Samstag, November 23

Der Druck der Aufsichtsbehörden auf die deutschen Unternehmen, fair, offen und transparent zu berichten, bewirkt kaum Besserung. Die Quartalskommunikation wird immer unübersichtlicher. Die Praxis der Pre-Close Calls schadet dem Kapitalmarkt.

Geschätzte Leserin, geschätzter Leser

Am Dienstag, 24. September, gegen 14.20 Uhr begannen die Siemens-Aktien wie ein Stein zu fallen. In den folgenden Minuten bis 14.32 Uhr gaben sie laut Bloomberg-Daten 4,4% auf 163.06 € nach, erholten sich dann etwas. Der Börsentag endete glimpflich leicht über Vortagesschluss.

Doch was war am frühen Nachmittag passiert? Nichts Besonderes, eigentlich. Siemens-Finanzchef Ralf Thomas präsentierte vor Analysten in einem Konferenzraum im Infinity Hotel in Unterschleissheim nördlich von München. Das Interesse war riesengross: Siemens‘ Geschäftsjahr endete nur sechs Tage danach, und die Nachfragekrise der wichtigsten Sparte Digital Industries besorgt die Investoren seit vielen Monaten.

Thomas habe «seine Einschätzung zwischen 14 und 15 Uhr auf der Berenberg/Goldman Sachs-Konferenz präsentiert», teilte eine von Siemens mandatierte DLA-Piper-Anwältin gegenüber The Market mit. «Die prompte Reaktion des Marktes» auf Thomas‘ Erläuterungen sei am Kurschart jenes 24. September abzulesen, so die Siemens-Anwältin.

Am nächsten Morgen gingen Reports anwesender Analysten an ausgewählte Adressaten. JPMorgan-Analyst Andy Wilson schrieb, das Umfeld bleibe «eindeutig schwierig». Es gebe das «klare Risiko», dass Digital Industries das zuletzt gesenkte Ziel eines Umsatzrückgangs von –4% bis –8% verfehlen könnte. Am 25. September führten Thomas und das Investor-Relations-Team sogenannte Pre-Close-Calls mit Analysten, wie DLA Piper im Auftrag von Siemens mitteilte.

Weder Thomas‘ Erläuterungen auf der Investorenkonferenz noch während der Telefonkonferenzen mit Analysten waren öffentlich zugänglich, etwa durch einen Webcast. Der Inhalt wurden nicht öffentlich geteilt, zeigte aber augenscheinlich Wirkung: Am 25. und 26. September sank die Konsensschätzung für Siemens‘ Gewinn je Aktie im vierten Geschäftsquartal 3% auf 2.55 € und gab danach weiter nach.

Hatte Siemens also womöglich sensible Informationen einer Teilöffentlichkeit präsentiert? Der Konzern dementiert dies. Er habe sich «zu jeder Zeit an die einschlägigen Offenlegungspflichten gehalten».

Zu diesen Pflichten gehört laut europäischer Marktmissbrauchsverordnung (MAR), Insiderinformationen unverzüglich zu veröffentlichen. Als Insiderinformationen gelten Informationen, die geeignet sind, den Kurs erheblich zu beeinflussen. Einer breiten Öffentlichkeit teilte Ralf Thomas erst am 27. September in der «Börsen-Zeitung» mit, dass Digital Industries und damit auch der gesamte Konzern die Wachstumsprognosen wohl verfehlen werde. Am Tag zuvor hatte er in grossem Stil Aktien verkauft. Die grossen Nachrichtenagenturen griffen das Zeitungsinterview auf.

Pre-Close Calls ein heikles Thema für IR-Abteilungen

Der Fall Siemens zeigt, wie heikel Pre-Close Calls sind. Das Thema treibt Investor-Relations-Abteilungen vieler kotierter deutscher Unternehmen seit Monaten um.

