Die einst noble Metropole in Piemont hat in den letzten 50 Jahren fast ein Drittel der Einwohner verloren. Die Krise von Fiat bedroht auch das Überleben des Mikrokosmos aus Zulieferern und Designern. Doch nun versucht die Stadt einen Neustart.
Mit seinen Palästen und herrschaftlichen Plätzen strahlt Turin Wohlstand aus. Die Stadt hat eine glorreiche Vergangenheit. Einst residierte hier das Königshaus. Kurzzeitig war Turin gar Hauptstadt Italiens. Vor allem aber war die Stadt über Jahrzehnte das industrielle Herz des Landes, insbesondere der Autoindustrie.
Ihren Ursprung hatte diese 1899, als eine Gruppe von Aristokraten und namhaften Persönlichkeiten die Fabbrica Italiana Automobili Torino gründete, seither bekannt unter der Abkürzung: Fiat.
Doch die Zeiten der Blüte sind schon länger vorbei, und die wirtschaftliche Realität ist trist. In den letzten 50 Jahren hat die Stadt fast ein Drittel der Bevölkerung oder 400 000 Einwohner verloren. Heute wohnen hier noch rund 850 000 Personen.
Fiat ist im Autokonzern Stellantis aufgegangen. Von einst 70 000 Beschäftigten in und um das Werk Mirafiori sind nur noch 11 000 übrig, fast alle in Kurzarbeit. Viele Montagehallen verfallen. Wo einst bis zu 1,5 Millionen Autos pro Jahr vom Band liefen, sind per Ende September lediglich 22 240 Autos produziert worden – 68 Prozent weniger als 2023.
Das Stellantis-Werk im nahen Grugliasco wurde Ende 2023 geschlossen, die Tochter Magneti Marelli an die japanische Calsonic Kansei verkauft. Ein ähnliches Schicksal ereilte die Stellantis-Automatisierungstochter Comau. Sie ging in die Hände von One Equity Partners über. Zulieferer bauen Personal ab oder sind in Kurzarbeit.
EU-Gelder sollen es richten
Doch Turin wehrt sich und sucht wirtschaftlich Anschluss. Mit Mitteln aus dem europäischen Wiederaufbauprogramm «Next Generation» ist in einer früheren Fiat-Halle in Mirafiori eines von acht nationalen Kompetenzzentren eingerichtet worden. Dort beschäftigt man sich mit additiver Fertigung und der Digitalisierung von Produktionsprozessen. Mittelständischen Unternehmen soll so geholfen werden, innovative Projekte marktfähig zu machen.
Am nördlichen Stadtrand Turins, im futuristisch wirkenden Space Park der Firma Argotec, werden Mikrosatelliten für die Erdbeobachtung und die Telekommunikation entwickelt und gebaut. Das Gebäude des brasilianischen Stararchitekten Oscar Niemeyer vom Ende der 1970er Jahre sieht wie eine riesige Untertasse aus.
Argotec stellte zunächst Astronautennahrung her. Der Durchbruch kam mit der Nasa-Mission «Dart»: Ein Satellit von Argotec nahm elf Millionen Kilometer von der Erde entfernt Fotos auf, die bewiesen, dass es der Nasa gelungen war, den Asteroiden Dimorphos durch Beschuss von der Raumsonde aus von seinem Kurs abzubringen.
Das Unternehmen setzt heute mit 200 Beschäftigten in Italien und in den USA mehr als 60 Millionen Euro um. In den hellen Büros sitzen meist junge Mitarbeiter an grossen Bildschirmen. Argotec will Teil eines Clusters sein. Im Space Park sollen sich Startups, Hochschulen und Forschungseinrichtungen ansiedeln. «Eine Luft- und Raumfahrtindustrie wie in Piemont gibt es nirgendwo sonst in Italien», sagt Firmengründer David Arvino.
Argotec und Unternehmen wie NewCleo, das an nuklearen Minireaktoren der Zukunft arbeitet, setzen auf das Potenzial der 100 000 Studenten in der Stadt sowie auf ehemalige Fiat-Manager. Aixtron, der deutsche Maschinenbauer für die Halbleiterbranche, hat bei Turin investiert. In Novara will der Chiphersteller Silicon Box aus Singapur 3,2 Milliarden Euro investieren.
