Der Schweizer Regisseur inszeniert in Genf die neue Oper «Justice» über einen Bergbau-Unfall in Kongo 2019. Die Musik von Hèctor Parra und das Libretto von Fiston Mwanza Mujila verhindern, dass das zeitkritische Geschehen in plakatives Agitationstheater abgleitet.
Die Bilder sind nicht zu ertragen. Ein grosser Tanklaster hat sich überschlagen und liegt im Schlamm, hochgiftige, ätzende Säure läuft aus, unter und neben dem Wrack liegen Menschen: tote Körper, Gliedmassen. Es sind Videoaufnahmen von Augenzeugen eines grauenvollen Unfalls, der sich 2019 in Kongo-Kinshasa ereignet hat. Ein Laster, für einen grossen Rohstoff- und Bergbau-Konzern mit Sitz im schweizerischen Baar unterwegs, verunglückt in einem Dorf.
Über zwanzig Menschen sterben qualvoll, andere sind schwer verätzt, die hochgiftige Substanz verseucht die umliegenden Felder. Augenzeugen halten mit ihren Handys das Grauen fest. Immer wieder lässt der Regisseur Milo Rau diese Videos einblenden: Sie bestimmen seine Inszenierung der Oper «Justice» des katalanischen Komponisten Hèctor Parra, die jetzt am Grand Théâtre in Genf zur Uraufführung kam.
Szenische Überrumpelungen
Auch auf der Bühne von Anton Lukas ist die Katastrophe omnipräsent, in Gestalt eines Lasterwracks, das das Einheitsbild prägt. Und Milo Rau lässt nichts aus, selbst eine Drohne surrt durch den Theaterhimmel. Schon befürchtet man das ganz grosse politische Agitationstheater samt effektreicher Überwältigung des Publikums. Dass es anders kommt, ist der Musik von Parra und dem Libretto des kongolesisch-österreichischen Schriftstellers Fiston Mwanza Mujila zu verdanken. Gemeinsam haben sie ein durch und durch poetisches Musiktheater geschaffen, das mit viel Empathie die Menschen selber in den Fokus rückt und das unaussprechliche Leid auf künstlerische Weise auszusprechen versucht.
Gleichwohl wurde das Projekt im Vorfeld in erster Linie über seine politische Brisanz vermarktet. Schon der Ort der Uraufführung ist bewusst gewählt. Denn Genf ist Zentrum des internationalen Rohstoffhandels und Sitz vieler einschlägiger Konzerne. Das Unglück in Kongo-Kinshasa von 2019, von dem die neue Oper erzählt, erinnert überdies an etliche historische Wunden, die die belgische Kolonialzeit in dem Land hinterlassen hat.
Auf einer Medienkonferenz vor der Uraufführung, bei der sich der moderierende Rau in den Mittelpunkt spielte, wurden die Gegenwartsbezüge des Projekts offensiv ausgeschlachtet. Tatsächlich scheint die neue Oper gut in unsere Zeit zu passen. Sie arbeitet mit Inklusion und bemüht sich spürbar um politische Korrektheit, das gehört gegenwärtig in der Bühnenkunst zum guten Ton. Auch die Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit vieler Staaten in Europa ist derzeit ein zentrales Thema – Rau selber knüpft mit «Justice» an sein «Kongo Tribunal» von 2015 an. Auch etliche weitere Regisseure treibt die Thematik seither um.
So liess im Herbst 2017 der russische Regisseur Kirill Serebrennikow an der Staatsoper Stuttgart die Märchenoper «Hänsel und Gretel» von Engelbert Humperdinck in der ehemaligen Kolonie Deutsch-Ostafrika, heute Rwanda, spielen. Aus der bösen Knusperhexe des Märchens wurde dabei eine imperiale Wirtschaftsordnung, die ganze Erdteile ausbeutet und zerstört. Und erst im September 2023 brachte das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin die Oper «Chief Hijangua» zur europäischen Erstaufführung. Diese namibisch-deutsche Kooperation, mit der Musik des jungen Namibiers Eslon Hindundu und einem Libretto des Münchners Nikolaus Frei, möchte die leidvolle deutsche Kolonialzeit aufarbeiten.
Kolonialismuskritisch und zugleich dezidiert inklusiv gibt sich nun auch «Justice». Bei der Uraufführung in Genf war der kongolesische Countertenor Serge Kakudji in der Partie eines Jungen zu erleben, der seine Beine verloren hat. Als Priester brillierte der Bassbariton Willard Wentworth, und Axelle Fanyo gestaltete eine um ihr Kind trauernde Mutter. Ob Lauren Michelle als totes Mädchen und Anwältin, die Serbin Katarina Bradić als Unglücksfahrer, Peter Tantsits als Unternehmer oder Idunnu Münch als dessen Frau: Die Rollennamen deuten an, dass es in «Justice» um persönliche Schicksale geht, die jeweils zugleich exemplarisch für viele Opferschicksale stehen sollen.
Der Unglücksfahrer flüchtet sich in den Alkohol, um den grauenvollen Bildern und der Schuld zu entkommen. Die Mutter des toten Kindes und der verkrüppelte junge Mann ringen um Worte, um zu erklären, dass man mit Geld oder zur Wiedergutmachung gestifteten Schulen keine Wunden heilen kann. Sie alle wollen Gerechtigkeit, «Justice», meinen aber vor allem: Würde und Respekt.
Seelenschau in Wort und Musik
In den fünf Akten mit jeweils fünf Szenen wird tief in die Abgründe des Menschseins geblickt. So ist die neue Oper für Parra selber eine folgerichtige Fortführung seiner 2019 in Antwerpen uraufgeführten «Wohlgesinnten» nach dem gleichnamigen Roman von Jonathan Littell, der darin die fiktiven Erinnerungen eines deutschen Nazis ersann.
In «Justice» reiht Parra nun keine folkloristischen Afrika-Klischees aneinander, sondern integriert rhythmische, melodische und vokale Assoziationen in seinen ureigenen Ausdruck, stets sehr organisch und natürlich. Selbst die subtil präsenten Lieder aus der Region, die auch in E-Gitarren-Soli von Kojack Kossakamvwe reflektiert werden, sind eingebunden in eine Musik, die das Geschehen nicht bloss illustriert, sondern die mit viel Lyrismus, komplexen Streicherklangflächen und dramatischer Kraft eine eigene Erzählebene schafft.
Titus Engel ist mit seinem differenzierten, dynamisch perfekt ausbalancierten Dirigat am Pult des Orchestre de la Suisse Romande der beste Anwalt dieser feinsinnigen Musik. Selbst in den wirkungsmächtigen Chören geht es nicht um den Effekt, eher um eine Überhöhung des Geschehens mit teilweise oratorischer Wirkung. Fiston Mwanza Mujila, der Librettist, steht in Genf auch selber auf der Bühne. Er kündigt im Sinne einer epischen Brechung nach brechtscher Manier jeweils die einzelnen Akte an. Am Ende bittet er um einen finalen «Blackout». Die Lichter erlöschen, dank der Poesie in Wort und Musik bleiben die Schicksale dieser Menschen jedoch vor dem inneren Auge lebendig.