Wie schwer es zu fassen ist, beginnt mit der Definition: Der Begriff Pre-Close Calls wird verwendet für die letzten Gespräche von Unternehmensvertretern mit Investoren und Analysten, bevor die Quiet Period vor der Quartalsberichterstattung beginnt. Während dieser Periode kommunizieren Unternehmen nur eingeschränkt mit dem Kapitalmarkt, damit nicht versehentlich kursrelevante Informationen an einzelne Kapitalmarktteilnehmer gehen.

Bei einigen deutschen Emittenten geht der Trend zu Sammelcalls. Die Autohersteller, BMW, Mercedes-Benz, Porsche und Volkswagen sowie der Zulieferkonzern Continental halten ihre Pre-Close-Calls als gemeinsame Konferenzen für Investoren und Analysten ab, um Eindrücke zur Geschäftsentwicklung mitzuteilen. Eine Begründung ist, alle Investoren zeitgleich mit denselben Informationen zu versorgen, statt dass sich für Einzelgespräche alle Analysten um die frühesten Termine balgen.

Die Öffentlichkeit bleibt draussen

Dabei sind schon mal, wie zuletzt bei BMW, 120 Teilnehmer zugeschaltet. Die Öffentlichkeit bleibt draussen. Zuhören – etwa via Webcast – ist nicht erlaubt, selbst auf Nachfrage nicht.

Bei der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) steht das Thema unter verschärfter Beobachtung, seit die europäische Wertpapieraufsichtsbehörde ESMA es zu Jahresbeginn auf die Agenda gesetzt hat. Zuvor waren in den Medien immer wieder starke Kursreaktionen im Zusammenhang mit Pre-Close-Calls berichtet worden, etwa bei Puma, Porsche oder beim französischen Carrefour-Konzern vergangenen Herbst.

Die ESMA forderte deshalb die nationalen Aufseher auf, stärker auf die Einhaltung der gesetzlichen Rahmenbedingungen zu achten. Die BaFin verschickte zur Jahresmitte einen Fragebogen an alle Dax- und MDax-Unternehmen, um ein «umfassendes Bild zur Marktpraxis von Pre-Close Calls in Deutschland» zu gewinnen.

Die Aktion sei Ende August abgeschlossen worden, sagt mir ein BaFin-Sprecher. Fehlverhalten sei nicht festgestellt worden. «Es gibt keine Anhaltspunkte, dass bei den Pre-Close Calls preissensible Informationen im kleinen Kreis geteilt werden.» Weitere Erkenntnisse will die BaFin frühestens im Dezember veröffentlichen.

Die Frage, ob gesetzliche Regeln verletzt werden, ist allerdings nur das eine. Das Problem der Pre-Close Calls ist, dass sie – da sie die Öffentlichkeit ausschliessen – grundsätzlich in einem Graubereich stattfinden. Die Unternehmen betonen stets, dass sie in den Telefonkonferenzen nichts Neues und schon gar nichts Kursrelevantes mitteilen. Es würden teils sehr technische Fragen geklärt, bei den Autoherstellern etwa die Auswirkungen der am selben Tag veröffentlichten Vertriebszahlen auf die Finanzzahlen.

«Otto Normalanleger» bleibt aussen vor

Aber wenn es nichts Neues gibt, warum nehmen dann über hundert Investoren und Analysten teil? Und wer weiss schon vorher mit Sicherheit, was kursrelevant ist und was nicht? Von einer Gleichbehandlung aller Aktionäre lässt sich hier nicht sprechen, auch wenn keine Gesetze verletzt werden. «Otto Normalanleger» bleibt aussen vor und damit im Nachteil.

Das belegte der Pre-Close Call von Continental am 8. Oktober nach Börsenschluss. Am nächsten Tag waren die Conti-Aktien mit über 7% Kursplus grösste Dax-Gewinner. Dabei hatte Conti prinzipiell nur veröffentlicht, dass alles nach Plan laufe: In der Automotive-Sparte seien im dritten Quartal «kontinuierliche Fortschritte» erzielt worden. Die Profitabilität bei Automotive werde wohl über der des zweiten Quartals liegen, trotz geringerer Umsätze. Für das vierte Quartal würden bei Automotive höhere Umsatzvolumina erwartet.