Viele Talente wandern ins Ausland ab
Doch Guido Bolatto, Generalsekretär der Handelskammer, beklagt, dass viele Hochschulabsolventen ins Ausland abwandern. Dort seien die Karrieremöglichkeiten oft besser und die Löhne attraktiver. Turin leidet ausserdem unter seiner geografischen Randlage. Der Tunnel nach Frankreich (Fréjus) ist seit August 2023 gesperrt, der Mont-Blanc-Tunnel war monatelang geschlossen. Und die Bahn-Hochgeschwindigkeitsstrecke nach Lyon wird frühestens 2033 fertig. Das industrielle Herz Italiens schlägt heute in Mailand und weiter östlich in Brescia und Bergamo, in Venetien und in der Emilia-Romagna.
Die Autoindustrie trägt noch fünf Prozent zur Wertschöpfung der Provinz Turin bei. Es gibt ein grosses Michelin-Werk, den Nutzfahrzeugproduzenten Iveco – und viele kleine Spezialisten. So wie Danisi Engineering im Vorort Nichelino.
Die Ingenieurfirma des Gründers und CEO Giacomo Danisi lebte früher von Fiat. «Ich habe mich bewusst für einen Kurswechsel entschieden und auf den konjunkturresistenten Luxussektor gesetzt, auch wenn ich zunächst viel Umsatz verloren habe», sagt er. Das Unternehmen entwickelt Komponenten, Prototypen und Kleinstserien von Luxusfahrzeugen, die bis zu zwei Millionen Euro kosten können. Auch Simulatoren für Mercedes AMG oder Bugatti werden produziert. Danisi hat einen malaysischen Aktionär mit an Bord genommen.
Daneben gibt es noch Designer- und Karosseriebauer wie zum Beispiel Italdesign. Die 1968 von Giorgetto Giugiaro und Aldo Mantovani gegründete Firma hat den ersten VW Golf, den Passat, den legendären DeLorean aus dem Film «Zurück in die Zukunft», und den Fiat Panda entworfen. Dann kam die Krise. 2010 übernahm die VW-Gruppe Italdesign. In den riesigen Hallen im Vorort Moncalieri werken heute 800 der 1200 Beschäftigten des Unternehmens.
Sie arbeiten an neuen Materialien, entwickeln Karbonkomponenten und entwerfen Fahrzeuge wie das Superluxus-Elektrocoupé Asso di Picche und vor einigen Jahren die Mini-Sonderserie Nissan GT-R50. Mit einem Umsatz von 267 Millionen Euro gehört Italdesign zu den grösseren Unternehmen. 80 Prozent der Erlöse werden mit der VW-Gruppe erwirtschaftet.
Der Konkurrent Pininfarina hat sich nach einer schweren Krise zwar dank dem indischen Grossaktionär Mahindra erholt und etwa dem Elektronikkonzern und iPhone-Produzenten Foxconn geholfen, Autos zu entwickeln. Doch das Engineering wurde geschlossen. Pininfarina ist nur noch ein Schatten früherer Zeiten.
Unternehmer sehen die Schuld bei der Politik
Der langjährige Pininfarina-Mitarbeiter Paolo Garelli hat sich mit seiner Manifattura Automobili Torino (MAT) und rund 40 Mitarbeitern in einer Nische eingerichtet. Im ländlichen Vorort Rivalto hat MAT das legendäre Rally-Modell Lancia Stratos mit einem Ferrari-Motor für einen deutschen Unternehmer neu entwickelt. Das mit einer Höchstgeschwindigkeit von 438 km/h weltweit schnellste Elektroauto, Aspark SP600, kommt ebenfalls aus dem Hause MAT.
Garelli setzt auf reiche Privatkunden, «die ein einzigartiges Fahrerlebnis suchen und bereit sind, für ein massgeschneidertes Fahrzeug bis zu fünf Millionen Euro auszugeben. Nur noch wenige in Turin bauen Autos», sagt er bitter.
So sucht Turin nach einem Neuanfang. Neben der Intesa Sanpaolo, die hier in einem Hochhaus von Renzo Piano das Versicherungsgeschäft konzentriert hat, und dem Kaffeehersteller Lavazza sind es häufig nur zarte Pflänzchen, die da spriessen. «So wie es früher war, wird es nie mehr», glaubt der Unternehmer Danisi – obwohl Stellantis gerade neue Investitionen angekündigt hat.