Schlussstrich hatte. Das gilt zum Beispiel für die Fachmärkte wie Melectronics oder SportX. Hier hat die Migros spät, aber richtig erkannt, dass die Kundschaft je länger, desto mehr online einkauft, wo der Wettbewerb mit den grossen Konkurrenten über den Preis läuft.
Gleichzeitig ist erschreckend, welche Summen über die Jahre in neue Geschäftsfelder geflossen sind und wie wenig dabei herausgekommen ist. Der finanzielle Erfolg der grossen neuen Migros-Zukunftshoffnung, des Gesundheitsbereichs, ist alles andere als gesichert. Noch sind diese Aktivitäten in der Summe nicht profitabel.
Geteilte Verantwortlichkeiten
Die Suche nach den Schuldigen ist schwieriger, als es auf den ersten Blick scheint. Niemand verkörpert das Prinzip Versuch und Irrtum, wie es bei der Migros gang und gäbe war, so wie der Manager Jörg Blunschi mit seinen glücklosen Zukäufen in Deutschland. Sein freiwillig-unfreiwilliger Rücktritt von vergangener Woche ist darum ein Signal an die übrigen Führungskräfte: Die Toleranz für Fehlentscheide hat auch bei langjährigen Migros-Kadern Grenzen.
Doch mit Fingerzeigen auf einzelne Figuren ist nichts gewonnen. Nicht nur, weil in deren Windschatten immer irgendwelche Gremien die Entscheide mitgetragen haben. Sondern auch, weil die missglückten Investitionen mit der Organisation des Detailhändlers zu tun haben. Allzu lange konnten die zehn regionalen Genossenschaften ungestört vor sich hin werkeln. Allzu wenig konnte die Zentrale am Limmatplatz dem Treiben Einhalt gebieten.
Solange diese Strukturen nicht vereinfacht werden, sind Sololäufe und Ineffizienzen programmiert. Aber diese kann sich die Migros nicht mehr leisten. Schon gar nicht, wenn sie wie angekündigt die Preise senken will. Denn dadurch fallen zunächst erst einmal Einnahmen weg.
Erfreulich ist, dass die Gruppe operativ 2024 wieder mehr Geld verdient hat. Doch entscheidend ist, wie sich die Erträge langfristig entwickeln. Erst wenn einmal die verlustbringenden Fachmärkte und sonstige Altlasten weg sind und die neue Strategie umgesetzt ist, wird sich richtig zeigen, wie gut der Detailhändler sein Kerngeschäft Supermarkt beherrscht – und ob er die Kundschaft damit überzeugen kann.