Der Dax-Konzern hatte wenigstens ein dreiseitiges Papier mit Stichpunkten zeitgleich mit Beginn der Konferenz um 17.45 Uhr auf die Webseite gestellt und damit die breite Öffentlichkeit bedient.

ESMA gibt fünf Handlungsempfehlungen

Damit kam Conti zumindest teilweise den Empfehlungen nach, die die ESMA Ende Mai als «good practices» veröffentlicht hatte:

  • Emittenten sollten vor dem Pre-Close Call gründlich prüfen, dass sie keine Insiderinformationen preisgeben.
  • Dass solche Calls stattfinden, soll vorab auf der Website mit allen Details veröffentlicht werden.
  • Dokumente für die Calls sollen zu Beginn veröffentlicht werden.
  • Calls sollen aufgezeichnet und auf Anfrage den Aufsichtsbehörden zur Verfügung gestellt werden.
  • Aufzeichnungen der Informationen, die während der Calls gegeben werden, sollten auf der Website des Emittenten veröffentlicht werden.

Manche Unternehmen veröffentlichen die Termine ihrer Pre-Close Calls, darunter VW, Porsche, Mercedes, Conti und Siemens Energy. Andere wie BMW oder Siemens tun es nicht. Alle Punkte der ESMA dürfte bisher kaum jemand erfüllen. Stattdessen macht es jedes Unternehmen, wie es will. «Die Unternehmen sortieren sich gerade noch», sagt ein Kapitalmarktjurist, der dabei berät.

Zu beanstanden ist auch, wenn die Telefonkonferenzen – wie bei sämtlichen deutschen Autounternehmen im Dax – erst weit im Oktober stattfinden. Informationen zum abgeschlossenen Quartal werden da intern bereits erarbeitet, die Gefahr des Leaks von Insiderinformationen steigt. Bei Volkswagen lag der Pre-Close Call sogar erst am 14. Oktober und damit nur noch wenig vor offiziellen Quartalsberichterstattung am 30. Oktober. Bei einer so späten Quiet Period frage ich mich, wie man da sicherstellen will, dass keinerlei Insiderinformationen durchsickern.

In den USA und der Schweiz läuft es geordneter

Wie es besser geht, lässt sich in den USA und der Schweiz besichtigen.

Das beginnt damit, dass die dortigen Unternehmen ihre Quartalszahlen zwei bis vier Wochen früher fertig haben als die meisten Dax-Unternehmen. Das verkürzt die Zeit des Wartens erheblich, das Phänomen von Pre-Close Calls mit über hundert Teilnehmern ist in beiden Märkten unbekannt. Einzelgespräche enden in der Regel zum Quartalsende, die Quiet Period beginnt am ersten Tag des neuen Quartals.

Das Reporting zum dritten Quartal in den USA und der Schweiz hebt schon seit Mitte Oktober ab – während die meisten Dax-Konzerne damit bis Ende Oktober oder sogar Mitte November warten. Treten Vertreter des Topmanagements bei Investmentbanken auf Investorenkonferenzen auf, wird dies meist im Internet übertragen und ist auch im Nachhinein abrufbar. Bei Dax-Unternehmen muss man oft froh sein, wenn wenigstens eine Präsentation auf die Website gestellt wird.

Und die Aufsichtsbehörden, die SEC in den USA und die SIX in der Schweiz, sind bei den Emittenten wirklich gefürchtet. Einen vergleichbaren Ruf hat sich die BaFin bisher nicht erarbeitet.

Professionellere Kapitalmärkte sind effizienter und erhalten – siehe USA und Schweiz – höhere Bewertungen. Die Kommunikation zu professionalisieren, sollte nicht nur im Sinne der Investoren, sondern auch der Unternehmen sein.

Freundlich grüsst im Namen von Mrs Market

Angela Maier

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