Freitag, Oktober 4

Berlin ist nicht Weimar und Höcke nicht Hitler. Doch seit dem Wahlsieg der AfD in Thüringen kennt die Hysterie keine Grenzen.

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Nichts war abgedroschener als Heinrich Heines Sottise: «Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht.» Doch seit die AfD im Osten die stärkste Volkspartei ist, plagt die Deutschen wieder ein Albtraum: Der Faschismus steht vor der Tür. In Thüringen liegt Björn Höcke fast zehn Prozentpunkte vor der zweitplatzierten CDU.

Erinnern die Verhältnisse heute an die Endphase der Weimarer Republik? Ist Höcke der Enkel von Hitler, der, einmal an der Macht, diese nicht mehr preisgibt und die verfassungsmässige Ordnung aushebelt? Die ZDF-Chefredaktorin Bettina Schausten verglich den Wahlsieg Höckes mit Hitlers Überfall auf Polen. Der mit einer Zwangsabgabe finanzierte und daher zur Ausgewogenheit verpflichtete Sender begibt sich auf das Niveau von Fake News und Geschichtsfälschung.

Die historischen Fakten vermitteln ein anderes Bild. Die erste deutsche Demokratie hatte nie die Chance auf Stabilität. Sie trug den Geburtsmakel des Versailler Vertrags, der Deutschland Kriegsschuld, Gebietsabtretungen und Reparationen aufbürdete. Der Erste Weltkrieg radierte nicht nur ganze Geburtsjahrgänge aus. Die Gewalterfahrung der «Stahlgewitter» liess auch die Überlebenden traumatisiert zurück.

Wer noch kein Nationalist war, wurde einer – oder fand Halt beim anderen Extrem, den Kommunisten. Es war eine Demokratie ohne Demokraten, die einen kaiserlichen Feldmarschall zu ihrem Präsidenten wählte. Ihre Richter und Beamten waren reaktionär und taten vieles, um den Staat zu unterhöhlen, auf den sie vereidigt waren. Hyperinflation und Weltwirtschaftskrise gaben dem schwächlichen Gebilde den Rest.

Man muss schon ein Deutschland-Hasser sein, um in dieser Beschreibung die Gegenwart nur ansatzweise wiederzuerkennen. Obwohl es wirtschaftlich derzeit nicht rundläuft, ist das Land eine saturierte Wohlstandsrepublik – und ein Sozialstaat, der es sich leisten kann, die Hälfte des Bürgergelds an Ausländer zu verschenken.

Man sollte dem AfD-Rabauken die Luft rauslassen

Die zweite deutsche Republik ist eine Erfolgsgeschichte mit starken Institutionen, Gewaltenteilung und einem leidlich funktionierenden Föderalismus. Die Republik ertrüge es, wenn in Thüringen eine Partei mit einem rechtsextremistischen Flügel den Ministerpräsidenten stellte. Ministerpräsident Höcke, na und?

Eine Demokratie, die es nicht aushält, wenn auch einmal zweifelhafte Gesellen die Regierung bilden, ist keine. Die letzten acht Jahrzehnte hätten sich dann als Illusion erwiesen, als simulierte Volksherrschaft. Immerhin 80 Prozent der Deutschen wählen keine AfD. Dieser Mehrheit nicht zuzutrauen, mit der Herausforderung fertigzuwerden, hiesse, an der Fähigkeit der Deutschen zur Demokratie zu zweifeln.

Aber vielleicht ist genau dies das eigentliche Problem: die Herablassung, mit der man in Parteizentralen und Redaktionsstuben des öffentlichrechtlichen Rundfunks auf das gemeine Volk herabblickt; die selbstverständliche Annahme, dass zwei Millionen dumme Ossis tatenlos zuschauen würden, wie man ihre Rechte einschränkt.

Die Vorstellung, ein Höcke könne wie Hitler die Republik zu Fall bringen, ist so absurd, dass man an der Zurechnungsfähigkeit der kommentierenden Klasse zweifelt. Wenn die kollektive Hysterie wütet, muss man sich verweigern. Auch das ist Zivilcourage.

Nichts wäre entlarvender als eine von Sahra Wagenknecht geduldete Minderheitsregierung der AfD in Thüringen. Den Phrasen würde die Luft herausgelassen. Schnell erwiese sich Höckes Widerstandsgestus als Popanz. Oder fürchtet man, dass er ganz passabel und vor allem: populär regieren könnte? Dann wäre nicht der Populist das Problem, sondern die etablierten Parteien und ihre Unfähigkeit, den Zeitgeist in attraktive Politik zu verwandeln.

Die Gleichsetzung von Höcke und Hitler ist auch deshalb ahistorisch, weil sie den Kontext ausblendet. Der eine kam in einem «Zeitalter der Extreme» an die Macht, wie der Historiker Eric Hobsbawm das 20. Jahrhundert nannte. Die Wucht des Kapitalismus und die heraufziehende Massengesellschaft erschütterten die soziale Ordnung so stark, dass Faschismus und Kommunismus selbst kluge Köpfe verführten.

Beide Ideologien boten eine universelle Erklärung aller Missstände und die Hoffnung auf deren Veränderung. Sie besassen utopische Kraft. Lenin wie Hitler gelang ihre Revolution nicht nur wegen ihrer Ruchlosigkeit, sondern auch weil ihre Botschaften die Massen überzeugten.

Heute ist jedoch keine Weltanschauung mit revolutionärem Potenzial in Sicht. Die AfD bewirtschaftet eine nörgelnde Unzufriedenheit und zudem in Ostdeutschland das Gefühl, zu kurz gekommen zu sein. Die Partei kultiviert eine Fundamentalopposition, aber sie hat nicht die Ideen, um eine fundamental andere Ordnung zu entwerfen.

Selbst Putin hat keine Ideologie anzubieten, sondern nur ein Surrogat. Er hantiert mit den Versatzstücken des russischen Imperialismus, einer geklitterten Geschichte und der religiös aufgeladenen Beschwörung von Moskau als dem Dritten Rom. Auch er lebt von der Opposition – gegen den dekadenten und dem Untergang geweihten Westen.

Das unterscheidet sein Regime von der roten Diktatur. Diese konnte Enthusiasmus mobilisieren; selbst Überlebende des Gulag blieben treue Kommunisten. Putin herrscht vor allem durch Angst. Der Putinismus wird den Tod seines Schöpfers nicht überleben, während nach dem Ende Stalins der Sowjetkommunismus noch 40 Jahre bestand.

Das Geschichtsbewusstsein der CDU ist so selektiv, dass es sich als Parteitaktik entlarvt

Das Zeitalter der Extreme war nicht umsonst ein Zeitalter der grossen, im Fall des Kommunismus sogar weltumspannenden Ideologien. Diese sind heute nicht in Sicht oder allenfalls in Schrumpfformen. Nur der Islamismus strotzt vor Energie. Er strahlt nach Europa aus, ist aber letztlich ein regionales Phänomen. Niemals wird sich Europa dem Islam unterwerfen, wie Michel Houellebecq orakelt.

Die Populisten von heute wollen die herrschende Ordnung nicht stürzen, weil sie diese brauchen. Nur so können sie gegen das «System» und die «Systemparteien» polemisieren. Viktor Orbans Protest geht gerade so weit, dass er Brüssel zwar ärgert, aber die ungarischen Pfründen nicht gefährdet. Dem Gulasch-Illiberalismus fehlt die kriminelle Energie, die es für eine Revolution braucht. Er hat ein parasitäres Verhältnis zur EU, kein revolutionäres.

Trotz Kriegen und Krisen ist das 21. Jahrhundert in Europa kein Zeitalter der Extreme. Es fehlt das Substrat, auf dem ein Hitler gedeiht. Heute dominiert rationaler Opportunismus, wie ihn Giorgia Meloni und Marine Le Pen vertreten. Ihr Rechtspopulismus passt sich geschmeidig an. Zwei Managerinnen der Macht pflegen ihre Marktlücke.

Vor diesem Hintergrund agiert auch Höcke. Er besitzt ein gewisses Charisma und die Gabe der Provokation. Bei Bedarf spielt er den Unschuldigen oder Missverstandenen. Er sucht die Deckung, aus der er agieren kann. Gerade deshalb sollte man sie ihm wegnehmen und ihn eine Minderheitsregierung mit Unterstützung von Wagenknechts BSW bilden lassen. Schlagartig würde klar, wie sehr sich die beiden ähneln, der Rechtsnationalist und die Linksnationalistin. Im besten Fall würde sich auch Wagenknecht entzaubern. Sie aber wittert die Falle und bevorzugt deshalb eine Koalition mit der CDU.

Doch eine Allparteienregierung von Parteien, die nichts verbindet, ist keine Alternative. Sie ist ein Notbehelf und treibt der AfD noch mehr Wähler zu. Der grosse Preis wird ohnehin erst im nächsten Jahr verlost, bei der Bundestagswahl. Im Hinblick darauf sollte man die Rechtspopulisten nicht noch stärken, indem man ihren Opferstatus als Ausgestossene des Systems zementiert. Da wäre es klüger, in Thüringen ein kleines Risiko einzugehen. Die Geschichte jedenfalls liefert keine Rechtfertigung, es nicht zu wagen.

Stattdessen führt man in Thüringen ein erbärmliches Schauspiel auf. Die CDU ist so versessen auf die Macht, dass sie alles zusammenkratzen wird, um eine Regierung zu bilden. Zwar haben sich die Christlichdemokraten geschworen, nie mit den Erben der kommunistischen Diktatur gemeinsame Sache zu machen. Doch ist das einerlei, seit der Parteichef Friedrich Merz Wagenknecht zur möglichen Koalitionspartnerin in den Ländern geadelt hat. Ausgerechnet Wagenknecht.

Selbst in ihrer alten politischen Heimat, der Linkspartei, war Wagenknecht viele Jahre ein reaktionäres Relikt. Sie gab sich als überzeugte Marxistin-Leninistin und verklärte Stalins Gründung – die DDR. Ihre ostdeutschen Genossen waren damals schon längst Pragmatiker mit linkssozialdemokratischer Gesinnung.

Unterdessen hausiert Wagenknecht mit einer restriktiven Migrationspolitik und einer konservativen Gesellschaftspolitik. Wie alle Populisten ist sie vor allem Opportunistin.

Ein Unvereinbarkeitsbeschluss in Bezug auf die Linkspartei, aber ein Bündnisangebot an das BSW: Die CDU verläuft sich im Unterholz der ostdeutschen Politik. Die Ostdeutschen mit ihrer grösseren Distanz zu Eliten und Parteien haben ein feines Gespür für erodierende Glaubwürdigkeit. Vom Slalomlauf der konservativen Konkurrenz profitiert allenfalls die AfD.

Die Wahlverlierer bilden eine Koalition, während der Wahlsieger ausgesperrt wird – und das mit fragwürdiger Begründung. Warum die CDU mit der Altstalinistin Wagenknecht zusammengehen kann, aber gegenüber der AfD eine Brandmauer errichtet, ist schwer verständlich. Schliesslich haben sich Höcke wie Wagenknecht in ihrer Karriere ausgiebig bei den Versatzstücken aus dem Zeitalter der Extreme bedient.

Wenn man schon die Vergangenheit heranzieht zur Beurteilung der Tagespolitik, dann sollte es wenigstens ein vollständiges Bild sein. Das selektive Geschichtsbewusstsein ist leicht durchschaubar. Es geht um Parteitaktik, nicht um die Demokratie.

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